Gegen den Fluch der Steine – Selbstorganisation, Vernetzung und Widerstand
Der von der Human Rights and Business Award Foundation künftig jährlich zu vergebende „Human Rights and Business Award“ wird am Dienstag, 27. November 2018, in Genf an die in Açailândia, im nordostbrasilianischen Bundesstaat Maranhão, ansässige Menschenrechtsorganisation Justiça nos Trilhos vergeben. Die Jury entschied sich für die Aktivist*innen aus Açailândia wegen ihres „herausragenden Einsatzes als Menschenrechtsverteidiger*innen“.
Justiça nos Trilhos arbeitet im Bundesstaat Maranhão mit unzähligen lokalen Communities zusammen, die entlang der privaten Bahnstrecke des brasilianischen Erzgiganten Vale leben, der sogenannten Estrada de Ferro Carajás, die von der weltgrößten Eisenerzlagerstätte Carajás bis zum Atlantikexporthafen São Luís reicht. Die Bewohner*innen beklagen dort seit Jahrzehnten die Mißachtung ihrer Grundrechte durch das wirtschaftlich rücksichtslose Vorgehen der Bergbaufirma Vale und der vor Ort ansässigen dreckigen Eisen- und Stahlhütten. Dagegen vernetzt Justiça nos Trilhos die Bewohner*innen, organisiert Treffen und Veranstaltungen, unterstützt die Bewohner*innen bei der Selbstorganisation, gibt mit ihren Anwält*innen hilfreiche Rechtsberatung und verklagt auch schon mal im Namen der Betroffenen die verantwortlichen Firmen und den Staat. Einer der größten Erfolge von Justiça nos Trilhos ist sicherlich die gerade erst vor wenigen Tagen erfolgte Grundsteinlegung des neuen Ortes Piquiá de Baixo, da das alte Piqua de Baixo, nur wenige Meter vom dreckigsten Ort in ganz Maranhão gelegen, wo die Eisen- und Stahlverhüttung ohne installierte Filter die Luft verpestet und damit die Lungen der Anwohner*innen gefährdet, umziehen musste, weg von den rußigen Hüttenwerken.
KoBra gratuliert Justiça nos Trilhos zu dem diesjährigen „Human Rights & Business Award“, und dokumentiert anlässlich dessen einen Ausschnitt aus dem Buch „Abstauben in Brasilien. Deutsche Konzerne im Zwielicht“ (VSA-Verlag/Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2016), wo in dem Kapitel 4 die Arbeit von Justiça nos Trilhos ausführlich beschrieben wird.
Der Fluch der Steine
In Brasilien gilt der Rohstoffabbau – trotz seiner zahlreich dokumentierten negativen Auswirkungen für Mensch und Natur – als notwendiger Devisenbringer. Hier und in ganz Lateinamerika konnte man vor allem in den letzten Jahrzehnten sehen: Je mehr am Weltmarkt mit Rohstoffen zu verdienen war, desto geringer fiel das Interesse der Regierungen aus, die Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu vermindern. In den Boomjahren 2004 bis 2012, in denen die kräftige Nachfrage vor allem aus China die Preise nach oben trieb, galt die Ausweitung des Rohstoffabbaus als Allheilmittel. Vor allem linke Regierung rechtfertigen das extraktivistische Wirtschaftsmodell damit, dass die damit verbundenen vermehrten Einnahmen den Staat in die Lage versetzen, mit umfangreichen Infrastruktur- und Sozialprogrammen Armut zu bekämpfen und eine gesellschaftliche Umverteilung zu erreichen. Doch allzu oft bedeutet dies nichts viel anderes, als im Namen eines vermeintlich höheren Ziels – soziale Inklusion – Exklusion und erhebliche Diskriminierungen an anderer Stelle in Kauf zu nehmen. Der brasilianische Sozialwissenschaftler Henri Acselrad hat in diesem Zusammenhang den Begriff área de sacrifício geprägt, ein Opfergebiet, das meist als área de poluição (Verschmutzungsgebiet) endet.
So verursacht das extraktive Modell eine Vielzahl lokaler, regionaler und transnationaler Konflikte, unter denen vor allem die ärmste Bevölkerung zu leiden hat. Den höchsten Preis zahlen diejenigen, die unmittelbar in Rohstoffgebieten oder in deren Nähe leben. Oft liegt ihr durchschnittliches Einkommen an oder unter der Armutsgrenze, ihr offizieller Bildungsgrad ist meist niedriger als im Landesdurchschnitt. Nicht selten rechnen Staat und Bergbaukonzerne in diesen Gegenden dann auch mit weniger Widerstand gegen ihre Großprojekte. Auffällig ist auch, dass viele der von umweltzerstörerischen Bergbauvorhaben betroffenen AnwohnerInnen schwarz, indigen oder quilombola sind. Der in den USA in den 1980er Jahren von Soziologen entwickelte Begriff Umweltrassismus verweist auf das erschreckende Phänomen, dass die Mehrzahl der von giftigen Mülldeponien oder von anderen ökologischen Verwerfungen betroffenen AnwohnerInnen Schwarze oder Hispanics sind. Ähnlich verhält es sich bei zahlreichen umweltschädlichen und grundlegende Menschenrechte verletzenden industriellen Großprojekten in Brasilien.
Doch inzwischen wehren sich auch dort viele indigene Gemeinschaften, Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Umweltverbände gegen die Vergabe von neuen Bergbaukonzessionen und Schürfrechten, gegen Öl- und Gasexplorationen sowie gegen die von der Regierung massiv vorangetriebenen Pläne zur Änderung des Bergbaurahmengesetzes, des sogenannten código de mineração. Mit diesem soll der Bergbau im Land noch ausgeweitet werden. Als erster Schritt ist vorgesehen, die Erfassung der in Brasilien im Boden schlummernden Ressourcen mittels geologischer Studien deutlich zu verbessern. Darüber hinaus will der Staat in Zukunft gezielt Lizenzen versteigern, um damit, so zumindest die Theorie, höhere Royalties zu generieren, weil damit der Meistbietende zum Zuge kommen würde und nicht mehr derjenige, der als Erster um die Lizenz ersucht. Zudem soll dieser neu einzuführende Bergbaukodex den Unternehmen mehr Rechtssicherheit und Freiheiten gewähren. Dieses unternehmerfreundliche Programm soll weitere Investitionen von internationalen Bergbaukonzernen anziehen.
Der nationale Entwicklungsplan, den die brasilianische Bundesregierung von den Ministerien perspektivisch für das Jahr 2030 hat erstellen lassen, sieht bei der Eisenerzförderung eine Verdreifachung vor. Das absolute Gros der mineralischen Rohstoffexporte entfällt mit 80 Prozent auf Eisenerz. Bereits jetzt werden 90 Prozent der brasilianischen Erzförderung, 275,4 Millionen Tonnen Eisenerz und 51,1 Millionen Tonnen Erzpellets, ins Ausland exportiert.
Es gibt in Brasilien zwei große Eisenerzlagerstätten. Das Quadrilátero Ferríferro (eisernes Viereck) liegt im Bundesstaat Minas Gerais zwischen den Städten Belo Horizonte, Congonhas, Ouro Preto und Santa Barbara. In dem rund 7.000 Quadratkilometer großen Gebiet lagern in der Erde Erzvorräte von rund zehn Milliarden Tonnen. Die zweite große Eisenerzregion Brasiliens befindet sich im Südosten des amazonischen Bundesstaats Pará. Dort in der Carajás-Mine sollen sich sogar rund 18 Milliarden Tonnen Eisenerz im Boden befinden. Von den Minen in Carajás oder in Minas Gerais wird das Erz per Bahn zu den Häfen transportiert. In Minas Gerais gibt es zudem die weltweit längste Erzpipeline, durch die das Erz unter enormen Wasserzusatz und Druck nach Ponta Ubu im Bundesstaat Espírito Santo gepumpt wird, wo es zu Pellets verarbeitet und mit Schüttguttankern der Panamax-Klasse in alle Welt geliefert wird.
