Gretchenfrage Goldmine
In der Juni-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten (Jubiläumsausgabe 600! Herzlichen Glückwunsch!) erschien das Interview mit Verena Glass, die auch auf der KoBra-Frühjahrstagung dieses Jahr zugegen war, das wir hier mit freundlicher Genehmigung der Lateinamerika Nachrichten, der Interviewten und der Interviewerin, in voller Länge wiedergeben:
Die größte brasilianische Goldmine unter freiem Himmel will der kanadische Konzern Belo Sun Mining Corporation über eine brasilianische Tochterfirma bauen, nur zehn Kilometer entfernt von dem 2019 fertiggestellten umstrittenen Staudammprojekt Belo Monte im Bundesstaat Pará (siehe LN 505/506). Dies könnte den bereits ökologisch schwer geschädigten Xingu, ein Nebenfluss des Amazonas, weiter austrocknen und Tausende in der Region vollständig ihrer Existenzgrundlage berauben. Vom 20. bis 22. Mai besuchte daher eine Delegation der "Nationalen Kommission zur Eindämmung der Gewalt auf dem Land" das Gebiet, um mögliche Menschenrechtsverletzungen durch Belo Sun zu dokumentieren. LN sprachen mit Verena Glass, Journalistin und Mitglied der Bewegung Xingu Vivo para Sempre, die die Kommission begleitete.
Verena, Du bist gerade erst von der Delegationsreise der "Nationalen Kommission zur Eindämmung der Gewalt auf dem Land" zum Xingu-Fluss zurückgekehrt. Was hattest Du für einen Eindruck von der Situation in dem Gebiet der geplanten Goldmine?
Die Lage in der Region ist sehr angespannt. Das kanadische Bergbauunternehmen Belo Sun will in der Volta Grande do Xingu (Große Schleife des Xingu, Anm. d. Red.) die größte brasilianische Goldmine unter freiem Himmel bauen. Das ist ein 100 Kilometer langer Abschnitt des Flusses Xingu, in dem die brasilianische Regierung bereits das Wasserkraftwerk Belo Monte gebaut hat - mit enormen Auswirkungen auf die traditionellen und indigenen Gemeinden sowie auf die Umwelt. Und genau auf dem Land dieser Gemeinden will Belo Sun nicht nur die Goldmine installieren, sondern sich auch das Land von Kleinbauern aneignen, die in einer Agrarreformsiedlung leben. Während der Regierung Bolsonaro hat die INCRA, die für das Programm der Landreform verantwortlich ist, eine Vereinbarung mit Belo Sun geschlossen und dem Unternehmen 21 Grundstücke der Agrarreformsiedlung PA Ressaca überlassen. Aus Protest gegen diese "Schenkung", die von der Bundesstaatsanwaltschaft juristisch infrage gestellt wurde, hat eine Gruppe von landlosen Familien ein Camp innerhalb der Siedlung errichtet. Sie fordern, dass die Regierung Lula diese Vereinbarung mit Belo Sun zurücknimmt, damit sie auf den Grundstücken Nahrungsmittel anbauen können.
Weiter behauptet Belo Sun, es habe von einem Großgrundbesitzer das Land der Gemeinde Vila Ressaca "gekauft", wo rund 200 Familien leben, die einfach aus ihren Häusern vertrieben werden sollen. Das Unternehmen will in dem Gebiet außerdem das Land einer indigenen Gemeinde namens São Francisco, die von der nationalen Regierung noch nicht juristisch anerkannt worden ist, beschlagnahmen und die Bewohner*innen vertreiben.
Übt Belo Sun Gewalt gegen die Menschen der Region aus, um sie zu vertreiben?
