Der Runde Tisch Brasilien 2023: Dekoloniale Perspektiven aus Brasilien
Dekoloniale Perspektiven von indigenen und Schwarzen Frauen
Unser Körper spricht. Unser Blick schaut. Wir brauchen unser Territorium.“ (Ana Gualberto)
Am Freitagabend begann der offizielle Teil mit einer live gestreamten Podiumsdiskussion unter dem Titel: „Ein Jahr Regierung Lula und die Kämpfe gegen strukturellen Rassismus“. Die Veranstaltung fand auf Portugiesisch und Deutsch statt, wie immer bei KoBra-Treffen wurden die Plenumsveranstaltungen professionell übersetzt. Auf dem Podium saßen als Gäste zwei junge Frauen: Jéssica Tupinambá, eine indigene Aktivistin, Lehrerin, Vertreterin der Rechtsabteilung der Vereinigten Bewegung indigener Völker und Organisationen Bahias (MUPOIBA), Jurastudentin und Kampaignerin, sowie Ana Gualberto, ebenfalls aus Bahia, Kulturwissenschaftlerin, Mitglied in zahlreichen Schwarzen Frauenkollektiven, Geschäftsführerin von KOINONIA, sie ist auch Mitglied des Netzwerks Schwarzer Frauen von Bahia und des Iyá Akobiodè Kollektivs sowie bei Egbon D'Osun von Ilê Axé Ofá Omi Layó. Diese afrospirituelle Komponente des Candomblé ist ihr sehr wichtig, wie sie betonte. Sie forscht zur und vertritt zudem die Quilombola-Bewegung. Als Moderator saß Johannes Miksch von der Kindernothilfe Brasilien auf dem Podium.
„Ich bin das Süßwasser, der Wald und das Mineral“ – aber unser Leben und unsere Spiritualität werden weiterhin angegriffen und zerstört (Ana Gualberto)
Die Veranstaltung begann mit einer Überraschung. Jéssica sang und tanzte ein traditionelles Gebet der Tupinambá, schlug dazu mit der Maracá den Takt. Außerdem brachte sie eine andere indigene Führungspersönlichkeit mit aufs Podium: Iracema Kaingang, Kazikin der Kaingang aus Rio Grande do Sul.
Wer Jéssicas aufschlussreichen Artikel „Nicht mal glattes Haar hast du“ über die Vorurteile und Diskriminierungen der Tupinambá Gemeinde Serra do Padeiro im Brasilicum Heft 270-271 gelesen hat, wusste bereits, dass sich hier eine eloquente, selbstbewusste junge Frau zu Wort meldete, die scheinbar spielend Tradition und Moderne verknüpft. Das Brasilicum-Heft ist zu dem Runden Tisch erschienen und wurde allen Teilnehmer*innen im Vorfeld zugeschickt. Jéssica stellte sich als Tochter einer großen Kriegerin vor, sprach kurz über das aktuelle Tupinambá Territorium (wesentlich kleiner, als es mal gewesen war und noch nicht demarkiert) und die aktuellen, oft sehr blutigen Kämpfe der Tupinambá für das Recht, auf ihrem Land zu leben. Dann beantworte sie die Frage des Moderators, welche Auswirkungen ein Jahr Regierung Lula auf die Kämpfe gegen strukturellen Rassismus bisher gezeigt habe. Sie begann mit einem Resümee der katastrophalen Vorgängerregierung unter Bolsonaro, die sich bewusst gegen die Demarkierung indigener Territorien wandte, unter der Indigene kriminalisiert wurden, als „falsche“ Indigene und Landdiebe beschimpft und z.B. mit offiziellen Flugblattaktionen in den Städten gegen sie Front gemacht wurde. Das zeigte Folgen für die Tupinambá: sie wurden überfallen, es gab Todesfälle, auch ihre eigene Familie und sie selbst wurden mehrfach angegriffen. Es gab zahlreiche illegale Landbesetzungen u.a. durch Goldsucher*innen auf ihrem Land. Dazu kamen die Todesfälle durch die Corona-Epidemie, welche die Bolsonaro-Regierung negiert hatte. Obwohl den Tupinambá das Recht auf ihr Land abgestritten wird, sind sie fest entschlossen weiterkämpfen. Aktuell hoffen sie, dass die Lula-Regierung das Vetorecht gegen eine aktuelle Gesetzesvorlage einlegen wird, welches die zeitliche Begrenzung indigener Territorien vorsieht. Jéssica erkannte zwar an, dass sich die Lula-Regierung noch finden müsse, aber in ihren aktuellen Kämpfen sähen sie keinen Fortschritt.
„Afrobrasilianische Frauen wollen mehr als nur überleben.“ (Ana Gualberto)
Ana Gualberto, Historikerin, Forscherin, aber auch Mitglied einer afrobrasilianischen Gemeinschaft, wie sie stolz betonte, ging dagegen kritischer mit der Lula-Regierung ins Gericht. Afrobrasilianische Frauen wollten mehr als nur überleben, und dafür müssten sie weiterhin Tag für Tag kämpfen. In der Verfassung von 1988, für die ihre Vorgänger*innen gekämpft haben, stehen viele gute und wichtige Dinge für die Schwarze und indigene Bewegung, aber sie werden nicht umgesetzt. Es wird weiterhin straflos gemordet, vergewaltigt und beleidigt. Das betrifft auch die Quilombolas: Außerhalb Brasiliens sei weiterhin unbekannt, dass es viele Quilombo-Gemeinden in Brasilien gibt. Das sind Nachfahren Schwarzer Sklav*innen, die entkommen konnten und eigene Gemeinden an oft unzugänglichen Orten gründeten. Viele Quilombola-Gemeinden sind demarkiert, aber alle sind bedroht durch den kapitalistischen „Run“ auf Land. Zwischen 2019 und 2022 gab es 169 Morde an Quilombolas, davon waren 140 Umweltaktivist*innen. Sie nannte Beispiele - eine Mutter und ihr 14-jähriger Sohn, ein 72-Jähriger Mann - ermordet, nur weil sie ihr Land verteidigten und alle diese Morde bleiben straflos. Nichtweiße müssten ihren eigenen Weg einschlagen, schloss sie. Zugleich forderte sie die Zuhörenden auf, Schwarze Menschen nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Rassismus und der Ethnie zu sehen.