Der brasilianische Staat investiert derzeit in den weiteren Ausbau von Infrastruktur und Logistik, um einen reibungslosen und schnellen Abtransport der Bodenschätze via Straße, Schiene oder Fluss zu gewährleisten. „All dies – also mehr öffentliche Kontrolle des Staates über den Bergbausektor, mehr Staatsanteil an den Einnahmen aus dem Bergbau sowie der Ausbau des Sektors in absoluten Zahlen im Namen einer sogenannten Entwicklung – soll dann dem Lande und der Bevölkerung Fortschritt und Wohlstand bringen. Vor allem die eher progressiven Regierungen in Brasilien und Lateinamerika argumentieren so“, sagt Julianna Malerba von der brasilianischen Nichtregierungsorganisation FASE und Mitglied des brasilianischen Netzwerks für Umweltgerechtigkeit Rede Brasileira de Justiça Ambiental. Wer oft auf der Strecke bleibt, sind die lokal betroffenen AnwohnerInnen solcher Bergbaugroßprojekte.
Carajás: Das Loch im Urwald
Im Südosten des amazonischen Bundesstaates Pará befindet sich der Gebirgszug der Serra do Carajás. Es war der 31. Juli 1967, als ein Helikopter der Firma US Steel über das Gebiet flog und zu einer Notlandung gezwungen wurde. Es gab in Sichtweite eine Brachfläche, wo der Hubschrauber landen konnte. An Bord war auch der Geologe Breno Augusto dos Santos, der sich zunächst über die Brachfläche wunderte, dann neugierig wurde und sich das Gelände genauer anschaute. Das offene Brachland mit wenig Pflanzenwuchs, so wurde dem Geologen schnell klar, hatte eine natürliche Ursache. Er schaute sich das Gestein an und machte eine folgenreiche Entdeckung. Es war der hohe Eisengehalt von 66 Prozent im Boden, der den Pflanzenwuchs hemmte. Breno dos Santos hatte zufällig das weltgrößte Eisenerzlager entdeckt. Neben Eisenerzen finden sich in der Region auch Kupfer, Nickel, Bauxit, Mangan und Gold. Ende der 1970er Jahre begann die damals noch staatliche Bergbaufirma Companhia Vale do Rio Doce (1997 wurde sie privatisiert und 2007 in Vale S.A. umbenannt) mit den ersten Bauarbeiten, sie hatte der Firma US Steel die Lizenzen abgekauft. 1981 wurden die ersten Sprengungen vorgenommen, 1982 unterzeichneten die brasilianische Militärregierung, die Companhia Vale do Rio Doce unter Führung der Weltbank mit anderen multilateralen und nationalen Entwicklungsbanken sowie Privatbanken und Firmenkonsortien einen Milliardenkredit für den Ausbau der sogenannten Carajás-Mine. 1985 wurde diese in Betrieb genommen. Bereits im ersten Jahr wurden dort 13,5 Millionen Tonnen Eisenerz gefördert.
Die Carajás-Mine war Teil des von der Militärregierung in den 1960er Jahren entworfenen und in den 1970er und 1980er Jahren forcierten großen Entwicklungsplanes für Amazonien. Das brasilianische Amazonasgebiet, das als vermeintliches Land ohne Bewohner galt, sollte durch Straßen, Bahnen, Farmansiedlungen, Wasserkraftwerke, Bergbau und Industrie erschlossen werden. Ab 1964 wurde die Überlandstraße Transamazônica gebaut, für etliche der Teilstrecken wurden dort lebende indigene Völker gezielt vernichtet, um das Projekt voranzutreiben. 1974 wurde die Bundesstraße von Belém nach Brasília asphaltiert, die Bundesstraßen von Manaus nach Porto Velho und die von Cuiabá nach Porto Velho folgten ab 1984. 1984 und 1987 wurden die Großstaudämme Tucuruí und Balbina errichtet, um die für den Bergbau benötigte Energie zu liefern. Der Bauxitabbau und die Aluminiumschmelze der Firmen Albras, Alunorte und Mineração Rio do Norte waren die Hauptstromabnehmer. Die Carajás-Mine bei Parauapebas sollte das Sahnehäubchen des Projekts Grande Carajás sein, das durch den Bau von Bahnstrecken und Eisenverhüttungsanlagen für die Region Ostamazoniens einen Entwicklungsschub auslösen sollte. Allein die Projekte Grande Carajás, der Staudamm Tucuruí sowie der Bauxitbergbau und die Aluminiumverhüttungen haben zusammen 230 Milliarden US-Dollar an Investitionen gekostet – in der Höhe vergleichbar mit dem Wert des damaligen brasilianischen Bruttoinlandsproduktes eines ganzen Jahres. Im Jahr 2015 förderte Vale bereits 129,6 Millionen Tonnen Eisenerz aus der Carajás-Mine. Gegenwärtig arbeitet der Konzern an dem weiteren Ausbau der Mine, bis 2017 ist eine Erhöhung der jährlichen Produktion auf 250 Millionen Tonnen Eisenerz vorgesehen. Doch der derzeit vergleichsweise niedrige Weltmarktpreis für Eisen sowie die Proteste von Tausenden AnwohnerInnen, Kleinbäuerinnen und -bauern, Indigenen und Quilombolas, die nicht nur in der Nähe der Mine, sondern auch entlang des sogenannten Korridors der Eisenbahntrasse zum Atlantikhafen Ponta da Madeira in São Luís die negativen Auswirkungen des Ausbaus zu spüren bekommen, haben Vales Zeitplan durcheinandergebracht.
Die Carajás-Bahnstrecke durchschneidet von Parauapebas kommend Maranhão. Nach dem sogenannten Gini-Index, der die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung misst, nimmt dieser Bundesstaat neben Piauí, Sergipe und Bahia einen der untersten Ränge im Land ein. Auf der 892 Kilometer langen Strecke passieren täglich 35 Züge ungefähr 100 unterschiedliche Siedlungen, Dörfer und Städte. Der Zug passiert 27 Munizipien, in denen zwei Millionen Menschen leben. Oft steht der Zug. Dann müssen die AnwohnerInnen warten. Um um den Zug herumzulaufen, dafür ist er zu lang. Er zählt 330 Waggons, das sind rund drei Kilometer. Damit ist er einer der längsten Züge der Welt. Steht der Zug, versuchen Kinder auf dem Weg zur Schule, Bauern und Bäuerinnen auf dem Weg zum Feld und andere auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause manchmal, zwischen oder unter den Waggons durchzusteigen.
Damit riskieren sie ihr Leben. Kaum ein Monat, in dem nicht jemand von einem der Erztransportzüge überfahren wird und stirbt. Und da Vale die Produktion in der Carajás-Mine verdoppeln will, wird derzeit die Eisenbahnstrecke zweigleisig ausgebaut.
Nach Fertigstellung müssten die Züge weniger oft vor den Weichen zu den Haltegleisen aufeinander warten, sondern könnten ohne Halt durchfahren. Wäre das ein Gewinn für die dort lebenden Menschen, wenn sie nicht mehr so häufig von den Zügen aufgehalten würden?
