Die rote Wand am Xingu

Eine Reportage aus dem Gebiet des Staudamms Belo Monte.
| von Christian Russau
Die rote Wand am Xingu
Staudamm Belo Monte mit gefülltem Reservoir im Hintergrund. Photo: Christian Russau, März 2016

Lateinamerika Nachrichten, Ausgabe 506/507, Juli/August 2016

 

Die ersten Turbinen von Belo Monte wurden in Betrieb gesetzt. Binnen der kommenden zwei Jahre soll am Xingu-Fluss im brasilianischen Bundesstaat Pará der Bau des dann drittgrößten Staudamms der Welt fertiggestellt sein. Doch die betroffenen Menschen am Fluss sind bereits jetzt ernüchtert.

„Dieses Werk ist so groß wie dieses Volk. Es ist großartig. Es ist ein großartiges Werk. Das ist die beste Art, Belo Monte zu beschreiben: großartig“. Mit diesen Worten lobte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff am 5. Mai dieses Jahres die Inbetriebnahme der ersten Turbine des Wasserkraftwerkes Belo Monte. Es liegt direkt am Xingu-Fluss, hinter der großen Flusschleife der Volta Grande, im Bundesstaat Pará. Es war eine ihrer letzten Handlungen, bevor sie durch das Senatsvotum vorläufig aus dem Amt geputscht wurde.
Es war keine glückliche Vorstellung, die sie in der Stadt Altamira abgab. Kaum angekommen auf dem Flughafen in Altamira flog sie der Helikopter über Belo Monte, setzte sie beim Werk ab, sie hielt ihre Lobesrede – und war wieder weg. Sie erwarteten noch viele Termine in diesen für Brasiliens Politik turbulenten Tagen.
Wahrscheinlich hätte es sich aber für die Noch-Präsidentin gelohnt, wenn sie auch mit den Bewohner*innen vom Xingu gesprochen und ihnen zugehört hätte. Dann hätte sie die andere Seite dieser „großartigen“ Geschichte hören können.
Die Bedenken und Sorgen der Betroffenen konnte man derweil schon anderthalb Monate zuvor kennen lernen. In der Volta Grande am Xingu: Dunkelgrüne Farne und Moose, vereinzelte Bromelien und Orchideen bedecken den Grund, Aronstabgewächse wie die Philodendren wachsen dicht neben Ölpalmen, verschlungene Lianen hangeln sich an den Borken der nur noch wenigen Jatobá- und Babaçu-Nussbäumen entlang. Ab und an ragt hoch über allem die Castanheira, der Paranussbaum.
Der Wald öffnet sich, weicht einer Langgraswiese und dann kommt die Wand in den Blick. Eine rote Mauer, die selbst die Castanheiras überragen würde, gäbe es sie an dieser Stelle noch. Die Wand ist an dieser Stelle über 65 Meter hoch, die noch vorhandenen Baumkronen erreichen hier noch an die 25 Meter. Die rote Farbe kommt von der heimischen Erde, die auf die Beton-, Geröll- und Sand­schichten als oberste Schicht aufgetragen wurde, um ihren Oberflächenbewuchs mit heimischen Pflanzen zu ermöglichen.
Die Wand, das ist die schräg abfallende Fläche des Außendeichs mit der Nummer 6C. Er ist der höchste der hier vorhandenen Deiche. Er begrenzt die südliche Flanke des Staureservoirs des künftig drittgrößten Staudamms der Welt, Belo Monte. Er soll Arbeitsplätze schaffen. Entwicklung vorantreiben. Er soll die Energieprobleme Brasiliens lösen. Nichts weniger ist der Anspruch.
Das sagen die Befürworter*innen des Wasserkraftwerkes.
Die Kritiker*innen entgegnen, der Strom gehe in die energieintensive Bergbauindustrie, in die exportorientierte Industrie und in die weit entfernten Ballungszentren im Süden des Landes. Hier im Norden, in Amazonien, im Bundesstaat Pará, werde der Strom jedenfalls nicht gebraucht – und auch nicht verbraucht, erzählen Bewohner*innen vom Xingu.
