Agrarreform in Brasilien: Enttäuschende Zwischenbilanz
So das Fazit einer Untersuchungsmission der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN und des weltweiten Kleinbauernnetzwerk La Vía Campesina im Juni 2004. Wesentliche Hindernisse bei der Umsetzung des Rechts auf Nahrung sind die Parteilichkeit der Justiz, die Ineffizienz staatlicher Institutionen sowie das Festhalten der Regierung an dem Modell der marktgestützten Landreform und einem exportorientierten Landwirtschaftsmodell.
"Wir wissen heute nicht, was wir morgen essen sollen", sagt Luísa den Besuchern von FIAN und La Vía Campesina. Die Anführerin der rund 280 Familien, die 1996 das 300 Hektar umfassende brachliegende Landstück des Engenho Prado besetzten, kämpft mit den Tränen. Zweimal sind sie im vergangenen Jahr durch private "Sicherheitskräfte" des Großgrundbesitzers Joao Santos und die Militärpolizei von ihrem Land vertrieben worden. Der für seine Brutalität berüchtigte Einsatzleiter Colonel Matos hatte laut Luísa schon am 31. Oktober 2003, dem Vorabend der letzten Vertreibung, das örtliche Krankenhaus angewiesen, die Aufnahme von verletzten Landlosen vorzubereiten. Tatsächlich wurden mehrere Menschen schwer verletzt. In den folgenden zwei Wochen wurden sämtliche Felder, Behausungen und alles Sonstige zerstört und geplündert, was von der ersten, noch brutaleren Vertreibung am 3. Juli übrig geblieben war. Seither lagern die Familien in notdürftigen Hütten unter schwarzen Plastikplanen an einem Straßenrand 10 km von Engenho Prado entfernt. Sie haben alles verloren. Die traurige Ironie der Geschichte: Noch im vergangenen Jahr hatte die Regierung Engenho Prado in den Medien als Erfolgsmodell für nachhaltige Hungerbekämpfung angepriesen. Über die Selbstversorgung hinaus belieferten die Familien zehn umliegenden lokale Märkte mit Nahrungsmitteln.
Parteiliche Justiz und ineffiziente Verwaltung
"Wir können in vier Jahren nicht alle Fehler der letzten 500 Jahre wiedergutmachen", erklärt Präsident Lula in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País vom 20. Juni 2004. In der Tat illustriert der Fall Engenho Prado auf traurige Weise die Einflussgrenzen der Zentralmacht gegenüber den Großgrundbesitzern: Zwei brasilianische Staatspräsidenten, zunächst Fernando Henrique Cardoso und zuletzt Lula, haben Enteignungsdekrete zu Gunsten der Gemeinschaft unterzeichnet. In der Praxis blieben sie wirkungslos, weil der ehemalige Besitzer Santos Einspruch einlegte und besonders auf lokaler Ebene auf das Wohlwollen der Gerichte setzen konnte. Aktuell liegt die Entscheidung über den Fall beim Obersten Gerichtshof in Brasilia, wo die Chancen besser stehen. FIAN und La Vía Campesina haben den Gerichtspräsidenten Nelson Jobim um einen raschen Prozessbeginn gebeten.
Für Flávio Schieck Valente, den brasilianischen Berichterstatter für die Rechte auf Nahrung, Land und Wasser, sind die Parteilichkeit der Justiz und die Trägheit der staatlichen Institutionen die wichtigsten Hindernisse für eine umfassende Agrarreform: "Das Problem besteht darin, dass die Staatsmaschinerie für diese Herausforderung nicht gut genug geölt ist. Innerhalb der konservativ dominierten Staatsorgane gibt es großen Widerstand gegen die Agrarreform."
Enttäuschende Zwischenbilanz
Doch so schwer das strukturelle Erbe der Vergangenheit alle progressiven Reformversuche belastet: Für die enorme Verlangsamung der Landumverteilung gegenüber der Vorgängerregierung Cardoso kann es als Erklärung kaum herhalten. Im Gespräch mit FIAN bezeichnete Marcelo Resende, bis Mitte vergangenen Jahres Leiter von INCRA, 2003 als das "schwarze Jahr der Agrarreform". Und 2004 sieht es bislang nicht besser aus. Nach dem Nationalen Agrarreformplan (PNRA) der Regierung vom November letzten Jahres sollen bis Ende 2006 etwa 400.000 Familien Land erhalten, für 2004 sind 115.000 Familien vorgesehen. Wie Agrarreformminister Miguel Rossetto gegenüber FIAN und La Vía Campesina einräumen musste, waren bis Juni erst 17.000 Familien angesiedelt worden. Somit ist abzusehen, dass die Zahlen auch in diesem Jahr hinter den selbst gesetzten Zielen deutlich zurück bleiben werden. Dabei ist schon das Ziel niedrig gesteckt: Nach Schätzungen der Landlosen-Bewegung MST warten derzeit über 200.000 Familien in Zeltlagern (acampamentos) auf ihre Ansiedlung. Insgesamt wird die Anzahl landloser Bauernfamilien auf etwa 4,5 Millionen geschätzt. Dabei werden 166 Millionen Hektar, rund 44 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, nicht produktiv genutzt. Nach der Verfassung könnten sie gegen Entschädigung enteignet und an die Landlosen umverteilt werden.
Landreform über den Markt?
