ICHINHAKA TURCH – „Ich will Wasser“

Reisebericht von Anuk Polnik. Im Rahmen einer langjährigen Schulpartnerschaft einer Schule aus Metzingen bei Stuttgart mit dem Volk der Chiquitano aus Acorizal bei Cáceres in Mato Grosso berichtet die Autorin von ihrer letzten Reise nach Acorizal.
| von kurt.damm@kooperation-brasilien.org
ICHINHAKA TURCH – „Ich will Wasser“
Foto: Anuk Polnik

Der klapprige Fiat holpert über die Schlaglöcher der Erdstraße, immer wieder überqueren wir schmale Holzbrücken über kleine Flüsse. Der Blick aus dem Fenster zeigt eine idyllisch, saftig grüne Landschaft: Weiße Rinder auf den Weiden und im Hintergrund Palmen auf den beeindruckenden Hügeln der „Serra Santa Barbara“. Wir befinden uns im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso (übersetzt „dichtes Gestrüpp) nur wenige Kilometer von der bolivianischen Grenze entfernt. Vier Stunden Autofahrt sind es von der nächstgrößeren Stadt Cáceres bis zu dem Dorf Acorizal, in dem 31 Familien des indigenen Stammes „Chiquitano“ leben.

 Die „Chiquitanos“ ringen mit verschiedensten Konflikten. Die Anerkennung ihrer Identität als Indigene und damit um die Frage der Landtitel. Das Land auf dem sie Leben ist die Grundlage ihrer Kultur. Das alles aber rückt in den Hintergrund, sollte der Fluss „Rio Tarumã“ der durch ihr Dorf fließt, endgültig austrocknen und damit der Gemeinde jeglicher Lebensgrundlage berauben.

 Es ist schon unser vierter Besuch in dem Dorf, seit 2016 besteht ein Schüleraustausch. zwischen unserer Schule in Metzingen bei Stuttgart

 Von den Chiquitano werden wir mit offenen Armen empfangen. Zwei Jahre sind seit dem letzten Treffen vergangen. Viele bekannte Gesichter begrüßen mich und meine Mutter, aber es fehlen auch einige: „Os jovens casaram e foram embora“ – die Jüngeren heirateten und ziehen von hie fort. Francilina sagt diesen Satz mit humorvoller Leichtigkeit, die Sorge hinter diesen Worten ist aber nicht zu verbergen: 31 Familien, also knapp 130 Bewohner zählt das Dorf Acorizal an der bolivianischen Grenze. Von ehemals 15 Mitgliedern der Jugend-Kulturgruppe sind nur noch sieben geblieben. „Die meisten suchen Arbeit auf den Fazendas (den großen Landwirtschaftsbetrieben) der Region oder ziehen in die Stadt“, erzählt die 50-jährige Großmutter von drei Enkeln.

 Wer noch hier lebt, verdient sich seinen Lebensunterhalt entweder als Lehrer, als Fahrer, oder mit der Landwirtschaft. Der gemeinschaftliche Verein, die „Associação“ des Dorfes verfügt über eine kleine Rinderzucht und zwei Becken zur Fischaufzucht. Die Produktion soll um zwei Hühnerzucht-Projekte erweitert werden.

 Der 23-jährige Eduardo ist einer der sieben verbliebenen Jugendlichen. Er zeigt uns seinen kunstvoll aus Stämmen gebauten und einem Palmdach versehenen Hühnerstall mit den 150 heranwachsenden Küken. Auf seinem Hektar Acker mitten im Wald wachsen Mais, Bananen-Bäume, Kürbis, Ananas und Sesam alles gemischt, nach den Prinzipien der „Agrofloresta“. Die Felder werden unter schattenspendenden Bäumen, also im Wald angelegt. Dies dient dem Schutz der angelegten Kulturen und einer optimalen Flächennutzung.

Alles funktioniert organisch. Durch Asche und biologische Abfälle wird der Boden fruchtbar gehalten, sogenannte „Agrotóxico“, also Agrargifte werden dem Prinzip von Nachhaltigkeit und Umweltschutz widersprechen und sind deswegen tabu.

 Von Eduardos Mutter bekommen wir traditionellen Reiskuchen serviert. Frisch aus dem Lehmofen, nachdem der Enkel den selbst angebauten Reis in einem Holzkübel zerstampft und zu Mehl gemahlen hat. „Se eu faço bolo de arroz já se distribui aqui na Aldeia“ - Die Nachfrage nach ihrem Reiskuchen im Dorf ist groß, sodass ein kleines Einkommen zustande kommt.

