Die Tecnobrega-Szene mischt den Norden Brasiliens popmusikalisch auf
Der altersschwache VW-Bus schiebt sich durch den dichten Verkehr auf der Avenida Presidente Vargas. Er wirkt mit seinen auf dem Dach befestigen Lautsprechern wie eine Schildkröte, die sich im hektischen Blechstrom behäbig ihren Weg sucht. Der Bus dreht eine weitere Runde um den Praça da República im Zentrum der Metropole Belém, wo der neoklassizistische Prunkbau des Teatro da Paz vom längst verblassten Kautschukboom am Amazonas zeugt. Die sich beständig wiederholende Werbung für eine große Tecnobrega-Party dröhnt über den Platz, und er wird nicht der letzte Ort sein, der heute noch beschallt wird.
In der ganzen Stadt trifft man auf Autos, Fahrräder und Handwagen, die unentwegt mit ihren meist überdimensionierten Lautsprechern die neuesten Tecnobrega-Hits und Werbejingles für die anstehenden Events herausposaunen. Aber nicht nur deswegen stößt man in der Metropolregion Belém mit ihren zwei Millionen EinwohnerInnen ständig auf dieses populäre Musikgenre. In jüngerer Zeit genießt Tecnobrega auch ein zunehmendes internationales Interesse, was vor allem den ungewöhnlichen Vertriebswegen, dem Fehlen jeglicher Copyrights und einer stärkeren Einbindung der vormals von der Musikindustrie nur als passive KonsumentInnen gedachten HörerInnen zuzuschreiben ist.
Rasend schnell ausdifferenziert
Die Bezeichnung Brega lässt sich am besten als »kitschig« ins Deutsche übertragen und beschreibt den bei den unvorbereiteten HörerInnen hinterlassenden Eindruck ganz passend. Deshalb ist es auch trotz der großen Beliebtheit nicht schwer, in Belém jemanden zu finden, der gegen Tecnobrega wettert und stattdessen den großen musikalischen Reichtum Brasiliens von Samba über Bossa Nova bis Tropicália beschwört. Dabei beruht Tecnobrega durchaus auf den musikalischen Traditionen von Pará, einem der ärmsten Bundesstaaten im Norden Brasiliens.
Bereits Ende der 1970er eroberte Brega den Musikmarkt Brasiliens, wobei damit weniger ein fest umrissenes musikalisches Genre gemeint war, sondern vor allem romantische, von kitschigen Stimmungen und Songtexten getragene Musik. In den 1990ern schlug Brega in Pará dann durch das Aufgreifen lokaler traditioneller Rhythmen als Brega-Pop musikalisch einen eigenständigeren Weg ein. Besonders Carimbó, eine Fusion indigener, afrikanischer und portugiesischer Einflüsse, sowie der daraus entstandene Lambada hielten nun Einzug. Bestehen blieben die kitschige Stimmung und die Texte, die auch im Tecnobrega meist simpel gehalten sind und von den großen Dramen der Liebe erzählen.
Tecnobrega war gerade in seiner frühen Entstehung ab der Jahrtausendwende kaum mehr als ein durch elektronische Beats modernisierter Brega-Pop. Doch in den wenigen Jahren seiner Existenz hat sich das Genre rasend schnell ausdifferenziert und weiterentwickelt. So haben sich Subgenres gebildet, in denen die üblichen Themen insbesondere sexuell expliziten Lyrics und teilweise auch der Beschäftigung mit dem Lebensalltag Platz gemacht haben. So ist Tecnobrega längst zu einem Überbegriff geworden, der verschiedene Ausformungen wie Electro Melody oder Cybertecno umfasst.
Außerhalb Nordbrasiliens erlangt Tecnobrega seine Faszination aber weniger über die Musik, die in ihrer Mehrheit kaum mehr als Electro-Pop mit lateinamerikanischen Rhythmen ist, sondern über die Produktions- und Vertriebswege. Gerade die GegnerInnen der aktuellen Copyright-Regelungen, die VerfechterInnen des Open Business Modells und auch einfach nach Auswegen aus der Krise der Musikindustrie Suchende reagierten enthusiastisch, insbesondere nachdem durch den dänischen Dokumentarfilm »Good Copy Bad Copy« (2007) Tecnobrega international bekannter wurde.