Wenige Kilometer weiter: Rinderweiden grenzen an Palmölkulturen. Dann wieder ein halbwegs intaktes Waldstück. Doch dann wird der Wald wie mit dem Trennmesser auf einmal durchschnitten. Eine über 100 Meter breite Trasse wurde hier geschlagen, eine am Horizont sich in der Perspektive verlierende Grasfläche. Hier stehen die Masten der Überlandleitung gen Süden in vier Reihen nebeneinander, 300 Meter weiter zieht sich noch eine Trasse durch die Landschaft, auch gen Süden. Männer in blauen Overalls klettern an den Masten hoch und runter, schrauben, rufen sich zu und winken dem anhaltenden Fahrzeug. Einmal fürs Foto aus luftiger Höhe posieren. Sehr gerne. Sie lächeln. Sie haben doch ein Einkommen, werden nicht schlecht bezahlt für das Verlegen der Überlandleitungen über mehrere tausend Kilometer, immer gen Süden.
Zé Carlos Arara lächelt nicht. Er ist wütend. Aufgebracht. Aber er versucht, sich klar und deutlich auszudrücken. Muss er doch in wenigen Minuten zusammenfassen, was seiner aldeia, seinem indigenen Dorf, vor wenigen Wochen passiert ist. Bisher hatte niemand über diesen Vorfall berichtet, einfach, weil ihn bisher kein*e Journalist*in dazu befragt hatte. Es war niemand von der Presse bei ihm gewesen. Die Wege sind weit in Amazonien.
Zé Carlos ist der Kazike der Terra Indígena Arara, die in der Volta Grande, der großen Flusschleife des Xingu-Flusses, an der rechten Seite des Ufers liegt. Die Volta Grande ist eine rund 100 Kilometer natürliche Flusschleife des Xingu, die flussabwärts der ersten Staustufe von Belo Monte, Pimental, und flussaufwärts des Hauptturbinenhauses liegt. Als Abkürzung des Flusslaufes haben der Staudammbetreiber und die Baufirmen einen kilometerlangen Kanal gezogen, der den Großteil des Flusswasser in ein rund 500 Quadratkilometer großes, neugeschaffenes Staureservoir leitet, dort, wo der Deich Nr. 6C das Reservoir sichert. Ende Februar war der sich zum Hauptwasserkraftwerk hin zuspitzende Stausee bis oben randvoll. Es hatte so viel geregnet, dass der Staubereich augenscheinlich schneller als von den Ingenieur*innen geplant, voll lief. Oder aber die Ingenieur*innen haben sich gründlich verrechnet. Zé Carlos weiß das nicht.
In der aldeia der Arara leben über 100 Menschen und sie verfügen über Radiofunk, mit dem sie mit der Außenwelt kommunizieren. Immer morgens zwischen acht und elf Uhr sowie am Nachmittag gegen drei Uhr steht die Verbindung. Zé Carlos hat ein Handy, über das er, wenn er Empfang hat, meistens erreichbar ist. Vor einigen Wochen war er in der Stadt Altamira, einige Bootsstunden flussaufwärts, um Besorgungen für die aldeia zu machen. Da klingelte am Abend sein Handy. Ein Mitarbeiter der Staudammfirma Norte Energia rief ihn an, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt die Schleusentore bei der ersten Staustufe Pimental öffnen und dort viel Wasser in die Volta Grande ablassen würden, sodass der dortige Wasserstand rapide steigen werde. Ob er die Anwohner*innen davon in Kenntnis setzen könnte?
„Ich sagte Norte Energia, ich bin jetzt in Altamira. Ich habe Norte Energia am Telefon gefragt, ‚Kann man das nicht morgen machen‘? Jetzt kann ich die aldeia nicht erreichen und meine Leute nicht warnen, wenn wir das Morgen am Vormittag machen, alles kein Problem.‘ Und die Antwort von Norte Energia: ‚Keine Chance. Wir müssen das jetzt machen‘“, berichtet Zé Carlos Arara in Altamira bei der Bundesanwältin Thaís Santi. Diese nimmt die Aussage gewissenhaft auf, ist besorgt und empört zugleich.
