Abgeordnetenkammer in Brasília setzt Umwelt weiter unter Druck
Von Aline Pereira und Christian Russau
Am gestrigen Donnerstag hat die Abgeordnetenkammer in Brasília die PL 3729/2004, das sogenannte „Generalgesetz zur Umweltlizenzierung“, mehrheitlich angenommen, das im Kongress seit 17 Jahren diskutiert wird. Der Gesetzentwurf geht somit in den Senat, wo er in einem Verfahren unter Dringlichkeit abgestimmt wird. Falls auch der Senat diesem Gesetzesentwurf zustimmt, würde das neue Gesetz das in Brasilien ohnehin schon stark unter Druck geratene Umweltschutzsystem weiter schwächen.
Besonders besorgniserregende Konsequenzen für die Umwelt lägen in den folgenden Maßnahmen: Das bisherige dreistufige Umweltgenehmigungsverfahren aus vorläufiger Lizenz („licença prévia“), Niederlassungslizenz („licença de instalação“) und Betriebsgenehmigung („licença de operação“) soll reformiert werden. Dazu sollen die Genehmigungen zusammengefasst werden, als Allheilmittel zur beschleunigten und „ent-bürokratisierten“ Genehmigung soll eine einzige Genehmigung, die „licença única“, alles richten. Der Gesetzesentwurf sieht des Weiteren vor, dass keine Umweltverträglichkeitsanalysen für Projekte in Indigenen- und Quilombola-Gebieten, die noch nicht offiziell als solche anerkannt wurden, vorgenommen werden müssten. Zudem sollen sich die Umweltverträglichkeitsanalysen künftig nur noch auf das Projektgebiet selbst beschränken, daran angrenzende Gebiete mit eventuellen Auswirkungen müssen nicht mehr mit in Betracht gezogen werden. Schon bei den Dammbrüchen von Bento Rodrigues und Brumadinho hatte sich das Problem der Unterschätzung der betroffenen Umgebungs- und Einflussgebiete eines Projektes deutlich gezeigt.
Das Gesetzesprojekt sieht zudem vor, dass es für viele wirtschaftliche Aktivitäten, wie beispielsweise bei landwirtschaftlichen Aktivitäten, keiner Umweltverträglichkeitsanalyse mehr bedürfe. Laut dem Bundesabgeordneten Nilton Tatto würde dies verheerende Konsequenzen zeitigen: „In der Praxis bedeutet dies, dass jedes Unternehmen im Bereich der Landwirtschaft und Viehzucht, unabhängig vom Standort und den möglichen Auswirkungen und Risiken, die es verursachen kann, nicht mehr genehmigungspflichtig ist. Zum Beispiel erfordert der Bau einer Übertragungsleitung, die ein noch nicht demarkiertes indigenes Land oder ein noch nicht deklariertes Quilombola-Territorium durchquert, keine Konsultation mit diesen Bevölkerungsgruppen oder eine Lizenzierung“.
Auch sämtliche von den Umweltbehörden als vorab unbedenklich eingestuften Projekte bedürften dem Vorhaben zufolge keiner Umweltlizenzierung mehr. Auch der Bereich der öffentlichen Hand, wo es um den Bau z.B. sanitärer Grundversorgung geht oder um den Bau von Straßen und Häfen, die erhebliche Umweltauswirkungen haben können, bräuchte demnach kein obligatorisches Umweltlizenzierungsverfahren mehr zu durchlaufen.
Raul do Valle vom WWF Brasilien sagte im Interview mit Rádio Brasil Atual, dass solche Maßnahmen das alltägliche Leben der Menschen in Brasilien in Bezug auf Umwelt verunsichern werden, da die Auswirkungen von Arbeiten und Verfahren auf die Umwelt, egal ob klein oder groß, nicht mehr lizenziert werden. Aber selbst für Investor:innen und Unternehmer:innen wäre das neue Gesetz nicht von Vorteil, so Raul do Valle. „Das könnte eine immense Rechtsunsicherheit für diejenigen bedeuten, die im Land investieren wollen, insofern, dass wir 27 verschiedene Gesetze haben werden, weil jeder Bundesstaat in der Lage sein wird, seine eigenen Regeln zu verlangen, wie er es für richtig hält, ohne eine minimale nationale Basis". Doch auch aus Europa könnte Gegenwind kommen. Denn erst vor Kurzem hatten sich angesichts der hohen Entwaldungsraten in Amazonien europäische Supermarktketten zu dem ungewöhnlichen Schritt zusammengefunden, in einem offenen Brief an den brasilianischen Nationalkongress Maßnahmen gegen die Entwaldung zu fordern, andernfalls könnte dies dazu führen, dass die europäischen Supermarktketten brasilianische Produkte aus dem Sortiment streichen würden. Der gestern vom Abgeordnetenhaus verabschiedete Gesetzesentwurf deutet darauf hin, dass der systematische Angriff auf die Umwelt in Brasilien erstmal weitergeht.