„Nein“, sagt Padre Dario Bossi, ein Comboni-Priester aus Italien, der seit Jahren mit den Menschen in den von den Folgen des Erzabbaus in Amazonien betroffenen Gemeinden zusammenarbeitet. Die Comboni-Priester haben vor ein paar Jahren dafür die Menschenrechtsorganisation Justiça nos Trilhos, frei übersetzt „Gerechtigkeit auf den Gleisen“, gegründet. Diese hat die Konflikte, die der Erzabbau und dessen Transport in der Region verursachten, untersucht und die Proteste der lokalen Bevölkerung in den Jahren 2012 bis 2014 gezählt und dokumentiert. 24 Mal haben die lokalen AnwohnerInnen protestiert und dabei 23 Mal auf die Blockade zurückgegriffen. Sie blockierten entweder die Zufahrten zur Mine oder die Eisenbahnstrecke oder die Bundesstraße. Manchmal auch alles auf einmal. Die Blockade ist eine der bei sozialen Bewegungen in Brasilien beliebtesten, weil effektivsten Demonstrationsmethoden. Es dauert meist nicht lange, bis die Firmenverantwortlichen oder die PolitikerInnen reagieren. Manchmal können so Forderungen durchgesetzt werden. Manchmal aber reagieren Politik und Polizei mit brutaler Gewalt. So am 17. April 1996, als 1.500 Landlose gegen die politische Verschleppung einer angekündigten Landreform protestierten und die Bundesstraße BR-155 bei Marabá blockierten. Der damalige Gouverneur Almir Gabriel gab seinem für Sicherheit zuständigen Staatssekretär die Anweisung, die Straße räumen zu lassen. Dieser wiederum erteilte der Militärpolizei den Befehl, „unter Anwendung notwendiger Mittel, inklusive Schusswaffengebrauch“, die Straße zu räumen. Die Militärpolizei eröffnete das Feuer und tötete 19 DemonstrantInnen. 81 Personen wurden verletzt. Seit diesem Massaker wird jährlich weltweit der 17. April als „Tag der Landlosen“ in Erinnerung an die Opfer begangen.
Die amazonischen Bundesstaaten, allen voran Pará, tauchen jedes Jahr aufs Neue unter den Bundesstaaten mit den meisten Landkonflikten auf. Das hat auch historische Ursachen. „Die Landkonflikte in der Amazonasregion können nicht verstanden werden, ohne die dortige politische Struktur zu kennen. Sie ist geprägt durch die Privatisierung des Gewaltmonopols durch reiche Großgrundbesitzer und Unternehmer. Die Wurzeln dieser Strukturen reichen bis in die frühe Kolonialzeit und ins mittelalterliche Portugal zurück“, sagt der Historiker Thilo Papacek. Als Portugal Brasilien im 16. Jahrhundert annektierte, standen die aus Portugal entsandten Beamten schnell vor dem Problem, wie sie dieses Land mit seinen kontinentalen Ausmaßen kontrollieren sollten. Die Lösung meinten die Beamten in dem bereits in Portugal seit 1375 praktizierten System der sesmaria gefunden zu haben. Dieses sah die Landverteilung an Adlige, dekorierte Soldaten und Bürger vor, die sich der Sklavenarbeit bedienten, das Land bestellen ließen und de facto die lokale Machtbasis darstellten. So wurde die de jure existierende Gewaltenteilung moderner Staaten in den entlegeneren Regionen – wie Amazonien beispielsweise – nie wirklich umgesetzt. Vielmehr finden sich dort bis heute stärker als andernorts in Brasilien klientelistische Machtnetzwerke von Großgrundbesitz, Politik und Justiz. Der Einfall des Weltmarkts in Amazonien ab dem 19. Jahrhundert – erst durch die Gewinnung von Kautschuk für Gummi, dann durch den Raubbau an Tropenhölzern, später via Rinderzucht, Bergbau, Stromproduktion und Sojaanbau – bedeutete eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Amazonien: Moderne wirtschaftliche Entwicklung, in Brasilien seit der Militärdiktatur staatlich gefördert, existiert neben politischen Strukturen, die aus dem Mittelalter stammen. Die Klientelsysteme der Mächtigen haben bislang erfolgreich verhindert, dass sich ein Rechtsstaat hätte etablieren können.“ So können die Betroffenen bei einer Unzahl an Landkonflikten zwar an die Gerichte appellieren. Ob sie de facto ihre Rechte auch gegen mächtige konkurrierende Interessen durchzusetzen vermögen, steht auf einem anderen Blatt.
So auch im aktuellen Fall des anstehenden Ausbaus der Carajás-Mine und der damit einhergehenden zweiten Bahnschiene zum leichteren Abtransport des für die weltweite Automobilindustrie so wichtigen Rohstoff Erz. „Vale macht dort eine neue Mine auf, die sogenannte Carajás-Mine S11D, die noch ertragreicher als die alte Carajás-Mine sein soll“, erläutert Priester Bossi. „Dann bauen sie einen weiteren Schienenstrang. Das Ganze ist ein Riesenprojekt, das umgerechnet an die zehn Milliarden Euro kosten wird. Aber den hier lokal betroffenen Menschen gegenüber wird das alles heruntergespielt. Es gehe nur um einige wenige Anpassungsmaßnahmen, so als habe das alles auf die Menschen hier keine Auswirkungen.“
Vale spricht von 1.168 Eingriffen, zu denen die Firma gezwungen sei, um den Bau der erweiterten Trasse zu ermöglichen. Eingriffe heißt hier Abriss von Wohnhäusern und die Umsiedlung ganzer Dorfgemeinschaften. „Dieses Projekt der Verdoppelung ist das Herzstück der gegenwärtigen Vale-Projekte“, so Danilo Chammas, Rechtsanwalt von Justiça nos Trilhos, der aus São Paulo stammt und in Açaílandia lebt. „Denn es ist zugleich eines der kostengünstigsten und der wohl profitabelsten Projekte von Vale“, so Chammas. Mehrmals wurde der Ausbau infolge gerichtlicher Eingaben von Betroffenen juristisch gestoppt, weil die verfassungsrechtlich abgesicherten Grundrechte der betroffenen AnwohnerInnen, darunter indigene Gruppen, nicht respektiert wurden. Doch es fand sich bisher stets eine andere Gerichtsinstanz, die den Baustopp wieder aufhob. Das Projekt zur Verdoppelung des Schienenstrangs setzt den Bau von 47 Viadukten und fünf großen Brücken voraus. „Von wegen keine Auswirkungen!“, schimpft Priester Bossi. „Sie haben die kleinen Gemeinden nie richtig gefragt und nun dringen sie mit ihren Bulldozern da einfach ein.“ Staub, Lärm, Verschmutzung sind die Folge. Als ob es davon in der Gegend nicht schon genug gäbe.
Staub auf Piquiá de Baixo
Piquiá de Baixo ist ein dörflich wirkender Stadtteil von Açailândia, einer Stadt im Bundesstaat Maranhão mit ungefähr 100.000 EinwohnerInnen. Bis auf die Bundesstraße BR-222 bestehen die Straßen aus Lehm, wie man es in einem Bundesstaat erwarten kann, der zu den ärmsten Brasiliens zählt. Allerdings fehlt Piquiá de Baixo der Charme eines Dorfes. Denn dieser Teil der Stadt Açailândia, die in den letzten 15 Jahren einen Wirtschaftsboom mit Wachstumsraten bis zu 23 Prozent vorweisen konnte, ist der Ort derer, die von diesem Aufschwung nicht profitieren konnten. Hier zahlen die Menschen für die Idee einer nachholenden und brachialen Industrialisierung, wie sie in vielen Schwellenländern betrieben wird, mit ihrer Gesundheit. 1.100 Menschen leben hier.
