„Unfall“ bei Einsatz von Agrargiften in Goiás
Brasilien gilt seit drei Jahren als „Weltmeister“ im Verbrauch von Agrargiften. Der Vebrauch hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Damit macht Brasilien 20% des weltweiten Verbrauchs von Agrargiften aus. Allein 2011 stieg der Verbrauch um 16%, es wurden etwa 853 Millionen Liter pulverisierte Agrargifte verwendet (vgl. auch BfdW Bericht Ernährungssicherung | Mai 2012). Immerwieder kommt es beim Einsatz der Mittel zu „Unfällen“. So auch am 3. Mai 2013 in Rio Verde, Goiás. Ein Flugzeug versprühte Agrargifte versehentlich über einer Schule, über zehn Kinder und Angestellte wurden vergiftet. „Unfälle“ solcher Art passieren regelmäßig, zu Zeiten der Besprühung aus der Luft leiden viele Gemeinden unter „Agrargiftebädern“.
Schon seit April 2011 kämpft ein Zusammenschluss von 60 Organisationen, Instituten, NGOs und Gewerkschaften mit der Campanha contra os Agrotóxicos e pela Vida (Kampagen gegen Agrargifte und für das Leben) gegen den Einsatz von Agrargift-Sprühflugzeugen. Nur 30% der mit dem Flugzeug versprühten Agrargifte erreichen überhaupt ihr Ziel. Anlässlich des jüngsten Vorfalls veröffentlichte der Zusammenschluss nun eine öffenlicht Stellungnahme, in der erneut dazu auffordert, die Besprühung aus der Luft zu verbieten. Laut diesem Dokument könne man das Ereignis in Rio Verde nicht mehr als Unfall bezeichnen, da es sich nicht um einen Einzefall handle. Die Situation werde noch dadurch verschärft, dass ein von der IBAMA bereits verbotenes Agrargift eingesetzt worden sei. Die öffentliche Erklärung findet sich hier.
Tatsächlich reiht sich der Vorfall ein in ein Klima, in dem das exportorintierte Agrarbusiness eindeutig das Geschehen dominiert. Das bedeutet den Einsatz von gentechnisch verändertem Saatgut sowie steigenden Verbrauch von Agrargiften. Die jüngste Inflation der Lebensmittelpreise in Brasilien verdeutlicht die Stellung des Agrarbusiness und die brasilianische Agrarpolitk einmal mehr. Im März kam es zu einer Steigerung des Tomatenpreises um 22, 13%, Weizenmehl wurde um 51,3 % teurer. Dies ist laut MST vor allem auf die brasilianische Agrarpolitik zurückzuführen, die den Export des Agrarbusiness der Produktion für den Eigenbedarf im Land vorzieht. So zeigen Daten der NGO Abra (Associação Brasileira de Reforma Agrária, Brasilianischer Verband zur Agrarreform), dass zwischen 1990 und 2011 die Flächen zur Produktion der Grundnahrungsmittel um bis zu 35% gesunken ist, während die Anbauflächen von Zuckerrohr und Soja für den Export 122% und 107% gestiegen seien (vgl. Coutinho Júnior, 25.04.2013). Eine Reaktion der Regierung auf die steigenden Lebensmittelpreise ist nun, Nahrungsmittelspeicher anzulegen und diese im Falle der Infaltion auf den Markt zu bringen und so die Ernährungssicherung im land zu gewährleisten. Viel wichtiger allerdings wäre die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die immerhin 70% der verbrauchten Nahrungsmittel im Land produziert. Laut Guilherme Delegado vom Ipea (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada) setzt die Regierung jedoch vor allem auf das Agrarbusiness. Die momentane Form der angebotenen Unterstützung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft führe eher dazu, dass die Produzent*innen keine Grundnahrungsmittel mehr produzieren, sondern auf dem internationalen Markt gehandelte Rohstoffe anbauten (vgl. Coutinho Júnior, 25.04.2013). Auch laut CPT-Bericht (siehe unten) ist der intensive Verbrauch von Agrargiften Konsequenz der Produktionsform des Agrarbusiness, bei der Entwaldung und die Zerstörung von Biodiversität in Kauf genommen werden für Monokulturen und Commodities.
An diesen Entwicklungen zeigt sich, dass die Ernährungssicherung der brasilianischen Bevölkerung so auf Dauer nicht gewährleistet werden kann. In einem kürzlich erschienen Artikel betont Jean Ziegler, Soziologe und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, dass „Brasilien eine 180-Grad-Wende vollziehen müsste“ (Ziegler, 22.05.2013), um die Armut und den Hunger zu bekämpfen. Das Armutsbekämpfungsprogramm Bolsa Famíla sei ein wichtiger und guter Schritt im Sinne einer humanitären Hilfe, wie sie auch die UNO anbietet, reiche aber lämgst und vor allem langfristig nicht aus. Die u.a. durch Bolsa Famíla erreichte Reduzierung von Hunger sei fragil, weil sie im Grunde auf einem assistenzialistischen Ansatz beruhe. Für eine nachhaltige Lösung müsse man in die familiäre und kleinbäuerliche Landwirtschaft investieren. Auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) konstatiert, dass dies der effizienteste Weg zur Hungerbekämpfung sei.