Tecnobrega kommt ohne Urheberrecht aus und kann somit frei und von allen weiterverbreitet werden. Gerade deswegen hat es die Tecnobrega-Szene geschafft, in Belém ein Wirtschaftsfaktor zu werden und einer wachsenden Zahl von Personen den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Nicht selten wird Tecnobrega gerade in Europa und den USA zum Vorreiter eines neuen Wirtschaftsmodells für die Musikindustrie verklärt und die AkteurInnen zu Piraten der Moderne geadelt. Doch dabei wird ausgeblendet, in welchem Umfeld das Modell Tecnobrega entstand. Denn es fand eher eine geschickte Anpassung an die lokalen Bedingungen der Musikproduktion und des Vertriebs statt, als ein ideologisch untermauerter Kampf gegen das geistige Eigentum. Dass der auch ökonomische Erfolg des Tecnobregea die VerfechterInnen des Urheberrechts trotzdem in Erklärungsnöte bringt, ist eine erfreuliche Nebenfolge.
Copy, Copy, Copy
Original-CDs und DVDs sind in Belém für die absolute Mehrheit der Bevölkerung kaum erschwinglich. Nicht selten wären Preise zu zahlen, die nur knapp unter dem Preisniveau Deutschlands liegen. Darum werden überall Raubkopien angeboten. Der brasilianische Staat hat zwar in den letzten Jahren dem im ganzen Land blühenden Schwarzmarkt den Kampf angesagt, aber geführt wird er weitgehend nur in den Zentren des Südens. Dort werden die StraßenhändlerInnen immer wieder von der Polizei vertrieben, in Belém können sie ihrem Geschäft hingegen weiterhin ungestört nachgehen. Die Produzenten des Tecnobrega erkannten das Problem der Unverkäuflichkeit von regulär vertriebener Musik, ihnen fehlten aber auch einfach die Mittel, um im klassischen Verständnis der Musikindustrie von ihrem Produkt leben zu können.
Tecnobrega kommt fast ausnahmslos aus den Armenvierteln und den Vororten Beléms, die ein besonders niedriges Einkommensniveau aufweisen. Bis heute ist Tecnobrega in diesen Bairros fest verankert und wird dort in einfachen Heimstudios, sprich am PC in Wohnzimmern und Garagen produziert. Die fertigen Songs werden an die bereits bestehenden Raubkopierstrukturen weitergereicht, die sie vervielfältigen und an die StraßenhändlerInnen, die Camelôs, weiterverkaufen. Als CD-Rs mit einfachen Covern werden sie für wenige Reais (umgerechnet 1 bis 2 Euro) überall angeboten.
Man braucht nur einmal die hunderte Meter langen Reihen von Tischen im alten, am Hafen gelegenen Bairro Comercial entlanglaufen, um die gigantischen Ausmaße des informellen CD-Marktes erahnen zu können. Dort, wo Belém noch seine langsam zerfallende koloniale Bausubstanz besitzt und man spätestens an den von Mangobäumen gesäumten Alleen weiß, warum die Stadt in Brasilien auch Cidade das Mangueiras (Stadt der Mangobäume) genannt wird – dort also reihen sich unzählige HändlerInnen aneinander, die ihre Auswahl an Tecnobrega präsentieren. Viele beschränken sich allein darauf, andere haben auch Raubkopien aktueller Filme und Musikalben im Angebot. Doch versichern einem alle im Gespräch, Tecnobrega wäre ihre Haupteinnahmequelle. Zudem hätte man damit auch in Zukunft keine Probleme zu erwarten, da die Vervielfältigung ja legal und erwünscht sei.
Das Netzwerk der RaubkopiererInnen und StraßenhändlerInnen übernimmt also sowohl die Distribution als auch die Promotion der Tecnobrega Songs. Dabei baut es auf die illegalen Pirateriestrukturen in Belém auf, ermöglicht den HändlerInnen aber ein legales (Teil-)Geschäftsfeld. Das Raubkopienetzwerk reicht bis in die benachbarten Bundesstaaten Amazonas und Amapá sowie in Teile des Nordosten. Ohne diese mafiösen Strukturen hätte Tecnobrega aus den Heimstudios heraus niemals eine solche Verbreitung erfahren. Einerseits macht man sich diese Strukturen der organisierten Kriminalität zunutze, andererseits hat man sich auch der Macht der Raubkopiernetzwerke gebeugt, bei denen jegliche Romantisierung unangebracht ist. Pro Monat finden so rund 50 Neuveröffentlichungen ihren Weg zu den HörerInnen, die allein im Großraum Belém monatlich 300.000 CDs erwerben, was den größeren StraßenhändlerInnen ein überdurchschnittliches Einkommen beschert.