Zé Carlos war nach dem Telefonat in höchster Aufregung. Die Schleusentore zu öffnen, ohne dass die Bewohner*innen der aldeia vorher gewarnt würden, das ging doch nicht. Er war sehr unruhig, konnte nicht einschlafen. „Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe versucht rauszufinden, was denn nun passiert ist. Um acht Uhr am Morgen habe ich es dann geschafft, die aldeia per Radio zu erreichen. Die haben mir dann sofort erzählt, dass in der Nacht auf einmal all das Wasser den Fluss runterkam und vieles von den Fluten mitgerissen wurde. Boote, Motoren, Netze, alles, was da abgelegt worden war. Und was nicht mitgerissen wurde, wurde oftmals zerstört von den Wassermassen. Die Zementmischung zum Beispiel, komplett aufgeweicht und somit nutzlos.“
Die Menschen rannten in Panik weg. Sie dachten, der Damm sei gebrochen. Bei Pimental sind die umgebenden Deiche rund elf Meter hoch, weiter flussabwärts kommen die Deiche an die 50 und 60 Meter Höhe. Das geht bis zu den 65 Metern bei Deich Nummer 6C. Nicht auszumalen, was passiert, wenn hier ein Deich Risse aufweisen sollte.
„Das zeigt ganz klar: Norte Energia handelt unverantwortlich!“, sagt die Bundesstaatsanwältin Thaís Santi, nachdem sie Zé Carlos Araras Aussage aufgenommen hat. „Die haben nicht den geringsten Notfallkommunikationsplan! Und das betrifft die ganze Volta Grande.“
„Beim Bau von Belo Monte war von Anfang an festgelegt worden, dass sofort nach der Versteigerung, wer die Lizenz zum Bauen von Belo Monte bekäme, die Umsetzung des Planes zum Schutz der indigenen Bevölkerungen beginnen müsste. Das hätte schon 2010 erfolgen müssen. Eigentlich.“ Sagt Thaís Santi. Am Rio Xingu gibt es laut dem Schutzplan mehr als 30 indigene Dörfer und Territorien. „Aber bis heute wurde davon rein gar nichts umgesetzt“, beschreibt die Bundesstaatsanwältin das Desaster am Xingu.
Was umgesetzt wurde, waren „Computer, Cars and Cash“, so kommentiert es Todd Southgate, kanadischer Dokumentarfilmer, der am Xingu gerade seine Langzeitbeobachtung von Belo Monte zu Ende führt. Diese ganzen Geschenke aber, das brächte die Indigenen in Abhängigkeiten, so Southgate. Seit Jahren dokumentiert er die Veränderungen in den aldeias der Volta Grande. Wo die Indigenen am Xingu zuvor fischten und sich selbst versorgen konnten, trinken sie nun gelieferte Softdrinks aus PET-Flaschen, schauen unterirdische Fernsehshows der Medienzentralen aus dem Süden des Landes und können Fisch meist nur noch essen, wenn sie in die Stadt fahren und dort im Supermarkt Tiefkühlfisch aus Thailand oder dem Nordatlantik kaufen. „Die vielfältige indigene Kultur am Xingu wurde durch Belo Monte in all ihren Facetten zerstört“, so Southgate.
Die neuen Motoren für die Boote, die Autos, die Mopeds, das Benzin, die Flachbildschirme und die Computer, die der Staudammbetreiber Norte Energia an die verschiedenen indigenen Dörfer entlang des Xingu-Flusses als Entschädigungen für den Bau von Belo Monte verteilt hat, haben Streit gebracht. „Vorher waren wir hier 18 indigene Dörfer, dann kamen die vielen Geschenke von Norte Energia und es gab Neid und Streit zwischen den verschiedenen Gruppen, so dass sich einige abgesplittet haben“, sagt Gilliard Juruna, Kazike der Juruna im kleinen Dorf Muratu am Xingu-Fluss. „Heute sind es 45 aldeias“, so Gilliard.
Das alte Teile und Herrsche?