Über die Parteilichkeit der Justiz und die Ineffizienz der Verwaltung hinaus machen FIAN und La Vía Campesina auch die Grundausrichtung der Agrarreform für die schleppende Umsetzung verantwortlich: "Auch die neue Regierung scheint den großen Konflikt mit den Großgrundbesitzern zu scheuen", so Sofía Monsalve, die Koordinatorin der Agrarreformkampagne von FIAN International und Leiterin der Untersuchungsmission. Ein Indiz dafür ist die Ausweitung des marktgestützten Landreformprogramms Crédito Fundiario. Anders als "klassische" Agrarreformen verzichtet dieses von der Weltbank entworfene und mitfinanzierte Programm auf Enteignungen und setzt auf das nachfrageorientierte Prinzip des "willing buyer - willing seller". Mithilfe einer flexiblen Kombination aus Krediten und Subventionen sollen Zusammenschlüsse von landlosen Bauern dem verkaufswilligen Grundbesitzer Ländereien abkaufen und notwendige Erstinvestitionen zu deren Bewirtschaftung tätigen. Nur wer die zum Landkauf aufgenommenen Kredite zuzüglich Zinsen innerhalb einer bestimmten Frist zurückzahlt, darf das Land behalten. Über das 1996 gestartete Pilotprojekt der Weltbank, Cédula da Terra, waren auf diese Weise 15.000 Familien zu Land gekommen. Aufgrund überhöhter Preise, marginaler Lage und schlechter Qualität der Böden sind allerdings nur wenige Familien in der Lage, die aufgenommenen Kredite zurück zu zahlen. Damit droht ihnen der Verlust des Landes und mithin größere Armut als zuvor. Über das leicht modifizierte Programm Crédito Fundiario sollen nun bis Ende 2006 rund 130.000 Familien angesiedelt werden. Ob es ihnen anders ergehen wird als bei Cédula da Terra, ist sehr fraglich. Überdies beansprucht das Programm einen Großteil der Ressourcen des Ministeriums für ländliche Entwicklung, die für die Agrarreform dringend gebraucht würden.
Eine Landwirtschaft für Export und Schuldendienst
Weitere Grundprobleme bleiben der Schuldenberg und, damit eng verbunden - das Festhalten an einer auf Export und Monokulturen basierenden Landwirtschaft. Laut Flávio Valente bringt Brasilien zur Rückzahlung der externen und internen Schulden zurzeit jährlich etwa fünfzig Milliarden Dollar auf. Zum Vergleich: Lediglich 2,5 Milliarden Dollar werden jährlich in Sozialprogramme und Infrastruktur investiert. Nicht weniger gravierend ist eine andere Konsequenz: Der Schuldendienst erfordert Devisen, also eine besondere Förderung des Exports von Soja, Zucker, Eukalyptus u.a. Deren Ausbreitung geht jedoch seit jeher mit einem deutlichen Rückgang der Anbauflächen für die wichtigen Nahrungsmittel Reis, Bohnen, Maniok und Weizen einher. Leidtragende sind meistens KleinbäuerInnen, die dem ökonomischen Druck, mitunter auch handfester Gewalt durch "Sicherheitskräfte" von Großgrundbesitzern weichen müssen. Befürwortern dieser Entwicklung, wie etwa dem Landwirtschaftsminister Roberto Rodriguez, einem Zuckerbaron und Vertreter der Agroindustrie, ist die Agrarreform ein Dorn im Auge.
Null-Hunger - nicht ohne strukturelle Veränderungen
Die Zahl der Hungernden von offiziell 44 Millionen auf null zu senken, war das erklärte Hauptziel der Regierung Lula. Nicht zuletzt dieses Versprechen hatte Lula die überwältigende Zustimmung der Bevölkerung und die Unterstützung der sozialen Bewegungen gesichert. Manches ist seither geschehen: Von den neun Millionen betroffenen Familien erhält bereits die Hälfte regelmäßige Zahlungen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Allerdings reichen die monatlichen 15-20 Dollar pro Familie bei weitem nicht aus. Zu kurz greift das Programm aber vor allem deshalb, weil es die Ursachen des Hungers nicht berührt. Die Hungernden bleiben letztendlich Almosenempfänger der Regierung, anstatt in die Lage versetzt zu werden, sich selbst zu ernähren. "Die Regierung muss begreifen, dass es ein Menschenrecht ist, sich selber ernähren zu können" erklärt Valente. Die Agrarreform sei dazu ein zentrales Instrument. Valente betont, dass Brasilien zur Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung auf internationalen Rückenwind angewiesen ist. Eine Schuldenerleichterung und gerechtere Agrarhandelsregeln sind für ihn unerlässliche Voraussetzungen für eine nachhaltige Bekämpfung des Hungers auf breiter Front. Sie zu erfüllen liegt vor allem in der Verantwortung der reichen Industrieländer. Die Herausforderung der brasilianischen Regierung besteht darin, sich extern für solche Verbesserungen des internationalen Umfelds einzusetzen und intern eine andere Landwirtschaftspolitik umzusetzen. Valente hält einen solchen alternativen Weg nur dann für möglich, wenn die Regierung mehr als bisher auf die sozialen Bewegungen eingeht und deren Mobilisierung gezielt in eine andere Politik ummünzt. "Ich glaube, dass die Bevölkerung diesen Weg mittragen würde, auch im Bewusstsein der damit verbundenen Risiken. Mit Unterstützung der Bevölkerung kann Brasilien eine starke Bewegung anführen. Dass Lula das bisher nicht getan hat, ist sein größtes Versäumnis."