Mit der voranschreitenden Verbreitung von Breitband-Internetanschlüssen in Brasilien nimmt auch die Verteilung über das Web rapide zu. Hier sind besonders die Tecnobrega-Fans selber aktiv, die das Produkt über soziale Netzwerke, Tauschbörsen und Instant Messenger verbreiten. Die HörerInnen stehen also nicht mehr am Ende der Verwertungskette, sondern spielen eine zentrale Rolle im Tecnobrega-Netzwerk. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass die enthusiastischsten Fans sich zu so genannten Equipes zusammengeschlossen haben. Mit festem Teamnamen, eigenen Logos und teilweise auch eigenen Songs, die ihnen gewidmet wurden oder die sie in Auftrag gegeben haben, spielen sie besonders bei den Partys eine bedeutende Rolle.
Aparelhagem de Som
Ohne die riesigen Partys mit ihren gigantischen Aparelhagems, den Sound Systems, wäre das Phänomen Tecnobrega nicht zu verstehen – und es würde auch nicht funktionieren. Denn bis zu zu einer Beteiligung an einer Party haben die KünstlerInnen, die oft auch die Songs selbst komponiert haben, noch keinen einzigen Centavo verdient. Erst wenn sie als MusikerIn für Konzerte oder als DJ für ein Sound System gebucht werden, erzielen sie Einnahmen. Allerdings zielt im Tecnobrega auch alles auf diese Events ab, erst dort verdient die Mehrheit der Beteiligten. Die ansonsten in der Musikindustrie vorherrschenden Geschäftsmodelle werden somit auf den Kopf gestellt. Gleichzeitig erlaubt die freie Vervielfältigung und die Möglichkeit der freien Weiterverarbeitung der Musik erst die enorme wirtschaftliche und künstlerische Expansion.
Die unglaublich erscheinende Anzahl von mehr als 3.000 Partys und tausend Konzerten pro Monat allein in der Region Belém verdeutlicht eindrucksvoll die Ausmaße von Tecnobrega. Auch wenn vereinzelt in den Clubs der Mittelschicht im Stadtzentrum Tecnobrega-Partys stattfinden, die echten, großen Events finden weiter draußen statt. Um sie zu erreichen, muss man einer der großen Ausfallstraßen folgen, deren Zustand mit jeglichem absolvierten Kilometer schlechter wird. Am Straßenrand drängen sich einfache Hütten zwischen die Gated Communities der Wohlhabenden, die wie Hochsicherheitsgefängnisse aus der flachen Landschaft ragen. Spätestens mit dem Untergang der Sonne, die mit äquatorialer Zuverlässigkeit um 18 Uhr ihren Dienst quittiert, versucht kein Auto aus Angst vor Überfällen langsam zu fahren oder gar unnötig anzuhalten.
Belém ist nicht nur das Tor zum Amazonas, sondern auch ein Nadelöhr des internationalen Drogenhandels. Wie ein alles erstickender Schleier lastet seit Jahren die alltägliche Gewalt auf der Stadt, die im Gegensatz zum großen Konkurrenten Manaus nicht von der Regierung in Brasília mit Sonderwirtschaftszonen ausgestattet wurde und Industrie anzieht. So verlassen besonders die besser Qualifizierten die Stadt gen Süden und fliehen vor der selbst für brasilianische Verhältnisse hohen Gewalt- und Kriminalitätsrate. Bei rund tausend Morden pro Jahr, die oft wegen weniger erbeuteter Reais verübt werden, ist dies nur allzu verständlich – wenn man es sich denn leisten kann.
Für die BewohnerInnen von Bairros wie Tapanã und Bengui bleibt das Weggehen ein unerfüllbarer Traum, den sich auch die Bevölkerung der angrenzenden Städte Ananindeua oder Marituba kaum erfüllen können wird. Viele der dort Wohnenden pendeln täglich in den öffentlichen Bussen nach Belém, wo die Mietpreise für sie unerschwinglich, sie aber als billige Arbeitskräfte unersetzlich sind.