Charakteristisch für die Gemeinde Vila Ressaca ist, dass ein Großteil der Bewohner vom traditionellen Goldschürfen lebt, bei dem das Gold aus der Oberfläche des Bodens gewonnen wird, indem man einfach die Erde mit sehr einfachen Werkzeugen wäscht und siebt. Als Belo Sun begann, sich in der Region zu engagieren, hat die Firma den traditionellen Goldschürfern verboten ihrer Arbeit nachzugehen, was zu sehr viel Armut und Unfrieden geführt hat. Also hat das Berbauunternehmen eine Sicherheitsfirma namens Invictus unter Vertrag genommen. Die Mitarbeiter von Invictus tragen Waffen, schüchtern die Bewohner von Vila Ressaca ein, dringen in die Besetzung der Landlosen ein, zerstören Barracken, halten Personen auf der Straße an und überwachen alles. Als wir im Mai mit der "Nationalen Kommission zur Eindämmung der Gewalt auf dem Land" in das Gebiet reisten, um die Aussagen der bedrohten Personen aufzunehmen und Anzeigen gegen Belo Sun wegen Menschenrechtsverletzungen aufzunehmen, hat ein Fahrzeug von Invictus sogar die Arbeit der Regierungsmitglieder überwacht. Zusätzlich haben Bewaffnete das Camp der Landlosen, die gegen Belo Sun protestieren, angegriffen, auf die Familien geschossen und versucht, Feuer in den Baracken zu legen. Die Situation in der Region ist wirklich sehr angespannt.
Ist das Projekt der Goldmine eine Folge der Politik der Regierung Bolsonaro?
Tatsächlich hat Belo Sun bereits 2013 von der Landesregierung von Pará die erste Umweltgenehmigung erhalten. Der damalige Gouverneur ist heute Mitglied in derselben Partei wie Bolsonaro. Das Ministerium des Bundes, das für den Schutz der indigenen und traditionellen Völker verantwortlich ist, hat diese Genehmigung juristisch angefochten. 2017 wurde sie Belo Sun gerichtlich entzogen, weil das Unternehmen keine einzige Studie zu den Auswirkungen der Goldmine auf die indigenen Gemeinden der Arara und Juruna in der Volta Grande do Xingu durchgeführt hat. Die Regierung Bolsonaro hat dann Teile der Siedlung PA Ressaca, deren soziale Funktion die Produktion von Nahrungsmitteln durch Kleinbauern ist, für das Schürfen von Gold hergegeben. General Mourão, der Vizepräsident von Bolsonaro, war in engem Kontakt mit den Besitzern von Belo Sun. Die Goldmine wurde letztlich als nationales Projekt von prioritärer Bedeutung betrachtet. Ende des vergangenen Jahres, bereits unter der Regierung Lula, hat die Justiz allerdings entschieden, dass die Umweltgenehmigung nicht von der Landesregierung von Pará, sondern von der Ibama ausgestellt werden muss, die eine nationale Institution ist. Das war für die bedrohten Gemeinden eine sehr positive Entscheidung.
Wer hat denn heute das größte Interesse daran, dass dieses Projekt durchgesetzt wird?
Ich glaube, der Bürgermeister der Gemeinde, in der die Goldmine gebaut werden soll, und der Gouverneur des Bundesstaates Pará sind diejenigen, die am meisten an dem Bau interessiert sind. Denn sie würden sehr viel Geld aus den Royalties der Produktion erhalten. Royalties haben eine Eigenschaft, die für Politiker*innen sehr interessant ist: Es sind finanzielle Ressourcen, die nicht für Pflichtausgaben eingesetzt werden und die auch nicht Teil des städtischen oder des Landeshaushaltes sind. Mit anderen Worten: Das ist Geld, das der Bürgermeister oder der Gouverneur ausgeben können, wie sie wollen, ohne dass sie dabei genau kontrolliert werden. Allein der Bürgermeister würde umgerechnet rund drei Millionen Euro im Jahr von Belo Sun erhalten. Für diese Region ist das sehr viel Geld.
Wie schätzen die sozialen und ökologischen Bewegungen in der Region die Umweltschäden durch die Goldmine ein?
Belo Sun möchte die Goldmine in einer Region installieren, die bereits sehr schwer durch das Wasserkraftwerk Belo Monte geschädigt ist. Bis zu 80 Prozent des Flusswassers leitet Belo Monte heute durch die Turbinen. In der Volta Grande do Xingu gibt es fast keine Fische mehr und aus Wassermangel vertrocknen die Pflanzungen der Landwirt*innen. Hier will Belo Sun jetzt zwei riesige Gruben von 200 Metern Tiefe ausheben, Berge aus Abraum von mehr als 100 Metern Höhe errichten sowie ein großes Staubecken für die flüssigen und teilweise giftigen Rückstände der Goldgewinnung. Auf 2.428 Hektar - das entspricht einer Fläche von 324 Fußballfeldern - soll dafür der Wald abgeholzt werden. Der tägliche Wasserverbrauch der Mine wäre so hoch, dass er ausreichen würde, um eine Stadt mit 45.000 Bewohner*innen zu versorgen. Die Region würde an dieser Mine zugrunde gehen.