Die asphaltierte Bundesstraße 222 teilen sich Schulkinder mit Lastwagen, die glühende Eisenlava vom Hochofen hinüber zum Stahlwerk transportieren. Auf der einen Seite wird der Ort von Bahngleisen begrenzt, auf den anderen von drei Eisenwerken, einem gasbetriebenen Kraftwerk, einer Zementfabrik sowie einem neu gebauten Stahlwerk. Befeuert werden die Kokereien und Hochöfen mit Holzkohle, die in der Region aus den endlos bis zum Horizont sich erstreckenden Eukalyptus-Plantagen stammen. Die Holzköhlerei ist einer der am meisten von Sklavenarbeit betroffenen Wirtschaftssektoren in Brasilien, deren Endprodukte auf dem Weltmarkt reißenden Absatz finden. Das auch von DGB-Organisationen unterstützte gewerkschaftsnahe Institut Observatório Social hat bereits 2011 eine Studie über die Gewinnung von Holzkohle in Amazonien und deren weitere Verwendung im Stahlproduktionsprozess vorgelegt. Demnach werden jedes Jahr allein im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará geschätzte fünf Millionen Kubikmeter tropischen Regenwaldholzes für die Erzeugung von Holzkohle gerodet. Den AutorInnen der Studie zufolge ist ein Großteil von diesen Rodungen illegal, es werde im großen Stil mit gefälschten Papieren operiert und bei der Holzkohleproduktion auf Sklavenarbeit zurückgegriffen. Das Institut zählt eine Reihe von internationalen Abnehmern des mittels dieser Kohle gewonnenen Gusseisens auf: Neben brasilianischen und anderen multinationalen Größen findet sich auch Thyssenkrupp in dem Bericht. Auch in Maranhão, in der Umgebung von Açaílandia, gibt es jedes Jahr Dutzende Fälle von Sklaverei, berichtet Fabricia Carvalho Da Silva, Mitarbeiterin des Zentrums zur Verteidigung des Lebens und der Menschenrechte (Cdvdh). „Diese Fälle kommen nahezu alle bei der Holzköhlerei vor“, so Carvalho Da Silva.
Die Emissionen aus den Hochöfen der Hüttenwerke von Piquiá de Baixo regnen ohne jeden Filter auf den Stadtteil und dessen BewohnerInnen nieder und machen die Menschen krank. Was bedeutet es in Brasilien, wenn man an einem Ort lebt, wo die Menschen von einem durchschnittlichen Einkommen von umgerechnet knapp fünf US-Dollar ihren täglichen Lebensunterhalt bestreiten, an einem Ort, wo die Ladung eines der durch die Gemeinde transportierten Zuges, je nach aktuellem Weltmarktpreis für das Erz, zwischen zehn und dreißig Millionen US-Dollar wert ist, wenn die Betroffenen vom Stahlwerkstaub und der Verschmutzung krank werden? Wer Glück hat, braucht medizinische Hilfe an einem Mittwochnachmittag. Denn dann, so erklärt Jordânia Silva, die bei Justiça nos Trilhos die Betreuung der vom Staub betroffenen AnwohnerInnen koordiniert, ist die ÄrztIn in Piquiá de Baixo im örtlichen SUS-Gesundheitsposten. SUS steht für Sistema Unico de Saúde, also für das kostenlose, staatliche Gesundheitssystem in Brasilien. Ab 13.00 Uhr ist die Ärztin da. Aber eigentlich ist es besser, bereits am Montag krank zu werden. Denn dann kann man noch einen der insgesamt 25 Behandlungszettel ergattern, die pro Woche für Piquiá de Baixo zur Verfügung stehen. Wer keinen Zettel abbekommt, versucht es nächste Woche noch einmal – oder fährt in das 15 Kilometer entfernte Stadtkrankenhaus von Açailândia. Allerdings können nicht alle fahren. Denn für ein Busticket hin und zurück müssen einige der BewohnerInnen ein Viertel bis zur Hälfte ihres täglich verfügbaren Einkommens aufbringen.
Bereits in den 1980er Jahren kam die Landesregierung auf die Idee, lokale Wertschöpfung in der Region zu betreiben, Arbeitsplätze zu schaffen, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben und hier, auf der Hälfte des Weges von Carajás nach São Luís, Eisenhüttenwerke anzusiedeln. Staatlich gefördert im Rahmen des Projekte Grande Carajás. Das Ergebnis zeigt sich in Piquiá de Baixo in aller Deutlichkeit. Die dortige Brücke erhebt sich 40 Meter in die Höhe, die alten Betonpfeiler aus den 1980er Jahren sind angegraut, die neu errichteten, die das neue zweite Gleis stützen sollen, sind noch hell. Die Bulldozer und Kipper liefern den frisch gemischten Zement. Ein Mann nähert sich schüchtern und bittet Padre Dario um ein Gespräch. Ob der Padre von Vale geschickt worden sei? Und ob er selbst auf dem Acker unterhalb der Betonpfeiler weiterhin seinen Mais anbauen könne? Er hat Angst, dass die Firma Vale kommt und die kleinen landwirtschaftlich genutzten Flächen plattwalzt. Der Mann hat sein kleines Maisfeld auf offensichtlichem Brachland angelegt, das im Zuge der Verlegung der Gleisbetten vor 30 Jahren entstanden war. Das Land gehört wohl Vale, aber da das Land offensichtlich nicht genutzt wurde, sah er nicht ein, warum er dort nicht etwas anbauen sollte. Als er erfährt, dass Dario Bossi nicht von Vale kommt, sondern Priester ist, ist er sichtlich erleichtert.
Viele andere Menschen sind beunruhigt. Aber Padre Dario und seine MitstreiterInnen bei Justiça nos Trilhos, die AnwältInnen Ana Paula dos Santos und Danilo Chammas, wissen, was zu tun ist. Die betroffenen Menschen müssen Widerstand leisten. „Mit irgendwelchen salbungsvollen Versprechungen ist gar nichts zu erreichen. Man muss die Firmen einerseits vor Gericht verklagen, um die gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen durchzusetzen, und die Menschen müssen gehört werden. Aber man muss auch auf der Straße protestieren.“ Nahezu jede Familie hat Todesfälle zu beklagen, meist wegen Lungenleiden, Herzkreislaufproblemen oder Krebs. Könnten in den Hüttenwerken nicht Filter eingebaut werden? Das wäre zu teuer, würde die Produktion unrentabel machen und wichtige Arbeitsplätze kosten. Sagen die Regierung, die Behörden, die Firmen. Und so leiden die BewohnerInnen bis heute unter dem Staub.
„Wir hatten ja keine Ahnung, wie wir uns zur Wehr setzen sollten.“ Dona Tida schaut in die Runde, die sich in dem kleinen Klubhaus der Mütter versammelt hat. Auf weißen Plastikstühlen sitzen zwölf Frauen jeglichen Alters in einem der vier Gemeindehäuser von Piquiá de Baixo. „Wir Älteren haben alle keine Universität und nur wenige Jahre die Schule besucht.“ Irgendwer schlug vor, zunächst eine Anwohnervereinigung zu gründen, berichtet Dona Tida. Aber wie? Es gab viele Fragen: Wie organisiert man einen Protest? Und wie damit umgehen, dass Familienmitglieder in den Eisenhütten arbeiten? „Da haben wir die Priester aus der Gegend eingeladen und uns beraten lassen“, berichtet sie. „Woher sollten wir wissen, wie man das alles macht, wie man einen offenen Protestbrief nach Brasília schickt, wie man Unterschriften aus aller Welt organisiert? Die Padres haben mit uns geredet, uns zugehört, und gemeinsam sind wir das dann angegangen“, so Dona Tida, die am 1. Mai Geburtstag hat. Auch in Brasilien ist das der Tag der Arbeit und des Widerstands. Sie wird nun 70 Jahre alt. Diesen Geburtstag, sagt sie, wird sie besonders feiern. Denn der jahrelange Widerstand des kleinen Dorfes gegen die Eisenhüttenwerke, gegen den alltäglichen Staub, hat einen großen Erfolg erzielt.