„Ja“, sagt Gilliard, „das war die Strategie, sie wollten uns spalten, um unseren Widerstand zu schwächen.“
Thaís Santi, die Bundesstaatsanwältin, spitzt den Vorwurf noch weiter zu. Santi spricht von Ethnozid. „Meine staatsanwaltlichen Untersuchungen des Falles haben ergeben, dass die Auswirkungen des Staudammbaus nicht wie vorgeschrieben gemindert, sondern im Gegenteil sogar ausgeweitet wurden. Die Untersuchungen aller Dokumente, aller Zeugen- und Betroffenenaussagen sowie selbst die Studien der Indigenenbehörde Funai ergeben das gleiche Bild: Bei Belo Monte handelt es sich um einen Ethnozid“, beschreibt Santi die Sachlage. Sie schlussfolgert, es ist „ein Ethnozid, den der brasilianische Staat und die Staudammbetreiberin Norte Energia hier durchführen.“
Thaís Santi macht eine Pause. Denn der Vorwurf des Ethnozids geht auch ihr nicht leicht über die Lippen. „Belo Monte ist ein Ethnozid, den der brasilianische Staat und die Staudammbetreiberin Norte Energia hier durchführen und der im Ziel den Indigenen assistenzialistische Sachspenden zugute kommen lässt, sie aber dadurch in Abhängigkeit vom Staat und von der Staudammbetreiberin bringt.“ Dadurch werde die Sozial- und Alltagsstruktur in den aldeias zerstört. „Was hier vorgeht, ist ein kompletter Umbruch des Lebenswandels, der Ernährung, der Arbeitswelt der Indigenen“, so Santi, die in São Bernardo do Campo südlich von São Paulo geboren wurde, in Curitiba in Südbrasilien aufwuchs und seit vier Jahren als Bundesstaatsanwältin in Altamira arbeitet. Ihr Fazit: „Die Bundesstaatsanwaltschaft hat deswegen den Schluss gezogen, dass es sich bei Belo Monte in der Tat um einen Ethnozid handelt. Deswegen haben wir die Klage eingereicht, um Belo Monte von Gerichts wegen zu dem zu erklären, was es ist: ein Ethnozid.“
Bevor die 37-Jährige als Bundesstaatsanwältin zu arbeiten anfing, war sie als Universitätsprofessorin für Philosophie tätig. Ihre Abschlussarbeit verfasste sie über Hannah Arendts Totalitarismustheorie, die sie in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 1955 herausgearbeitet hatte. Mit ihren Student*innen, erzählt sie, habe sie oft diskutiert über eine Welt, in der alles möglich ist, eine Welt am Rande der Legalität, eine Welt des Terrors. Und das, sagt Thaís Santi, habe sie am Xingu vorgefunden. „Belo Monte ist ein Ethnozid in einer Welt, in der alles möglich ist.“ Denn, so die Staatsanwältin, dieser Großstaudamm zeige die Extremseite eines als flexibel handhabbar verstandenen Rechts. Die Verletzung der Rechte der von Belo Monte betroffenen Menschen breche die Verfassung. Vor Gericht werde aber nicht mit dem Recht argumentiert, sondern mit der Kraft des Faktischen. „Der Staudammbetreiber argumentiert gegen die Rechtsklagen, was alles schon für das Bauwerk ausgegeben wurde, wie viele Bauarbeiter*innen ihren Job verlieren würden. Aber das alles ist nicht Teil von Recht und Gesetz, dies ist das Faktische. Dass der Bau von Belo Monte weiterläuft, das ist die terrorisierende Welt des Faktischen, in der alles möglich ist, in der das Recht keine Grenzen mehr setzt. Die Welt des ‚Alles ist möglich‘ – das ist Belo Monte“, so Thaís Santi.
Und das läuft so: Mittlerweile 25 Klagen haben die verschiedenen Bundesstaatsanwaltschaften bislang gegen Belo Monte vor Gericht eingereicht. Einige von diesen haben den Bau des Staudamms zwischenzeitlich gestoppt. Doch immer fand sich ein*e Richter*in am Obersten Gerichtshof in Brasília, der*die die Baustopps wieder aufhob und die Verfassungsklagen auf die lange Bank schob. Und dies, ohne dass die in den Klagen genannten Rechtsfragen selbst juristisch analysiert worden wären. Die Aushebelung der rechtsstaatlichen Vorgänge erfolgt dabei durch die Anwendung von Dekreten, die noch aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur stammen. Die Rechtsansprüche  der vom Projekt betroffenen Menschen werden so durch den Verweis auf das vermeintlich „nationale Interesse“ auf die lange Bank geschoben. Und der Bau kann erstmal weitergehen.