 Acorizal verfügt derzeit über 5000 Hektar Land. Knapp 40.000 Hektar stünden ihnen laut der indigenen Behörde FUNAI zu. Das sei ihr rechtmäßiges Territorium seit dem 18. Jahrhundert. Seit den 1960er-Jahren ist der Großteil dieses Landes von Fazendeiros, den Großgrundbesitzern mit Rinderfarmen besetzt worden. Nicht nur die Chiquitanos, insgesamt knapp 300 indigene Stämme kämpfen in Brasilien um die „Demarkation“ ihres Gebiets. Dies ist ein kompliziertes Verfahren mit dem die Grenzen indigenen Landes offiziell anerkannt und das Land in den Besitz der Indigenen übergeht. 14 Demarkationen wurden letztes Jahr in ganz Brasilien realisiert, sieben sollen es 2024 sein, darunter auch, wenn alles gut läuft, das Land der Chiquitano. 255 Prozesse insgesamt warten auf den Abschluss.

Unter dem Slogan „Demarcação já“ (Demarkation jetzt) ist ein Teil der Chiquitano Ende April vors Regierungsgebäude nach Brasilia gezogen um vereint mit tausenden anderen Indigenen in der Hauptstadt für ihre Anerkennung zu kämpfen.

 Das Wasser sprudelt über die geschwungenen natürlichen Steintreppen der Barbadas-Wasserfälle in die Tiefe. Ein idyllisches Becken am Fuß des natürlichen Wasserspiels lädt uns und die drei Chiquitano-Jugendlichen zum Baden ein. Die Ästhetik dieser Natur ist beeindruckend. Doch bleibt ein beunruhigender Beigeschmack: Der Pegel sollte eigentlich viel höher sein. Für die Regenzeit führt der Fluss viel zu wenig Wasser.

 „Mas tudo isso já não mais importa se o rio secar“sagt Alexandra, eine der „lideranças“, und damit Wortführerin des Dorfes. Frustration liegt in ihrer Stimme - All die Konflikte über das Land und den Verlust der Kultur rücken in den Hintergrund, sollte der „Rio Taruma“, der durch Acorizal fließt, vollends austrocknen.

Verantwortlich dafür, meint Alexandra seien abgesehen von Klimawandel vor allem die benachbarten Fazendas. Auf den großen Farmen flussaufwärts wird das Wasser entweder in künstliche Fischbecken, oder für die Bewässerung riesigen Monokulturen von „cana de açúcar“ (Zuckerrohr), Soja oder Rinderweiden genutzt.

Noch problematischer ist die Abholzung der „Mata“, der natürlichen Vegetation, für scheinbar endlosen Weideflächen. Je weniger Wald es gebe, desto trockener werde der Boden und desto weniger halte er zusammen. Sand wird in den Fluss geschwemmt, was den Wasserfluss verhindert.

 „Se secar, seca tudo“ sagt Alexandra mit bitterer Stimme - Wenn er austrocknet, dann trocknet alles aus. Der Rio Tarumã ist die Lebensgrundlage für die vielfältige Flora und Fauna vor Ort. Für die Chiquitano bedeutet der Fluss Nahrung durch Fischfang und dient auch der Bewässerung. Das Wasser dient zum Baden, zum Waschen und ist wichtiger Teil der spirituellen Naturmystik.

 Schon vor drei Jahren hat uns ein Hilferuf der Chiquitano in Deutschland erreicht: Der Fluss führte von einem Tag auf den andern kein Wasser mehr. In kürzester Zeit kamen Spendengeldern für eine Menschenrechtsanwältin zusammen. Umweltpolizei und die indigenen Schutzbehörde FUNAI wurden mobilisiert.  

Im Polizeiauto war es für Alexandra möglich flussaufwärts in das Gebiet des Fazendeiros zu fahren. Dort wurde von der Polizei die Ursache für den ausgetrockneten Fluss gefunden. Der Fazendeiro hatte einen Staudamm für seine Fischzucht und ein Projekt für einen Jetski-Park errichten lassen. Dank der Arbeit der Menschenrechtsanwältin und der Unterstützung durch einen Solidaritätsbrief von 50 Nicht-Regierungsorganisationen wurde zeitnah ein Gerichtsurteil erwirkt. Demzufolge ist der Staudamm illegale und damit rechtswidrig. Zwei Monate später konnte schon wieder Wasser den Rio Tarumã hinabfließen.