Es war Ende 2015, als ganz Piquiá de Baixo in einen Freudentaumel verfiel. Denn die Bundesregierung hatte dem Antrag für die Umsiedlung der BewohnerInnen von Piquiá de Baixo stattgegeben und zugesichert, im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms Minha Casa, Minha Vida („Mein Haus, mein Leben“) ein neues Gelände, acht Kilometer von Piquiá entfernt, zur Verfügung zu stellen und dort für alle betroffenen Familien Neubauten zu errichten. „Nur weg von diesem Staub!“, sagt Joselma Alves de Oliveira. Die Mittdreißigerin wohnt seit ihrer Geburt in Piquiá. Und sie nickt, wenn Dona Tida, die am längsten Teil der lokalen Widerstandsbewegung ist, von den Anfängen erzählt. „Entweder kämpfen wir zusammen oder wir sterben hier alle“, sei die Parole gewesen. Sie zeigt auf den verwaisten weißen Plastikstuhl neben ihr. „Heute Morgen, bevor ihr gekommen seid, haben wir hier gefegt und geputzt.“ Sie fährt mit den Fingern über die Sitzfläche und Lehnen. „Schon wieder alles rußig, schwarz. Siehst Du das?“ Es ist nicht zu übersehen. Alle zwölf Frauen zeigen auf die besonders verrußten Stellen. „Hier, das Fensterbrett, da auf dem Holztisch, alles voll mit dem Zeug. „Und“, so fügt Dona Tida hinzu, „all das hier, dieses rußige schwarze Zeug, das geht direkt in unsere Lungen. Kein Wunder, dass hier alle krank sind.“
Weg aus dem alten Piquiá de Baixo, hinein ins neue Piquiá. Es hatte lange Auseinandersetzungen um den Umsiedlungsplan gegeben. Denn viele BewohnerInnen waren wütend, sie verlangten vom Eisenhüttenwerk, das ihre Häuser mit Staub bedeckt, Entschädigung und die Umstellung auf eine saubere Produktion. Ihr Argument: Wir waren zuerst da. Warum sollten sie dem fremden Unternehmen ihre Heimat überlassen? Es gab viele Diskussionen in der Anwohnervereinigung. „Bevor die Hüttenwerke hierherkamen, war hier Wald. Wir haben Viehzucht betrieben. Unten am Fluss haben wir gebadet und gefischt“, sagt Seu Adelson, der seit vier Jahrzehnten in Piquiá wohnt. „Heute ist alles verschmutzt. Da regnet es auf uns Staub aus Eisen, Kohle, Zement – und […] alles gleichzeitig. Wer kann das 24 Stunden am Tag ertragen?“ Er macht eine lange Pause. „So ist es dann vielleicht besser, dass wir hier weggehen. Denn sauber wird das hier nie wieder.“
Der Kampf der BewohnerInnen um ihre Rechte wird seit vielen Jahren von Justiça nos Trilhos unterstützt. Das war nötig, um dem lokalen Protest landesweit Gehör zu verschaffen. „Am Anfang haben wir erst einmal geredet“, sagt Dona Tida. „Dann aber haben wir vor der Schlackehalde protestiert, auf der sich ein Kind beim Spielen kurz zuvor tödlich verletzt hatte.“ Die Firma bestritt damals jede Verantwortung für den Unfall mit dem Hinweis auf die von ihr aufgestellten Warnschilder. Doch der Tod des Kindes hat die Menschen so empört, dass sie mit ihrem Widerstand nicht nachließen. „Wir sind mit Topfdeckeln vor das Fabrikgelände gezogen“, erzählt Dona Tida und muss dabei lachen. „Der Lärm unserer Topfdeckel hatte gegen das Getöse des Hüttenwerks keine Chance. Dennoch haben wir für Ärger gesorgt und die Zufahrt blockiert.“ Daraufhin waren die FirmenvertreterInnen zu ersten Gesprächen bereit.
„Um das zu erreichen, mussten wir viel protestieren, die Staatsanwaltschaft einschalten, weltweite Unterschriftenlisten organisieren, denn geschenkt, so ganz ohne organisierten Widerstand, kriegst du hier nichts. Da stehst du auf verlorenem Posten“, beklagt Joselma Alves de Oliveira. Der Bergbauriese Vale als Lieferant des Erzes wollte sich aus allem raushalten. „Vale sagte, damit haben wir doch nichts zu tun. Wir liefern doch nur das Produkt, das Eisenerz, was die Eisenhütten damit machen und wie sie es machen, damit haben wir doch nichts zu tun.“ Doch diese Argumente kamen bei den BewohnerInnen von Piquiá de Baixo nicht gut an. „Da haben wir gesagt, wer die Drogen herstellt, kann ja auch nicht sagen, wir haben damit nichts zu tun, was andere damit machen. Mit dem öffentlichen Druck haben wir es dann hinbekommen, dass sie auch einen Teil beisteuern.“ Dennoch brauchte es viele Verhandlungen, viele rechtliche Klagen, aber irgendwann war es so weit. Die BewohnerInnen hatten erreicht, dass alle ansässigen Firmen, die mit ihrer Umweltbelastung das Weiterleben im Stadtteil unmöglich machen, ein Ersatzgelände kaufen und die Wiederansiedlung finanzieren müssen.
Ende Dezember 2015 wurde das Dekret in Brasília veröffentlicht, das der Bevölkerung von Piquiá de Baixo die Umsiedlung gewährte. Die Freudenfeiern zum Jahreswechsel waren größer und ausgelassener als je zuvor. Aber dann ging wieder ein Vierteljahr ins Land und nichts ist vorangekommen. So ist auch Seu Adelson mittlerweile wieder skeptischer geworden. „Seit fünf Jahren versprechen sie uns, dass wir umziehen werden“, sagt er. „Ich weiß nicht mehr, wie oft ich das schon gehört habe: ‚Bald, bald.‘ Ich weiß nicht, ob ich noch daran glaube.“ Und dann kommt noch die große Politik hinzu. Brasilien in turbulenten Zeiten wie diesen. Das kann Auswirkungen bis in die kleinsten Dörfer haben. Bis nach Piquiá de Baixo, im nach Alagoas zweitärmsten Bundesstaat Brasiliens, Maranhão. „In Brasília, da streiten sie sich um die Präsidentschaft. Wenn es da zu diesem Impeachment kommt, dann liegt da alles brach, da wird dann kein Centavo freigegeben – und dann passiert hier auch nichts“, sagt einer der Bewohner von Piquiá de Baixo, der seinen Namen lieber nicht gedruckt sehen möchte. „Den Umzug können wir uns dann abschminken.“
Mitten in der großen politischen Krise Brasiliens, noch vor der Amtsenthebung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff, sorgte diese dafür, dass der Umzugsplan endlich Realität werden kann. Wenige Tage bevor sie das Abgeordnetenhaus zum Rücktritt zwang, wurde in Rousseffs Anwesenheit der Vertrag zwischen der staatlichen Caixa-Econômica-Bank, den zuständigen Behörden und den BewohnerInnen unterzeichnet, der den etwa 1.100 Menschen des Stadtteils Piquá de Baixo ihre Umsiedlung im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms Minha Casa, Minha Vida ermöglichen wird. Damit hat die Präsidentin – deren Zukunftsperspektiven zum Redaktionsschluss dieses Buchs noch ungewiss waren – mitten im Drama um ihre Amtsenthebung Größe gezeigt und deutlich gemacht, wem sie sich als Linke verpflichtet fühlt: den Marginalisierten in einem Land, in dem noch immer die Kluft zwischen Arm und Reich mit am größten in Lateinamerika ist.