„Es gibt ein Gesetz gegen Rassismus in Brasilien, aber niemand sitzt deswegen im Gefängnis.“ (Ana Gualberto)
Gefragt nach Strategien gegen den strukturellen Rassismus, antworte Ana, dass sie diesen nicht alleine bekämpfen könnten, es brauche Verbündete. Alle nicht-weißen Abgeordneten werden täglich bedroht und angefeindet, sie wies auf den angekündigten Mord an der Menschenrechtsverteidigerin und Feministin Marielle Franco am 14. März 2018 hin, obwohl jeder wisse, wer den angeordnet habe, sei nichts passiert. Die Parteien unterstützen sie nicht. So gebe es ein Gesetz gegen Rassismus in Brasilien, aber es werde nie angewandt. Auch afroreligiöse Gemeinden werden zunehmend angefeindet, kürzlich sei ein Gebetshaus angezündet worden, aber auch die Verantwortlichkeit hierfür wurde nie aufgeklärt.
„Wir sterben an demselben strukturellen Rassismus jeden Tag. Aber wir wollen eine bessere Zukunft für unsere Kinder, und deswegen sterben wir nicht.“ (Jéssica Tupinambá)
Jéssica bestätigte Anas Beschreibungen struktureller Gewalt. Alltäglicher Rassismus sei ihr tägliches Brot. Ihr Credo: Sie, die Indigenen und Schwarzen müssten überall auftauchen, wo man sie nicht erwarte. Sie höre immer wieder: „du bist keine Indigene, du reist, du hast ein Smartphone, du hast studiert“. Doch, sie sei eine; und genau das meine sie damit, überall Präsenz zu zeigen, in die Gremien, auf Treffen gehen, sichtbar werden. Weiße Organisationen könnten sie dabei unterstützen.
Ana fügte hinzu: Die ganze Welt möge Brasilien, aber das Land müsse erst noch dekolonisiert werden und um diese Beziehung zu ändern, dazu könne jede*r etwas beitragen. Da der Reichtum Europas auch durch die Gold- und Rohstoffausbeutung Brasiliens entstanden sein, forderte sie zudem Reparationen und einen finanziellen Ausgleich für den jahrhundelangen Raub. Zu den progressiven Regierungen meinte sie, die hätten auch das letzte Mal nicht viel verändert. Man müsse weiterhin Druck ausüben, auf das Justizministerium, auf die Lula-Regierung. „Unser Körper spricht. Unser Blick schaut. Wir brauchen unser Territorium.“
„Wir brauchen eure Hilfe, es geht um unser Überleben“ (Iracema Kaingang)
Zum Schluss sprach die Kazikin Iracema Kaingang. Auch sie begann mit einem Gebet für Mutter Erde und für die Gewässer. Sie kommt aus dem Gebiet des Rio Grande do Sul, an der Grenze zu Paraguay und Argentinien, wo die Wälder wegen des immer weiter ausufernden Sojaanbaus immer kleiner werden. Es gibt tägliche Anfeindungen und Überfälle und keine Demarkierungen. „Wir brauchen eure Hilfe“, sagte sie, „es geht um unser Überleben“.
Konkrete Schritte gegen den strukturellen Rassismus:
Ana sprach sich dafür aus, sichtbarer zu werden, mehr Abgeordnete ins Parlament zu bringen. Der größte Teil der Menschen in Brasilien verstehe den Staat nicht. Alle drei wiesen darauf hin, dass es bei Kämpfen und Umweltschutz nicht nur um Amazonien gehen dürfe. Alles blicke immer nur auf Amazonien. Es sei die Lunge der Welt, ja, aber auch die anderen Gliedmaßen seien für das Überleben wichtig.
Die Frage der Quoten (in Brasilien wurden unter der ersten Lula-Regierung Quoten an Universitäten und vielen Einrichtungen für nichtweiße Menschen eingeführt) zogen Ana und Jéssica ein gemischtes Resümee: beide hatten teilweise davon profitiert und studieren können, andererseits bewerteten dabei weiße Menschen, wie Schwarz jemand sei, ob er oder sie überhaupt die Fähigkeit zum Studium habe. Ana sei z.B. ein Doktorat abgelehnt worden, mit der Begründung „mit Kindern und schon älter, das würde sie nicht schaffen“. Zudem fielen Indigene oft nicht unter die Förderung, nur Schwarz gelesene Menschen. Quoten seien wichtig, aber nicht genug. Es gehe darum in den Universitäten, den Ministerien, den Regerungen mit zu entscheiden, dafür müssen sie studieren und das werde ihnen sehr schwer gemacht. Z.B. werden bei den geforderten drei Sprachen indigene Sprachen nicht anerkannt. Das unterfinanzierte Frauenministerium und das Indigenen-Ministerium hätten wenig Macht, im Gegensatz zum Justizministerium – und das Justizsystem mache einen Rückschritt nach dem anderen.
Eine ausführliche Dokumentation der Tagungsinhalte und Workshops des RTB folgt in Kürze unter Veranstaltungen | Runder Tisch Brasilien 2023 auf dieser Webseite.