Das Land denen, die es bearbeiten!
Die brasilianische Landlosenbewegung MST hat vor wenigen Tagen zwei Ländereien in den Bundesstaaten Pernambuco und Goiás besetzt, um diese Gebiete im Sinne der Agrarreform für diejenigen, die ohne Land sind, aber das Land bearbeiten wollen, zugänglich und nutzbar zu machen. In Goiás besetzten am Montag, dem 24. Juli, etwa 600 Familien der Landlosenbewegung MST die Fazenda São Lukas in der Gemeinde Hidrolândia. Die Landlosen fordern, dass das Gebiet für eine Agrarreform genutzt werde und dass die Bundesregierung die Situation von 3.000 Familien, die in Goiás in Erwartung auf Zugang zu Land in provisorischen Lagern kampieren, endlich reguliere. Es ist bereits das zweite Mal, dass die MST das 678.588 Quadratmeter große Gelände besetzt. Das erste Mal geschah dies am 25. März dieses Jahres im Rahmen des Nationalen Tages des Kampfes der landlosen Frauen. Der Ort wurde vom MST wegen der Symbolkraft des Ortes als Ort der Landbesetzung gewählt. Die Fazenda São Lukas war zuvor Ort sexueller Ausbeutung und des Menschenhandels. Während drei Jahren wurden dort Frauen aus den Städten Anápolis, Goiânia und Trindade gefangen gehalten. Nach Angaben der Bundespolizei gehörte das Grundstück einer kriminellen Gruppe von 18 Personen, die im Jahre 2009 dann verurteilt wurden, weil sie Dutzende von Frauen und Jugendlichen, die in die Schweiz verschleppt worden waren, gefangen hielten. Seitdem ist das Grundstück in den Besitz des Bundes übergegangen. In Pernambuco handelt es sich bei der zweiten Besetzung um die vormalige Fazenda Santa Terezinha, die laut denen das Land besetzenden 180 MST-Familien ab nun Acampamento Jean Carlos heissen soll. Die Fazenda war bereits im Aktionsmonat für Landbesetzungen und Agrarreform - dem sogenannten "roten April" - besetzt worden, nun erfolgte die Besetzung am 25. Juli zum zweiten Mal. Es handelt sich hierbei um 500 Hektar unproduktives Land in der Region Caruaru im Bundesstaat Pernambuco. Das Grundstück, das bei den Anwohner:innen der Umgebung als Bauernhof Djalma do Bonanza bekannt ist, gehört einer Familie von Politiker:innen und Unternehmer:innen, wurde aber bisher nicht produktiv für die Entwicklung der örtlichen Gemeinde und der Gesellschaft insgesamt genutzt, wie es die brasilianische Gesetzgebung in Bezug auf die Sozialfunktion von Agrarflächen vorschreibt. Deswegen beansprucht die MST dieses Gebiet nun, um es im Rahmen der Agrarreform seiner eigentlichen sozialproduktiven Bestimmung zuzuführen. In einer anlässlich der Besetzung des Farmgeländes bei Caruaru herausgegebenen Erklärung betonte die Landlosen-Bewegung MST, "dass der Kampf um Land und die Auseinandersetzung mit den Latifundien von grundlegender Bedeutung für die Bekämpfung des Hungers und die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen im Land sind." Die Aktion ziele darauf ab, das Areal für die Agrarreform zu beanspruchen, da es seine soziale Funktion nicht erfülle. "Wir als MST glauben, dass der Kampf um Land und die Konfrontation mit den Latifundien auch eine der zentralen Aufgaben ist, um den Hunger zu bekämpfen und um Arbeitsplätze und Einkommen im Land zu schaffen", heißt es in der Mitteilung der MST.
Die Agrobusiness freundliche Presse war schnell in ihrer üblichen Analyse: Diese vom MST nun durchgeführten "Invasionen" würden die parlamentarische Winterpause ausnutzen, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Dies hat damit zu tun, dass bis zum ersten August wegen der Parlamentsferien die parlamentarische Untersuchungskommission CPI MST nicht tagt. Rechte Medien und Politiker:innen wie der Vorsitzende der CPI zum MST, der Tenente Coronel Luciano Zucco, schäumen derweil vor Wut, "diese Invasionen" seien eine Afront. Luciano Zucco hatte auch gleich seine Sicht auf die Landosenbewegung MST parat: "Es handelt sich um eine politische und ideologische Bewegung, die vom Transfer öffentlicher Mittel lebt, um so weiterhin ein Modell der Ausbeutung der schwachen Bevölkerung zu finanzieren und die Armut aufrechtzuerhalten. Denn dort, wo die bäuerlichen Familienbetriebe florieren, interessiert sich niemand für die MST."