Die deutsche Carajás-Connection
Rückblende: Es ist der 14. November 2008. BrasilianerInnen und Deutsche feiern in Essen in der Konzernzentrale von Thyssenkrupp. Sie feiern die milliardste Tonne Eisenerz, die aus der Carajás-Mine geholt wurde und die nun an die Stahlwerke von Thyssenkrupp in Deutschland geliefert wurde. Extra aus Brasilien angereist sind Vale-Präsident Roger Agnelli sowie zwei weitere Firmendirektoren, José Carlos Martins und Eduardo Bartolomeo. Sie feiern zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden von Thyssenkrupp, Ekkehard Schulz, und dem Chef der Stahlsparte Thyssenkrupp Steel, Karl-Ulrich Köhler. Einige Monate zuvor, am 26. Juni 2008, so der damalige Pressebericht, hatte die „Berge Stahl“, der von seiner Schiffstaufe 1986 bis März 2011 mit 350.000 Tonnen Ladekapazität größte Schüttgutfrachter der Welt, den brasilianischen Erzverladehafen Ponta da Madeira in São Luís verlassen, um drei Wochen später in Rotterdam anzulegen und die Fracht zu löschen. Die Ladung des 342 Meter langen, 65 Meter breiten und bei voller Beladung 23 Meter tief liegenden Schiffs wiegt so viel wie 51 Eiffeltürme oder 400.000 Autokarosserien. Drei der Rotterdamer Entladekräne brauchen vier Tage, um das Erz zu löschen. Über 200 Mal hat die „Berge Stahl“ für Thyssenkrupp den Atlantik überquert, um das amazonische Erz nach Rotterdam zu bringen, bevor es auf Binnenschiffe verladen und nach Duisburg geschafft wurde.
Die deutsche Carajás-Connection hat eine lange Tradition. 1982 hatte die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) der Companhia Vale do Rio Doce mit einem Darlehen über 300 Millionen DM ausgeholfen. Die Weltbank, an der die Bundesrepublik damals fünf Prozent der Anteile hielt, vergab einen Kredit von 304,5 Millionen US-Dollar. Der Zusammenschluss der damaligen europäischen Kohle- und Stahlindustrie steuerte als Kredit 600 Millionen DM bei. Hinzu kamen jeweils mehrere Hunderte Millionen US-Dollar aus Japan, den USA sowie von privaten internationalen wie auch brasilianischen Banken als Kredit für die Carajás-Mine. Insgesamt beliefen sich die Kosten für das Carajás-Projekt ab 1982 auf 4,9 Milliarden US-Dollar. Für die europäische Kohle- und Stahlindustrie gab es als Gegenleistung für den Kredit 15 Jahre lang ein Drittel der Jahresproduktion von Carajás zu Preisen von 1982. Allein Thyssen bestellte gleich am Anfang acht Millionen Tonnen. Natürlich musste der Kredit verzinst zurückgezahlt werden.
In Deutschland waren sowohl die Umweltfolgen als auch die sozialen Nachteile der größten Erzmine der Welt schon früh bekannt. 1983 hatte die Korrespondentin des Spiegel in Brasilien, Ariane Barth, in ihrer Reportage „Aufbruch zur letzten Grenze“ über die soziale Sprengkraft der großen Entwicklungsvorhaben im Osten Amazoniens berichtet. Im Jahr 1989 war eine umfangreiche Reportage in der Wochenzeitung Die Zeit erschienen, die die ökologischen und sozialen Folgen der weltgrößten Erzmine zum Gegenstand hatte und die deutsche Mitverantwortung. Denn ein Teil des Eisenerzes sollte gleich in Amazonien zu Roheisen geschmolzen werden. Als Energiequelle und Reduktionsmittel dazu dient in Brasilien geköhlertes Holz aus Naturwald (später aus Eukalyptus-Plantagen). Die Folge: „Der Regenwald wird verheizt – eine lange vorhersehbare Entwicklung, die alle internationalen Kreditgeber nicht bedacht haben“, so der Zeit-Autor, der eine Weltbankstudie zitierte. „Die Tatsache, daß die gegenwärtigen Entwicklungen nicht vorausgesehen wurden, wirft ernste Fragen hinsichtlich der Umweltverträglichkeitsprüfung durch die Bank auf.“
Dabei hatten schon Anfang der 1980er Jahre ExpertInnen vor den zerstörerischen Folgen des Eisenerzprojektes gewarnt. „Doch in seinem Wahn, die deutschen Stahlkocher mit Rohstoffen versorgen zu müssen, schlug der interministerielle Ausschuss, der für die Bewilligung der KfW-Kredite zuständig ist, alle Warnungen in den Wind. Auch EG und Weltbank wollten von den Umwelteffekten des Projektes nichts wissen. Erst Ende 1987 griff endlich die Weltbank das Problem auf – zu spät, denn längst hatte die Entwicklung in Ostamazonien eine unaufhaltsame Eigendynamik entfaltet. Und mittlerweile gehören europäische Unternehmen zu den Roheisenimporteuren.“ Solch düstere Nachrichten veranlassten die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) zur Einsetzung eines übergreifenden Dialogprogramms. Im Rahmen eines solchen Programms sollten vier Jahre lang Multistakeholder-Dialoge zwischen Betroffenen, Politik, Firmen und NGOs unter Schirmherrschaft der GKKE durchgeführt werden. Das Dialogprogramm sei „Ausdruck der Solidarität der Kirchen in Deutschland mit den Menschen in der ‚Dritten Welt‘“, die unter ungerechten und menschenunwürdigen Bedingungen leiden. Ende 1992 diskutierte die GKKE mit ihren brasilianischen Partnern über den zu wählenden Schwerpunkt des Dialogprogramms. Gegen die Themen „Land und Demokratie“ oder „Verstädterung am Beispiel von São Paulo“ setzte sich das Thema „Carajás – Entwicklung oder Zerstörung?“ durch.
Weihbischof Leo Schwarz formulierte die hohen Ansprüche des Programms: „Unsere Dialoge sollten einen gewissen Grad der Verbindlichkeit auf beiden Seiten erlangen. Ein Beispiel: Wenn wir die Entwicklung in der Region Carajás in Brasilien erörtern, dann werden überprüfbare und wirklich durchgeführte Handlungen eine Messlatte des Erfolges sein.“ Zwischen 1992 und 1996 fanden dazu 14 Arbeitstreffen mit den brasilianischen Partnern, dem Forum Carajás, statt. In Deutschland kam es zu regelmäßigen Gesprächen mit VertreterInnen von Bundestagsausschüssen wie dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit anderen Bundestagsabgeordneten und Europa-ParlamentarierInnen, Gewerkschaften, Universitäten, der brasilianischen Botschaft und der brasilianischen Umweltbehörde Ibama. Die GKKE traf sich aber auch mit Repräsentanten der Deutschen Industrie- und Handelskammer in São Paulo, der deutschen und der brasilianischen Stahl- und Aluminiumindustrie sowie mit diversen Nichtregierungsorganisationen.
Während der Dialog mit der deutschen Aluminiumindustrie über mehrere Jahre lief und 1995 immerhin zu einer gemeinsamen Reise von GKKE- und IndustrievertreterInnen in den Osten von Amazonien führte, fanden sich die deutschen Stahlunternehmen nur zu vier Treffen mit der GKKE bereit. Das Fazit der GKKE fiel entsprechend ernüchternd aus: „Bislang ist es nicht gelungen, die Stahlindustrie in den Dialog einzubeziehen, obwohl es an Bemühungen auf verschiedenen Ebenen nicht fehlt.“ VertreterInnen der deutschen Stahlindustrie bezeichneten das Unterfangen verächtlich als „Verschwendung von Kirchensteuergeldern“. Wozu sich auch die Geschichte einer Kleinbäuerin anhören, die zwangsumgesiedelt wurde, um einer Eisenbahntrasse zu weichen, die Geschichte eines Fischers, der mit durch Bergbau geschädigten Fischbeständen zu kämpfen hat, die Geschichte einer Indigenen, deren Wald von GeoprospektorInnen in Augenschein genommen und das Land bald als Bergbauobjekt der Begierde den Besitzer wechselt, wozu den aus sklavenarbeitsähnlichen Verhältnissen befreiten HolzköhlerInnen das Ohr schenken, wenn der Ruf des billigen Rohstoffs Erz doch so viel profitmächtiger ist?