Vielleicht werden in einigen Jahren die Gerichtsprozesse abgeschlossen und die Rechtsbrüche durch Belo Monte justiziabel sanktioniert. Aber dann ist der Staudamm schon lange in Betrieb, produziert Elektrizität im „nationalen Interesse“ und ein Rückbau ist durch die Kraft des Faktischen auf absehbare Zeit ausgeschlossen.
Den betroffenen Indigenen hilft das nicht weiter. Die Sozialstruktur erodiert.
Der Alkoholismus habe stark zugenommen, berichtet einen Tag später Leiliane Juruna in dem indigenen Dorf Muratu an der Volta Grande, flussabwärts der ersten Staustufe bei Pimental. „Die Männer sind früher zum Fischen raus, schon ganz früh, heute stehen viele von ihnen spät auf, und der Kater ist ihnen anzusehen“, klagt Leiliane, die umringt von den Kindern des Dorfes die Wäsche, vor dem Nieselregen unter dem Vordach hinter dem Haus gut geschützt, aufhängt. Bel, wie sie alle hier nennen, ist ebenfalls wie Gilliard Juruna Kazikin des kleinen Dorfes Muratu, hier in der Terra Indígena Paquiçamba. Bel wird gerade fertig damit, die Wäsche aufzuhängen, da kommt Gilliard mit drei gefangenen Fischen vorbei. „Das ist zur Zeit sehr selten geworden“, sagt er, „die Fische sind hier echt selten geworden, seit sie da den Damm hochgezogen haben.“ Anfang des Jahres konstatierte die Umweltbehörde Ibama, dass durch den Dammbau von Belo Monte 16 Tonnen Fisch starben.
Bel und Gilliard haben gerade beide nicht viel Zeit. Heute kommt Besuch nach Muratu. Angekündigt hat sich Victoria Tauli-Corpuz, die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen (UN) für die Rechte indigener Völker. Sie will von den Indigenen direkt erfahren, welche Folgen Belo Monte für das Leben in der Region hat. Bel, Gilliard und die anderen ziehen sich zurück, sie müssen sich noch bemalen, den traditionellen Federschmuck aufsetzen und sich auf das für eine Stunde angesetzte Gespräch vorbereiten.
Der Regen wird stärker. Er zerfurcht den roterdigen Boden in Rinnsale, die rotbraun gen Xingu fliessen.
Dann endlich kommt die Autokolonne, die die UN-Berichterstatterin nach Muratu begleitet. Drei Polizeifahrzeuge mit schwerbewaffneten Bundes­straßenpolizist*innen vorneweg, zwei hinter den Allradwagen mit Vertreter*innen der UN. Die Polizist*innen springen behände aus den Wagen, postieren sich im Halbkreis um die Wagen und halten die Schnellfeuerwaffen vor der Brust gekreuzt.
Schnell begreifen die zunächst grimmig die Situation überblickenden Polizist*innen, dass ihr Auftreten nicht nur nicht gut ankommt, hier in Muratu, schlimmer noch, es nimmt demonstrativ niemand weiter Notiz von ihnen. Bel und Gilliard Juruna gehen auf die Berichterstatterin Tauli-Corpuz zu und durchschneiden dabei elegant die Reihen der Polizei. Die Sonderberichterstatterin kommt auf die zwei zu und umarmt sie herzlich. Der Polizeikommandeur schickt seine Leute runter an den Fluss und erläutert Bel und Gilliard, dass die Polizeianwesenheit hier wohl nicht so vonnöten sei und dass sie sich weiter unten am Ufer hinsetzen werden und nicht beabsichtigen, das Treffen zu stören. Es ginge ja „nur um präventive Sicherheit“, sagt der Kommandeur. Da kann auch Victoria Tauli-Corpuz sich ihr Lächeln nicht verkneifen, als die Übersetzer*innen ihr die kurze Konversation übermitteln.