Wie groß sind die Chancen, dieses Megaprojekt noch zu stoppen?
In der Region wird der Widerstand der Bevölkerung, mit der wir als Bewegung Xingu Vivo zusammenarbeiten, immer stärker - das ist sehr wichtig. Durch den Regierungswechsel haben wir einen besseren Dialog mit den staatlichen Institutionen erreicht und es gibt Signale, dass die Ibama keine Umweltgenehmigung für die Goldmine erteilen wird. Wir haben außerdem unsere internationalen Partner mobilisiert und Belo Sun bei verschiedenen internationalen Instanzen angeprangert. Deshalb haben wir Hoffnung, dass wir das Projekt noch verhindern können.
Präsident Lula hat während seiner Wahlkampagne immer wieder betont, dass er seit seiner letzten Amtszeit hinzugelernt habe: über Ökologie, über die Rechte der indigenen Völker. Letztlich hat er die Versöhnung der Ökonomie mit der Ökologie und dem Sozialen versprochen. Wie bewertest Du seine Regierung bisher? Hält er dieses Versprechen?
Das ist eine sehr komplexe Frage: Denn es gibt ja nicht nur die Regierung, sondern auch das nationale Parlament, in dem die extreme Rechte sehr stark ist. Der Kongress hat verschiedene Gesetze erlassen, die die Rechte der indigenen Völker verletzen, ihre Menschenrechte und ihre Rechte als Gemeinschaften. Hinzu kommen die Ministerien als Akteure, die sich teilweise gegenseitig bekämpfen. Das Ministerium für Landwirtschaftliche Entwicklung oder das Umweltministerium zeigen eine gewisse Sensibilität für unsere Anliegen. Andere Ministerien sind noch in der Hand der Rechten. Ich glaube aber nicht, dass sich die Einstellungen von Lula sehr geändert haben. Im Mittelpunkt seiner Politik steht immer die Frage der Regierbarkeit.
Was meinst Du damit genau und wie wirkt sich das auf die Entscheidungen der Regierung aus?
Das bedeutet vor allem, dass die Regierung sicherstellen muss, dass die Agrarindustrie zufrieden ist und zufrieden bleibt. Denn das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent im vergangenen Jahr entstand zum größten Teil durch das Wachstum der Agrarindustrie und des Bergbaus. Ein Beispiel ist das Gesetz des Marco Temporal, das die Rechtsansprüche der indigenen Gemeinden auf ihre Territorien begrenzen soll und das der Kongress verabschiedet hat (siehe LN 567). Lula hat gegen dieses Gesetz sein Veto als Präsident eingelegt und der Kongress hat das Veto in einer erneuten Abstimmung wieder aufgehoben. Hat Lula keine Anstrengungen gescheut, damit dies nicht passiert? Nein, das kann man wirklich nicht behaupten. Er brauchte die Zustimmung des Kongresses zur Steuerreform und hat diese gegen das Gesetz des Marco Temporal eingetauscht.
Gibt es denn auch positive Entwicklungen?
Ja, das Ibama ist deutlich gestärkt worden. Zum Beispiel werden Eindringlinge in indigene Territorien jetzt vom Ibama tatsächlich aus diesen entfernt. Aber wenn wir die Agrarreform betrachten, so gab es bisher keine großen Fortschritte. Bei der juristischen Anerkennung indigenen Landes, der Demarkierung, gab es nur minimale Fortschritte. Die soziale Agenda auf dem Land hat für diese Regierung zwar offiziell Priorität, oft aber nur auf dem Papier. So sind die Einschätzungen der Bewegungen zur Regierung Lula sehr ambivalent: Ist es eine bessere Politik als unter Bolsonaro? Ja. Ist es eine gute Politik gemessen an unseren Forderungen? Nein!
// Interview: Claudia Fix