Brasilien – „Paradies der Agrargifte“
Nomen est omen, aber auch Ausdruck gesellschaftlicher Narrative, die im medialen Disput um Deutungshoheiten – und in Konsequenz dessen auch um gesellschaftliche Machtverhältnisse – miteinander konkurrieren. So wurde auch immer versucht, durch Wortneuschöpfungen politische Debatten zu steuern, zu entschärfen und in die gewünschte Richtung zu beeinflussen. So wie in Deutschland nach dem Aufkommen von Kritik und Widerstand gegen Atomkraft von der Atomenergiewirtschaft versucht wurde, den Begriff „Atomkraft“ durch den Begriff „Kernkraft“ zu ersetzen, um verlorene Unterstützung in der gesellschaftlichen Debatte um Atomenergie durch begriffliche Erneuerung und Verschleierung wieder gutzumachen, so hat sich in Brasilien eine Koalition aus Politiker:innen und Großfarmer:innen zusammen mit Industrievertreter:innen daran gemacht, die medialen und gesellschaftlichen Narrative um agrarchemikalische Wirkstoffe durch Wortverschiebungen zu beeinflussen.
Es war in Brasilien ab spätestens 1988, dem Jahr der neuen Verfassung, in öffentlichen Dokumenten üblich, von „agrotóxicos“ (deutsch „Agrargiften“) zu sprechen, so z. B. §4 von Kapitel 5 der brasilianischen Verfassung, wo es um die Rechte und Pflichten öffentlicher Kommunikation geht. Dort ist explizit von „agrotóxicos“ die Rede. Auch ein Jahr später, im Gesetz Nº 7.802/1989 ist in den Grundlagenbestimmung über Produktion, Lagerung, Verwendung und Entsorgung von Agrarchemikalien explizit die Rede von Agrotóxicos. Hintergrund war, dass einem Großteil der damaligen Verfasser:innen der Gesetze die Gefährlichkeit und Giftigkeit der Agrotóxicos in der Tat bekannt und ihnen bewusst war, wie wichtig für die Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung die vom Staat verwendete Begriffswahl für Produkte war und ist, um den Menschen schon durch die Begriffswahl die Gefahr einer potentiellen Vergiftung vor Augen zu führen.
Diese Vorsichtsmaßnahme scheint aber in Brasilien bei einem immer größer und mächtiger werdenden Anteil der Politiker:innen nicht mehr so viel zu zählen wie gesteigerte Produktionsmengen und Profiten. Laut dem in den Kammern des brasilianischen Nationalkongresses anstehenden Gesetzesentwurfs 6299/2002 soll der Begriff Agrotóxicos aus offiziellen Dokumenten gestrichen und durch „Pestizide“ ersetzt werden. Doch selbst dies geht einigen Parlamentarier:innen nicht weit genug: Nicht wenige der in der „ruralistas“ genannten, Partei übergreifenden Fraktion der Großfarmer:innen-Lobby würde lieber den Begriff „defensivo agrícola“ oder „defensivo fitossanitário“ einsetzen, was dem im Deutschen mittlerweile üblichen „Pflanzenschutzmittel“ am nächsten käme. „Wenn der Landwirt weiß, dass das Produkt giftig ist, verwendet er es entweder mit erhöhter Sorgfalt oder sucht nach einer anderen Möglichkeit, den Schädling, den Erreger oder die invasive Pflanze zu bekämpfen“, so Adilson D. Paschoal von der Abteilung für Entomologie der Landwirtschaftlichen Fakultät der Bundesuniversität von São Paulo, USP. Den Begriff „Gift“ durch harmlosere Begriffe zu ersetzen, hält Paschoal für gefährlich: „Das ist ein unzulässiger und einseitiger Rückschritt, der darauf abzielt, die wahre Natur dieser Produkte, nämlich ihre Giftigkeit, zu verbergen".
Und die Bolsonaro-Regierung schreitet derweil unermüdlich voran, Brasiliens Führungsrolle beim Agrotóxico-Verbrauch, ganz im Sinne der Konzerne und des auf rücksichtlosen Profit gepolten Agrobusiness, zu verfestigen: Neuesten Erhebungen des Universitätsprofessors Marcos Pedlowski der Universidade Estadual do Norte Fluminense in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeirowurden in den 36 Monaten der Bolsonaro-Regierung zum Stand 31.12.2021 insgesamt 1.558 neue Agrotóxicos von der Regierung zugelassen.