So ging in Amazonien alles seinen Lauf. In den ersten 20 Betriebsjahren der Mine wurde ein Drittel der Carajás-Produktion nach Europa und etwas mehr als die Hälfte nach Japan exportiert. Seit den 2000er Jahren ist China mit einem gegenwärtigen Anteil von 34 Prozent der größte Abnehmer des Eisenerzes aus der Carajás-Mine. 19 Prozent gehen in andere asiatische Länder, 17 Prozent nach Deutschland. Derzeit sind es 20 bis 22 Millionen Tonnen Eisenerz, die Thyssenkrupp jährlich aus der Carajás-Mine bezieht. Deutschlands zweitgrößter Stahlproduzent, die Salzgitter AG, erklärte, im Jahr 2015 ungefähr 200.000 Tonnen Eisenerzrohstoffe aus Carajás eingeführt zu haben.
Aber es gibt vonseiten deutscher Unternehmen nicht nur eine große Nachfrage nach Eisenerz, das zum großen Teil zu Stahl verarbeitet wird und in der Produktion von Autos zum Einsatz kommt. „Der Industrie- und Hochtechnologiestandort Deutschland ist in hohem Maße auf den Import von Energie und mineralischen Rohstoffen angewiesen. Eine langfristige und bedarfsgerechte Versorgung mit Rohstoffen ist für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Die Bundesregierung verabschiedete in diesem Sinne im Jahr 2010 ihre Rohstoffstrategie. Ziel dieser Strategie ist es, eine nachhaltige, international wettbewerbsfähige Rohstoffpolitik und -versorgung aufzuzeigen.“ Das deutsche Bundeswirtschaftsministerium erteilte 2015 der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer den Zuschlag für den Aufbau eines „Deutsch-Brasilianischen Kompetenzzentrums Bergbau und Rohstoffe“. Die Einweihung erfolgte am 19. September 2015. Dieses Zentrum ist unter anderem für bestimmte Dienstleistungen wie die Erarbeitung von Marktstudien oder die fachliche Unterstützung von deutschen Firmen bei Kontakten mit brasilianischen Behörden und Unternehmen zuständig. Im August 2016 fand die erste Deutsch-Brasilianische Bergbaukonferenz in Belo Horizonte statt. Neben sinnvollen Themen wie der Rekultivierung aufgelassener Bergbauareale oder Sicherheit bei der Handhabung von Bergbaurückständen standen dort auch Fragen zur Aufbereitung und Weiterverarbeitung Seltener Erden auf dem Programm. Der auf der Konferenz anwesende Vertreter der Deutschen Rohstoffagentur, Sven-Uwe Schulz, hob die Bedeutung des brasilianischen Bergbaus für Deutschlands Rohstoffimporte hervor, während Thomas Timm von der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer frohlockte: „Jetzt ist der Moment gekommen, dass wir über zukünftige Projekte reden!“ Da schrillen bei UmweltschützerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen alle Alarmglocken, denn sie wissen, was Bergbau für Mensch und Natur bedeuten kann.
Thomas Timm hat da offensichtlich deutlich weniger Berührungsängste. Er ließ bereits 2015 verlauten, „der brasilianische Bergbau [weise] gerade für deutsche Firmen ein großes Potenzial zur Ausweitung ihrer Geschäftsaktivitäten auf“, schließlich sollen allein im Bergbau bis 2030 rund 270 Milliarden US-Dollar in Abbau und Aufbereitung sowie weitere 80 Milliarden US-Dollar in die notwendige Infrastruktur investiert werden. „Weil bisher nur etwa 30 Prozent Brasiliens geologisch vollständig erfasst sind, rechnen die Experten auch langfristig mit hervorragenden Geschäftschancen.“ Auch der Leiter der Deutschen Rohstoffagentur, Peter Buchholz, attestiert Brasilien eine bedeutende Rolle bei der Rohstoffsicherung Deutschlands. „Beachtliche 8,5 Prozent der deutschen Gesamtimporte mineralischer Rohstoffe stammen aus Brasilien. Den Löwenanteil macht hier Eisenerz aus, aber auch Kupfer, Niob, Nickel, Aluminium, Mangan und deren Zwischenprodukte sind unverzichtbare Handelswaren aus Brasilien für die deutsche Industrie.“ Hinzu komme, so Buchholz, dass der brasilianische „Bedarf an Explorations-, Abbau-, Förder-, Verlade- und Aufbereitungstechnik und darüber hinaus in der Infrastrukturentwicklung wie dem Hafenausbau und an der Schiffs-, Eisenbahn- und Lkw-Technik sehr hoch“ sei und künftig „noch erheblich steigen“ werde. Sein Resümee: „Deutsche Unternehmen sind in allen genannten Bereichen bereits in Brasilien vertreten.“ So ergänzt sich also die alte und neue internationale Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Deutschland: „Im Fokus stehen neue Lieferquellen für strategisch wichtige Rohstoffe und Zwischenprodukte sowie neue Absatzmärkte für Bergbaumaschinen und -ausrüstungen.“
Die (Mit-)Verantwortung entlang von Lieferketten
Viele lokale Gemeinschaften in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas, wo ein Drittel der globalen Bergbauaktivitäten stattfindet, sind derzeit aufgrund der fortschreitenden Rohstoffausbeutung mit dem Verlust ihres traditionellen Zugangsrechts zu Land und Wäldern, der Zerstörung der biologischen Vielfalt, der Verschmutzung von Ökosystemen und Wasservorkommen sowie den damit einhergehenden Gesundheitsgefahren konfrontiert. Sie kritisieren, dass die Bergbaupolitik weniger von den Regierungen als von den internationalen Minenkonzernen bestimmt wird. Die sozialen und ökologischen Verwerfungen des intensivierten Rohstoffabbaus haben in den vergangenen Jahren vor allem in Lateinamerika eine neue und sehr lebhafte Debatte über Auswege aus diesem Entwicklungsmodell ausgelöst wie auch darüber, wie die Rohstoffausbeutung grundsätzlich beschränkt oder so organisiert werden kann, dass Menschen und Umwelt nicht darunter leiden.
Auch in Deutschland gibt es eine Vielzahl an Menschenrechts- und Umweltgruppen, die mit ihrer Arbeit zu rohstoffpolitischen Themen dazu beitragen, dass die Forderungen und Empfehlungen von zivilgesellschaftlichen Gruppen aus Lateinamerika, die auf eine sozialökologische Regulierung von Bergbau- und Explorationsaktivitäten drängen, wie auch die dortigen Diskussionen um alternative Wege hierzulande Gehör finden – und deren Forderungen mittelfristig auch in die hiesigen Gesetze übernommen werden. Dies ist dringend erforderlich, denn die deutsche Rohstoffstrategie und die europäische Rohstoffinitiative betonen beide bisher einseitig den Aspekt der Versorgungssicherheit – die ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen der Rohstoffextraktion in Ländern des globalen Südens werden hingegen zu wenig beachtet. Doch tragen Deutschland und die EU in dieser Hinsicht eine ganz besondere Verantwortung: Die EU ist der größte Rohstoffimporteur der Welt, und innerhalb Europas ist Deutschland als wichtigster Industriestandort der größte Rohstoffverarbeiter.
In Deutschland fordern zahlreiche Menschenrechts- und Umweltorganisationen inzwischen, dass Rohstoff importierende deutsche Firmen, darunter auch die einflussreichen Automobilkonzerne, in Zukunft vom Gesetz her verpflichtet werden sollen, Transparenz für ihre gesamte Lieferkette herzustellen, dass für sie umfangreiche Berichtspflichten über die menschenrechtlich und umweltbezogenen Aspekte ihrer Rohstofflieferkette eingeführt werden sollen und sie für die Missachtung von Menschenrechten und Umweltstandards im Rahmen ihrer Zuliefererkette künftig auch haftbar gemacht werden können. In diesem Zusammenhang ist von einer Upstream- und Downstream-Verantwortung von Unternehmen die Rede. Upstream bezeichnet hier die Verantwortung der Unternehmen für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutzauflagen aufseiten ihrer Rohstoffzulieferer, also: von der Mine bis zur Schmelze. Die Downstream-Verantwortung bezieht sich auf die Sorgfaltspflicht der Konzerne gegenüber den eigenen Zulieferer- und Produktionstätigkeiten, also: von der Schmelze bis zum Endprodukt.