 Doch die grundlegende Problematik bleibt bestehen und der nächste Konflikt deutet sich bereits an: „Por causa desse garimpo eu evito no momento tomar banho no rio.“ Francilina vermeidet es im Moment zum Fluss zu gehen. Grund dafür ist die Goldmine, die vor zwei Monaten oberhalb des Dorfes entdeckt worden sein soll. „Parece que eles encontraram oro lá“ - „scheint als hätten sie dort Gold gefunden“ meint sie zynisch. Doch die Ernsthaftigkeit ihrer Worte ist nicht zu verharmlosen. Durch den Bergbau gelangen häufig große Mengen an Quecksilber und andere giftige Stoffe in den Fluss.

 „Eu já estava muito perto de desistir“ - „Ich war schon kurz davor aufzugeben“ meint die (35-jährige) Alexandra. Sie erzählt, wie sie mit 16 Jahren mit der Frauenrechtsbewegung durch alle indigenen Dörfer des Bundesstaats gezogen ist und in Brasilia für dir Rechte der Indigen demonstriert hat. Auf unzähligen Treffen, hat sie von ihrer Wirklichkeit und den Konflikten im Dorf Acorizal berichtet und damit für Öffentlichkeit gesorgt. 2020 hat sie begonnen aktiv Politik zu betreiben, hat dies aber bereits ein Jahr später desillusioniert wieder aufgegeben. „Ninguém cumpre o que promete“ - „Niemand hält sich daran, was er verspricht“. Sie wurde bedroht, weil sie sich als Indigene und Frau in der Politik engagieren wollte.

 

Alexandra berichtet auch, dass sie sich 2014, zu Beginn des Austausches mit Deutschland gegen Vorwürfe wehren müssen, sie würden sich jetzt „an die Deutschen verkaufen“.

„Mas esse intercambio tem uma grande importância pra nos“ sagt sie - Die Freundschaft sei von großer Bedeutung, sowohl für die Außen-, als auch für die Selbstwahrnehmung der Chiquitanos. Der Kontakt habe dazu beigetragen ihren Status als indigenes Volk im laufenden Gerichtsprozess zu bekräftigen. „Wir haben Bestätigung bekommen, dass in anderen Teilen der Welt Menschen hinter unserem Kampf stehen. Wir sind nicht alleine“.

Entscheidend sei aber auch, die Stärkung der Jugendlichen. Marcos und Jozair sind 2019 als 19-Jährige mit der Austauschgruppe für einen Monat nach Deutschland gereist und haben dort verschiedenen Schulen von ihrem Leben im Dorf Acorizal erzählt und indigenes Kunsthandwerk unterrichtet. Dabei seien sie immer auf große Anerkennung und Wertschätzung gestoßen. Heute sind die beiden die Leiter der Jugend-Kulturgruppe und laut Francilina die treibende Kraft um Bindung ans Dorf und die Chiquitanokultur aufrecht zu halten. Mit Fotoportraits in traditioneller Kleidung, Perlenketten und Federschmuck will Marcos das Selbstbewusstsein für die indigenen Wurzeln stärken. Vor allem die Jugend dürfe ihrer Geschichte und Kultur nicht verlieren, meint er.

 

In Westbrasilien brennt das weltgrößte Sumpfgebiet, dass Pantanal und zur selben Zeit sterben über hundert Menschen an Überschwemmungen im Süden des Landes. In Deutschland gibt es jeden Monat neue Hitzerekorde zu vermelden und in Dubai steht das Land unter Wasser.

In einer Welt wie dieser wird deutlich, wie Wasser unser Leben bestimmt.

 

Wir haben Verantwortung für den Umgang mit unserem Wasser. Es gibt Beispiele, wie die Menschheit in Harmonie mit ihrer Umwelt leben kann.  Als Hüter und Beschützer der Natur nehmen sie nur das, was von ihnen zum eigenen Überleben benötigt wird. Dies zeigt, dass die Menschheit noch immer dazu fähig ist sich als Teil der Natur zu verstehen und im Einklang mit ihrer Umwelt lebt.