Um den Exportboom bei den meist ins Ausland exportierten Cash Crops wie Soja, Mais, Baumwolle, Kaffee und Orangensaftkonzentraten voranzutreiben, sprüht das Land, was das Zeug hält. Brasilien wurde binnen weniger Jahrzehnte zum Weltmeister beim Verbrauch von Agrarchemikalien. Seit in Brasilien im Jahr 2010 erstmals mehr als eine Million Tonnen Agrotóxicos in der Landwirtschaft versprüht wurden, trägt es den unrühmlichen Titel des größten Agrargiftverbrauchers weltweit. Und mit Tereza Cristina ist eine erklärte Lobbyistin in Sachen Agrotóxicos Landwirtschaftsministerin geworden. „Brasilien – das Paradies der Agrargifte“, so titelte das angesehene Portal Carta Capital bereits im Juni 2019.
Und dies hat Folgen. „Seit Anfang der 2000er Jahre wird viel genmodifiziertes Saatgut verkauft, das nicht stirbt, wenn man es beispielsweise großflächig mit Glyphosat spritzt. Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien ist total abhängig von Agrargiften“, konstatiert der Aktivist Alan Tygel von der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte („Campanha permanente contra os agrotóxicos e pela vida“). Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte bei einer Untersuchung fest, dass es in 13 Munizipien (644.746 Einwohner:innen laut letztem Zensus 2015), in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurde, 1.442 Fälle von Magen-, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs gab. In den 13 Vergleichsmunizipien (219.801 Einwohner:innen laut letztem Zensus 2015), wo statt agrarwirtschaftlicher eine vorwiegend touristische Nutzung stattfand), lag die Zahl der Krebsfälle bei 53. Daraus errechnet sich in agrarwirtschaftlich genutzten Munizipien eine Krebsrate von 223,65 je 100.000 Einwohner:innen, in vorwiegend touristisch genutzten Munizipien ergibt sich eine Krebsrate von 24,11 je 100.000 Einwohner:innen. Also in Munizipien, wo eifrig Pestizide gesprüht werden, liegt die Krebsrate statistisch um den Faktor 8 höher. Hinzu kommt: In Brasilien werden jedes Jahr Tausende von brasilianischen Bürgerinnen und Bürgern durch Agrargifte vergiftet. Die Zahl steigt dabei Jahr für Jahr an: 2007 lag sie bei 2.726 Fällen, 2017 schon bei 7.200, ein Anstieg um 164 Prozent.
Aber auch nicht-landwirtschaftlich genutzte Regionen sind von Agrargiften betroffen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen verspritzte Agrachemikalien als Rückstände auf den konsumierten Nahrungsmitteln verbleiben. Laut jüngsten vorliegenden Zahlen (2017/18) der Nationale Behörde für Gesundheitsüberwachung ANVISA wurden bei Stichprobenüberprüfungen 14 gängiger landwirtschaftlicher Produkte (Anvisa wählte aus: Ananas, Salat, Knoblauch, Reis, Süsskartoffeln, Rote Bete, Karotte, Chayote, Guave, Orange, Mango, Paprika, Tomate und Weintrauben) in 23% der Fälle die zulässigen Grenzwerte überschritten.
Ein weiterer äußerst kritischer Bereich ist der des Trinkwassers. Das Gesundheitsministerium prüft laut geltender Verordnung bislang auf 27 Stoffe, die teils schwere Gesundheitsgefährdungen bei Kontakt bewirken können. 16 dieser Substanzen gelten laut Anvisa als „extrem toxisch“ oder „hoch toxisch“, elf werden in Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Mißbildungen, hormonellen oder reproduktiven Störungen in Verbindung gebracht. Was die brasilianische Öffentlichkeit im April 2019 vor allem schockte: Im Jahr 2014 wurden in 75% der Tests Rückstände von Agrarchemikalien im Trinkwasser gefunden. 2015 stieg dieser Wert auf 84%, 2016 auf 88% und 2017 auf 92%.