An die 50 Personen versammeln sich unter dem nach allen Seiten offenen Reetdach am oberen Ende der aldeia. Die Dolmetscher*innen verteilen an die aus Muratu und den umgebenden aldeias  Paquiçamba und Furo Seco Angereisten Headsets für die Simultanverdolmetschung Englisch-Portugiesisch. Nach der Begrüßung aller Anwesenden erläutert Tauli-Corpuz, wer sie ist.
„Ich bin Indígena und komme aus einer Bergregion auf den Philippinen, wo in den 1970er und 1980er Jahren ein großes Wasserkraftwerk 300.000 Indigene bedrohte“, so Tauli-Corpuz. Trotz des damals noch herrschenden Ausnahmezustands im Land hätten die Indigenen sich aber organisiert und zur Wehr gesetzt, „um zu verhindern, dass unsere angestammten Ländereien und unsere Reisfelder unter Wasser begraben werden.“ Trotz Tod und Folter damals hätten sie den Kampf geführt und gewonnen. „Wir zwangen die Weltbank zum Ausstieg, und die Regierung musste das Projekt 1986 einstellen. Das wollte ich Euch erzählen.“
Dann hört sie geduldig weit über eine Stunde den Indigenen zu. Ihr Staff schaut derweil besorgt auf die Uhr, wegen des engen Terminplans. Bel Juruna und Gilliard berichten von ihrer Situation, von den vielen „Geschenken“ der Firma, von den Folgen des neuen Konsums und des Endes des Fischens, von den toten Fischen, berichten vom stetig wechselnden Wasserstand des Xingu, je nach Öffnung und Schließung der Schleusen. Sie berichten davon, wie ihr Leben sich geändert hat, davon dass Norte Energia ihnen Strom gebracht hat, aber sie nun die horrenden Stromrechnungen nicht zahlen können. Sie berichten von den Anhörungen, die Norte Energia durchgeführt hatte, und wie wenig sie dort mitreden durften. Mitentscheiden schon gar nicht.
Vor allem das beunruhigt Tauli-Corpuz. Denn die Indigenen müssen angehört werden bei allen Großprojekten, die sie und ihr Land betreffen. Das legt die brasilianische Verfassung und die Konvention Nummer 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UN, die sogenannte ILO 169, fest. Brasilien hat diese 2002 unterzeichnet und 2004 ratifiziert. Dabei geht es um die Frage nach der sogenannten freien, vorherigen und informierten Zustimmung (FPIC) der Indigenen zu solchen Projekten.
Nachdem sie sich die Reden der Indigenen trotz des engen Terminplans geduldig und interessiert angehört hat, erwähnt Victoria Tauli-Corpuz die Klage der Staatsanwältin Thaís Santi zum Ethnozid an den Indigenen durch Belo Monte. „Was hier geschieht, ist nicht nur ein physischer Angriff, sondern ein Angriff auf eure Kultur“, sagt sie. Zustimmendes Raunen unter dem Reetdach. „Wenn ihr eure kulturelle Identität verliert, dann ist eure Identität als Indigene in ihrer Existenz bedroht“, so die Sonderberichterstatterin. „Was ihr macht, wenn ihr protestiert, ist richtig, denn ihr verteidigt damit alle künftigen Generationen hier.“
Ihre Mitarbeiter*innen erinnern Tauli-Corpuz an den komplett aus den Fugen geratenen Terminplan. Sie deutet an, dass sie noch länger hierbleiben und mit den betroffenen Indigenen reden will. Die Zeichen des Polizeikommandeurs sind dann aber doch zu eindeutig. Vor Sonnenuntergang müssen sie wieder in der Stadt sein, das sei von höchster Stelle der Vereinten Nationen so angeordnet. Nach Einbruch der Dunkelheit keine Fahrten mehr durch Dschungelgebiete.
Nun fühlen sich die Polizist*innen augenscheinlich wieder in ihrem Element. Mit vor der Brust gekreuzten Gewehren sichern sie den Abgang der UN-Sonderberichterstatterin. Mit röhrenden Motoren fährt die Autokolonne den Hügel zur Erdstraße hinauf. Die Polizeiwagen vor und hinter den UN-Mietwagen. Mit rotblinkenden Signallichtern verschwinden sie im spätnachmittäglichen Grün des Regenwalds am Xingu.
// Christian Russau

 

 


 

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