Doch in diesen Armenvierteln schlägt das Herz des Tecnobrega. Die Partys der Sound Systems sind aufgrund ihrer riesigen Lightshows schon von weitem sichtbar. Die aufgemotzten Aparelhagems stehen in auffälligem Kontrast zu ihrer ärmlichen Umgebung. Zu den großen Soundsystems wie Super Pop, Ciclone oder Tupinambá kommen bei Topevents schnell zehntausend Leute zusammen. Mit ihren riesigen Lasershows, Monitorwänden und der Pyrotechnik wirken die Aparelhagems wie futuristische Raumschiffe, deren unumstrittener Star der DJ ist. Gemeinsam mit den Equipes sorgen sie zuverlässig für eine ekstatische Stimmung. Keins der großen Soundsystems kommt ohne Equipes aus, und diese erwarten für ihren Einsatz umso größere Showeffekte. Die Mitglieder der Equipes sehen sich nicht nur als konsumierende Fans, sondern als integraler Bestandteil des Tecnobrega. Teilweise werden sie in geringem Maße auch am erzielten Gewinn beteiligt. Die Zusammenschlüsse sind für die regelmäßigen PartygängerInnen zudem ein wirksamer Schutz gegen die auch auf und besonders nach den Partys grassierende Gewalt.
Doch nur eine Handvoll der hunderten von Soundsystems erreicht eine solche Größe. Zu hoch sind die Investitionskosten von bis zu 80.000 Euro und zu erbittert der ständige Konkurrenzkampf um die spektakulärste Show. Sowohl die Aparelhagems als auch die Partyveranstaltungen sind fest in der Hand von nur einigen Wenigen, die Neulinge mit Preisdumping und manchmal sogar mit in Auftrag gegebenen Überfällen aus dem Geschäft drängen. Zu lukrativ scheint der Markt der Tecnobrega-Parties, der zusammen mit den Konzerten monatlich rund 6,5 Millionen Reais (knapp 3 Millionen Euro) umsetzt und allein durch direkte Jobs 6.000 Menschen Arbeit gibt. Obwohl schätzungsweise nur ein Fünftel der Tecnobrega-Unternehmen offiziell angemeldet sind, erzielt die Stadt Belém durch sie enorme Steuereinnahmen. Trotzdem ist das Interesse an einer Förderung gering, was sicherlich auch an der Herkunft von Tecnobrega liegt. Auch die großen Radiosender haben die Musik lange Zeit nicht gespielt und nehmen bei der Verbreitung von Tecnobrega bis heute nur eine untergeordnete Rolle ein.
Da die Investitionskosten hoch sind, erreichen aber auch die Besitzer der Aparelhagems und die Veranstalter meist nur einen bescheidenen Wohlstand innerhalb der Armenviertel. Dabei sind diese noch vor den populärsten DJs vergleichsweise die Topverdiener. Deutlich schwächer ist die Position der MusikerInnen, für die Tecnobrega vielfach nur ein Zuverdienst ist. Das liegt auch an den Sound Systems, welche die Bands von den großen Events verdrängt haben. Die MusikerInnen müssen nun verstärkt in den ländlichen Raum ausweichen, wo es nur kleine Aparelhagems gibt. Aber auch diese Parties ziehen regelmäßig einige hunderte Menschen an. Die Festas in der Peripherie haben eine lange Tradition, nur spielten früher dort die Brega Pop Bands, was den MusikerInen ein gutes Auskommen sicherte. Mit der zunehmenden Technisierung übernahmen die Sound Systems den urbanen Raum.
Man(n) ist erfolgreich
Auffällig ist das fast völlige Fehlen von Frauen als Veranstalterinnen, Soundsystembetreiberinnen oder DJ. Die Songtexte sind zudem häufig sexistisch. Tecnobrega mag ein wirtschaftlich offeneres Modell sein, das mehr Leute partizipieren und mitverdienen lässt. Doch gibt es auch hier klare Verdiensthierarchien, und die gesellschaftliche Position bestimmt erst die Möglichkeit zur Teilnahme. Dementsprechend spiegelt Tecnobrega die prekäre Situation der Frauen Nordbrasiliens wider, auch wenn die feministische Bewegung in den letzten zwanzig Jahren erste Erfolge erreichte und die Problemlagen der Frauen verdeutlichen konnte.
Ebensowenig werden durch Tecnobrega die kapitalistischen Produktionsgrundlagen in Frage gestellt, die Aushebelung des geistigen Eigentums ist bloßes Mittel zum Zweck. Verklärungen sind also unangebracht, ohne die interessanten Ansätze ignorieren zu müssen. Tecnobrega bleibt ein spannendes Modell, das sich schnell entwickelt und verändert. Bisher ist es aber vor allem ein Beispiel für die ökonomische Anpassungsfähigkeit von einzelnen sozialen Gruppen im Trikont. Erst indem man eine der heiligen Kühe der nördlichen Hemisphäre, das Urheberrecht, über Bord geworfen hat, ist man erfolgreich.
Der Arikel erschien in dem nord-südpolitischen Magazins iz3w (Nr. 327)