Im Jahr 2008 haben sich darüber hinaus in Deutschland Dutzende Nichtregierungsorganisationen zum Netzwerk AK Rohstoffe zusammengeschlossen, um Einfluss auf die Rohstoffstrategie der Bundesregierung zu nehmen. Ziel ist es, ein konsequentes ökologisches Umsteuern mittels verbindlicher Aussagen, Ziele und Maßnahmen zur Reduktion des absoluten Rohstoffverbrauchs zu erreichen. Die verschiedenen Transparenz-, Berichts- und Governance-Initiativen, die auf UN- oder EU-Ebene diskutiert werden, sollten, so eine zentrale Forderung des Netzwerks, deutlich ausgeweitet und durch gesetzliche Vorgaben ergänzt werden, die die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten für Unternehmen auch in ihrer Rohstoffzuliefererkette lückenlos und auch justiziabel nachvollziehbar machen. Der Zugang zu Rechtsmitteln gegen Unternehmen auch weit hinten in der Lieferkette sollte demnach allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen, unabhängig von ihrem Wohnort, möglich sein. Insgesamt will das Netzwerk darauf hinwirken, dass die Positionen zivilgesellschaftlicher Gruppen und der Betroffenen in der Debatte und bei der gesetzlichen Regulierung eine stärkere Berücksichtigung finden.
Die Automobilhersteller ihrerseits verweisen gern darauf, dass sie den Stahl für ihre Autos ja von sehr vielen verschiedenen Zulieferern kaufen und die Lieferketten im Einzelnen nicht nachvollziehen könnten. Allerdings, das bestätigte 2015 auch der Vorstandsvorsitzende Heinrich Hiesinger auf der Aktionärsversammlung von Thyssenkrupp, ist die Herkunft der Rohstoffe in der Regel bekannt, da zumindest die großen Stahlkonzerne „meist Lieferverträge direkt mit den Minenbetreibern abschließen“. Im Januar 2016 hat Igor Birindiba Batista vom Netzwerk der Brasilien-Solidaritätsgruppen Kooperation Brasilien (KoBra) aus Freiburg auf dessen Aktionärsversammlung den Industriekonzern Thyssenkrupp dazu befragt, wie sich die Lieferungen von Walzenbrechern, Brech-, Mahl- und Transportanlagen an die Erzgrube Carajás mit seinen Ansprüchen auf ökologische Nachhaltigkeit und Achtung der Menschenrechte vereinbaren lassen. Als Antwort räumte Thyssenkrupp diese Lieferungen ein, sah aber keinerlei Probleme darin, zumal es ja nicht Aufgabe von Thyssenkrupp sei, alle Abnehmer ihrer Maschinen zu überprüfen. Birindiba fragte auf dieser Versammlung auch nach den Geschäftsbeziehungen von Thyssenkrupp zu der brasilianischen Bergbaufirma Samarco (einer Tochtergesellschaft von Vale und BHP Billiton). Thyssenkrupp hatte an diese Firma, die für die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte Brasiliens verantwortlich ist, Rohrleitungen für die Eisenerzpipeline, eine Gutbett-Walzenmühle sowie eine Kugelmühle geliefert.
Thyssenkrupp verwies in seiner Antwort auf den „Thyssenkrupp Supplier Code of Conduct, der sich an dem UN Global Compact sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den ILO-Kernarbeitsnormen ausrichtet“. Im Übrigen, so Hiesinger, stehe die „Lieferung von Mühlen zur Weiterverarbeitung von gefördertem Material an die Firma Samarco zuletzt im Jahr 2011 […] in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Dammbruch bei Mariana/Brasilien im November 2015.“ (Dies hatte auch niemand behauptet.) Zudem, so Hiesinger, könne ein Konzern wie seiner in fernen Weltregionen keine „ordnungspolitischen Aufgaben wie die eines Staates“ übernehmen. Das hatte auch niemand verlangt. Die Forderung an die Geschäftsleitung eines Konzerns wie Thyssenkrupp durch Birindiba lautete vielmehr, innerhalb seiner Möglichkeiten präventiv tätig zu werden und damit Risiken zu minimieren. Thyssenkrupp, so Igor Birindiba, sei aufgrund seiner Marktmacht durchaus in der Lage, „durch die Gestaltung der Lieferbedingungen soziale und ökologische Auswirkungen der Produktion zu beeinflussen.“
Was die rechtlichen Möglichkeiten angeht, internationale Konzerne zur Verantwortung zu ziehen, so mahlen die Mühlen langsam. Aber immerhin ist auch hier in den vergangenen Jahren etwas in Bewegung gekommen. Auf UN-Ebene verhandelt seit Juli 2015 eine sogenannte intergouvernementale Arbeitsgruppe um ein verbindliches internationales Instrument zur Regulierung von transnationalen Unternehmen. Auf EU-Ebene wird an einer Reglementierung zur Einfuhr von sogenannten Konfliktmineralien (also solchen, die in konfliktreichen Regionen abgebaut oder gefördert werden) gearbeitet. Im Mai 2015 stimmte das EU-Parlament für eine Verpflichtung der europäischen Rohstoffimporteure, die lückenlose Herkunft von Zinn, Gold, Tantal und Wolfram zu belegen, was über bisherige Forderungen der EU-Kommission hinausgeht. Der diesbezügliche Entscheidungsprozess ist aber noch nicht abgeschlossen. Die in Deutschland erst relativ spät begonnene Diskussion um die Einführung eines Unternehmens- oder Verbandsstrafrechts wird sich voraussichtlich auch noch einige Jahre hinziehen, bis sie Früchte tragen wird, obwohl die EU schon seit Jahren von Deutschland hier eine klare Initiative einfordert.
„Die Automobilhersteller rechtfertigen sich damit, dass die Lieferketten sehr komplex seien, weshalb es nicht möglich sei, die genaue Herkunft der vielen tausend Einzelteile eines Autos nachzuvollziehen“, so Padre Dario Bossi. Warum das nicht transparent gemacht wird, kann Bossi nicht verstehen. Ja, die Kette sei vielleicht komplex, wenn es um einen Technologiehersteller wie beispielsweise Siemens gehe, der über mehrere Zwischenlieferer sein Material bezieht. Aber Bossi denkt, dass im Automobilbereich als einem der größten Industriezweige doch ein Anfang gemacht werden könnte. „Ein Anfang wäre ja, die Transparenz bei der Karosserie zu versuchen, die den größten Teil des Autos ausmacht“, meinte der Priester, als er im Mai 2015 in Deutschland war. „Hier haben die Metalle oft eine einheitliche Herkunft – die Hersteller weigern sich aber, diese genau zu erfassen und transparent zu machen.“
So bleibt es vorläufig bei Intransparenz. Und diese birgt die Gefahr, dass Menschenrechtsverletzungen oder Umweltzerstörungen am Anfang der Wertschöpfungskette begangen werden können, ohne dass die KundInnen am Ende der Konsumkette je davon erfahren. Das erspart vielen ein schlechtes Gewissen – denn wer will schon darauf hingewiesen werden, dass in seinem Auto Kinderarbeits-Kohle, Ausbeutungs-Aluminium oder Mord-Stahl steckt? Und den Konzernen erspart dieser Mangel an Transparenz eine Menge Geld. Zumindest solange die Transparenz- und Berichtspflichten für Unternehmen auch am Ende der Wertschöpfungskette vonseiten des Gesetzgebers nicht zur Pflicht gemacht und die Unternehmenshaftung entlang der gesamten Produktionskette nicht endlich gesetzlich eingeführt, praktiziert und überprüft wird.