Erster Adressat bei der Frage nach der deutschen Mitverantwortung für das massenhafte Ausbringen von Agrarchemikalien in Brasilien sind die beiden Schwergewichte im Pestizid-Weltmarkt: Zu den größten Verkäufern von Agrotóxicos in Brasilien zählen auch zwei Firmen aus Deutschland: BAYER und BASF. Der Autor hatte im Jahr 2016 eine Untersuchung der von BAYER und BASF in Brasilien zum Verkauf angebotenen Wirkstoffe in Pestiziden durchgeführt. Ziel war es herauszufinden, ob und welche Wirkstoffe BAYER und BASF in Brasilien vertreiben, die auf EU-Ebene laut EU-Pesticides-Database nicht zugelassen sind. Diese Untersuchung wurde drei Jahre später wiederholt. Das Ergebnis: Die Zahl der von BAYER in Brasilien vertriebenen, aber auf EU-Ebene laut EU-Pesticides-Database nicht zugelassenen Wirkstoffe hat von acht (2016) auf 12 (2019), bei BASF von neun (2016) auf 13 (2019) zugenommen. Auch eine neue Untersuchung von Inkota, Misereor und der Rosa-Luxemburg-Stiftung für das Jahr 2020 ergab bei den in Brasilien von BAYER und BASF verkauften Wirkstoffen weiterhin identische Daten.
Solange es in Brasilien nicht verboten ist, werden diese Stoffe dort von Konzernen wie BASF und BAYER vertrieben. Dies räumte BAYER schon Ende der 1980er Jahre ein. 1988 sagte der damalige Vorstandsvorsitzende Hermann J. Strenger: „In der Tat haben wir zum Beispiel in Brasilien nicht Gesetze wie in der Bundesrepublik.“ Dennoch sah er bei seiner Firma keine Doppelmoral walten, denn er ergänzte: „Aber wir stellen bei unseren Investitionen in Brasilien oder Indien, in den USA oder in Japan die gleichen Anforderungen wie hier.“ Über 30 Jahre später verkauft BAYER in Brasilien noch immer – genau wie BASF – Herbizide, Insektizide und Fungizide, die in Europa verboten sind.
Und dies rücksichtlose Verhalten trifft auch letztlich wieder uns Konsument:innen hier: Im Mai vergangenen Jahres hatte Greenpeace Früchte aus Brasilien auf Rückstände von Agrargiften getestet. Das Ergebnis: "Die Laboruntersuchungen der 70 Früchte belegen Rückstände von insgesamt 35 verschiedenen Pestizidwirkstoffen. Insgesamt viermal wurden die gesetzlichen Höchstmengen überschritten. Die analysierten Proben bestehen sowohl aus Schale, als auch aus Fruchtfleisch." Ein Beispiel unter vielen: mehr als 37 Prozent der nach Deutschland eingeführten Importe von Limetten kamen in dem Zeitraum von 2017-2020 aus Brasilien. Das waren knapp 36.200 Tonnen Limetten. Das brasilianische Agrobusiness bestritt in der Vergangenheit immer gerne, dass Rückstände von Agrargiften auf den Zitrus-Produkten zu finden seien, oft mit dem Argument, allenfalls befänden sich Rückstände auf der Schale, die ja aber nicht mitgegessen werde. Bleibt die Frage, ob bei jeder Caipirinha-Zubereitung, bei der die Limetten geachtelt werden, vorher hinreichend Sorge getragen wurde, die potentiellen Rückstände vorher angemessen entfernt zu haben?
Und die europäische Politik? Die setzt weiter auf beispielsweise das EU-MERCOSUR-Freihandelsabkommen. Und das hat auch mit Agrargiften etwas zu tun. Greenpeace jedenfalls warnt: "Wird das geplante EU-Mercosur Abkommen abgeschlossen, sinken die Zölle auf Pestizide. Dies dürfte deren Absatz und den giftigen Handel noch steigern." Bleibt als erster Schritt zu hoffen, dass das Abkommen nicht zustande kommt, und als zweiten Schritt, dass das im bundesdeutschen Koalitionsvertrag der "Ampel"-Koalition verabredete Aus für Export von in Deutschland verbotenen Agrarchemikalien wirklich kommt. Davon unberührt bleibt natürlich die Frage der fortsetzenden Produktion der gleichen Wirkstoffe in Brasilien selbst, beispielsweise durch die Niederlassungen der angesprochenen deutschen Konzerne. Es bedarf eines grundlegenden Endes der auf Profit ausgerichteten Doppelmoral. Und es bedarf einer agrarökologischen Wende, in Brasilien und Deutschland und überall. Es gibt noch viel zu tun.