Die CPI MST wurde vom mehrheitlich rechten brasilianischen Nationalkongress im Mai dieses Jahres eingesetzt. Sie hat einen Arbeitsauftrag für die Dauer von 120 Tage. In dieser CPI MST soll es um drei Fragen gehen, so die Befürworter:innen: Was tut die Landlosenbewegung MST, was ist "ihr eigentlicher Zweck" sei und wer deren Arbeit finanziert. Als Berichterstatter ernannten die ruralista-Abgeordneten keinen Unbekannten: den vormaligen Umweltminister Bolsonaros, den rechtsextremen Ricardo Salles, der in seiner Amtszeit eher für Flexibilisierung der Umweltgesetzungen bekannt wurde und dessen Forderung in einem Video, "Viehherden" in den Amazonas "zu treiben", in Brasilien zu einem geflügelten Wort für die Umweltpolitik der Bolsonaro-Regierung wurde. Im Juni 2021 war Ricardo Salles vorzeitig vom Amte zurückgetreten, weil kurz zuvor bekannt wurde, dass die Bundespolizei gegen ihn im Zusammenhang mit der illegalen Tropenholzmafia ermittelte. Dieser Salles ist nun Abgeordneter im Nationalkongress und erklärte als Berichterstatter der CPI MST, dass "es in Brasilien Gesetze gibt, die das Privateigentum schützen. Alle kriminellen Handlungen und jede Mißachtung des Privateigentums werden von dieser parlamentarischen Untersuchungskommission beim Namen genannt werden!", so Salles gegenüber Medien.
Für die Landlosenbewegung MST ist das Ziel dieser CPI offensichtlich: die MST soll als Organisation diffamiert werden, das gesellschaftliche Narrativ soll sich wieder mehrheitlich gegen die Landlosen richten und die MST-Aktivisti* sollen kriminalisiert werden. "Diese CPI MST ist ein koordinierter Angriff auf die MST", sagt Ayala Ferreira von der Nationaldirektion der Landlosenbewegung MST. "Sehr wahrscheinlich wird die CPI MST versuchen, uns als terroristisch hinzustellen. Und wie nebenbei werden sie eine Flexibilisierung der Umweltgesetzgebung und eine weitere Liberalisierung der Agrargifte empfehlen, und all dies als großes Blendwerk nutzen, damit nur niemand auf die Idee kommt, das dahinter stehende Latifundien-Modell zu erkennen", so Ayala auf einer der regelmässig mit internationalistischen Aktivisti* stattfindenden Austauschrunden Mitte Juni dieses Jahres. Ayala Ferreira geht zudem davon aus, dass die im Mai erfolgte Einsetzung der CPI MST nicht zufällig erfolgte. "Diese CPI MST ist auch als reaktionäre Antwort auf die CPI zu den Putschversuchen der extremen Rechten vom 8. Januar dieses Jahres zu sehen", so Ayala Ferreira. Damals waren Tausende fanatische Bolsonaristas ins Abgeordnetenhaus, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast gestürmt, haben dort teils erhebliche Zerstörungen angerichtet, alles unter der Augen der viel zu spät eingreifenden Sicherheitskräfte. Die aktuelle CPI zum Putschversuch vom 8. Januar läuft noch, ebenso wie die Gerichtsprozesse gegen die Putschist*innen. "Und die jetzige Einberufung der CPI MST soll von der Frage ablenken, welche Rolle das Agrobusiness bei dem Putschversuch vom Januar spielte", ist sich Ayala Ferreira sicher.
Diese Mutmaßung könnte es ganz gut treffen. Denn zum Beispiel gegen den über die Landbesetzungen des MST vor Wut schäumenden Vorsitzenden der CPI MST, Tenente Coronel Zucco, gibt es mehrere höchstrichterliche Untersuchungen über dessen Verwicklungen in den Putschversuch der Bolsonaristas vom 8. Januar 2023.
Wer mehr aktuelle Infos zur CPI MST und zu den aktuellen Herausforderungen der Agrarreformpolitik der neuen Lula-Regierung auf Deutsch lesen mag, in der aktuellen Ausgabe der ILA gibt es einen Text dazu.