Kommunalwahl in Brasilien: Halbzeitbilanz für Bolsonaro?
Ein Interview mit Niklas Franzen zur Kommunalwahl gibt es hier nachzuhören.
Bei den Kommunalwahlen in Brasilien können 147,9 Millionen Wahlberechtigte 5.568 Bürgermeister, 5.568 Vizebürgermeister und 57.942 Stadträte wählen. In den 95 Städten mit mehr als 200.000 Wahlberechtigten wird außerdem eine zweite Runde in der Bürgermeisterwahl benötigt, wenn in der ersten Runde keiner der Kandidat:innen die absolute Mehrheit, also mindestens eine Stimme mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen, erhält. Im Bundesdistrikt Brasília finden keine Kommunalwahlen statt. Auf die 57.942 Plätze im Gemeinderat bewerben sich 518.298 Kandidat:innen. Bei der vorhergehenden Wahl 2016 standen noch 54.926 weniger Kandidat:innen auf den Wahlzetteln. Auf die Positionen als (Vize) Bürgermeister:innen bewerben sich 19.340 Kandidat:innen, 2775 mehr als vor vier Jahren.
Am 27. September startete der Wahlkampf. Aufgrund der Pandemielage wird sich dieser Wahlkampf sehr von seinen Vorgängern unterscheiden. Schon bei der Präsidentschaftswahl 2018 hatte sich gezeigt, dass die Fernseh-Spots bei weitem nicht mehr ihre frühere Wirkung entfalten. Schließlich wurde Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt, obwohl er kaum Fernsehzeit für seine Kampagne nutzen konnte. In Brasilien wird die Länge der obligatorisch in Radio und Fernsehen ausgestrahlten Sendezeit auf Basis der bisherigen Wahlergebnisse berechnet. Da Bolsonaro 2018 für eine Partei antrat, die in den vorhergehenden Wahlen nur sehr wenig Stimmen auf sich vereinen konnte, stand ihm nur sehr wenig Sendezeit zu. Trotz Pandemie stehen wieder an vielen Kreuzungen Wahlkampfhelfer:innen der Kandidat:innen und verteilen Wahlwerbung. Auch die Postwurfsendungen finden in Pandemie-Zeiten statt. Der wohl wichtigste, wenn nicht sogar entscheidende Faktor, wird auch bei dieser Wahl wieder die Rolle der digitalen Kommunikation und hierbei insbesondere der sozialen Medien sein.
Offizielle Massenveranstaltungen finden im Rahmen des Wahlkampfs nur eingeschränkt statt. Die konservativen Kräfte versammeln sich weiterhin in ihren (evangelikalen) Kirchen und preisen ihre Kandidat:innen an, obwohl bereits mehr als zwanzig evangelikale Bischöfe an Coivid-19 gestorben sind. Diejenigen politischen Kräfte, die ein Mindestmaß an Verantwortungsbewusstsein besitzen, halten sich aber bei Massenveranstaltungen zurück um die Pandemie nicht weiter zu befeuern. Die meisten Bolsonaro-Anhänger:innen jedoch nehmen die Pandemie ohnehin nicht ernst.
Die Kommunalwahlen finden in Brasilien immer zwei Jahre nach den Präsidentschaftswahlen statt und werden auch deshalb als wichtiges Stimmungsbarometer wahrgenommen. Allerdings ist die Beurteilung der politischen Situation recht schwierig, da die Parteien eine weniger wichtige Rolle spielen als beispielsweise in Deutschland. Der Präsident selbst hat beispielsweise schon acht mal die Parteizugehörigkeit gewechselt und trat auch 2019 aus der Partei aus, für die er gewählt wurde, um eine neue "Allianz für Brasilien" (Aliança pelo Brasil, APB) zu gründen. Für die Wahl entscheidend sind oftmals die politischen Persönlichkeiten bzw. deren Familienhintergründe. So steht in Salvador, Hauptstadt des von der Arbeiterpartei PT regierten Bundesstaates Bahia,ein Politiker der rechtskonservativen DEM an der Spitze aller Umfragen. Bruno Reis würde in die Fußstapfen des aktuellen Bürgermeisters, einem Erben des Polit-Clans der Magalhães, treten und ebenfalls von der Familiengeschichte profitieren. Es ist also nicht so einfach, das Wahlergebnis einer Partei bei den Kommunalwahlen auf die Zustimmung oder Ablehnung des Präsidenten umzurechnen.
Was aber durchaus deutlich wird, ist die Unfähigkeit der linken Kräfte sich auf einen gemeinsamen Kandidaten bzw. eine gemeinsame Kandidatin zu einigen. In den wenigen Städten in denen das gelang, wie Florianópolis oder Belém, stehen die linken Kandidat:innen sehr gut da und werden aller Voraussicht nach in die Stichwahl einziehen. In Rio de Janeiro oder São Paulo hingegen ist es gut möglich, dass die Stichwahl ohne links-progressive Kandidat:innen stattfinden wird. Das Industriezentrum São Paulo war eigentlich einmal eine sichere Basis für die Arbeiterpartei PT. In den aktuellsten Umfragen kommt ihr Kandidat Jilmar Tatto allerdings gerade mal auf sechs Prozent der Stimmen. Der weitaus populärere Guilherme Boulos von der Obdachlosenbewegung MTST tritt für die PSOL an und kommt mit 14 Prozent derzeit auf Platz drei der Umfragen - knapp hinter Russomanno mit 16 Prozent. Würde die PT ihren Kandidaten zurückziehen, hätte Boulos größere Chancen in die Stichwahl einzuziehen. Während der Präsidentschaftswahl hat Guilherme Boulos den Kandidaten der PT und ehemaligen Bürgermeister von São Paulo Fernando Haddad unterstützt. Auch für die Befreiung von Lula setzte er sich öffentlich ein. Der Ex-Präsident ist zwar mittlerweile wieder auf freiem Fuß - hält sich aber in der aktuellen Debatte um die Kommunalwahl zurück, weil es hier für ihn nichts zu gewinnen gibt.
Die Popularität von Bolsonaro lässt sich mit dieser Kommunalwahl eher nicht bewerten. Ein Stresstest für die linken Kräfte ist sie aber allemal und die bisherigen Umfragen zeichnen ein nicht gerade ermutigendes Panorama ab.
Überschattet von Gewaltexzessen
Wie auch schon 2016 sind die Kommunalwahlen von zahlreichen, zum Teil tödlichen, Angriffen auf Kandidat:innen und ihre Wahlhelfer:innen überschattet. Teilweise werden die Angriffe direkt ins Internet gestreamt, weil sie während einer Wahlkampfveranstaltung stattfinden. In einigen Fällen weigern sich die ermittelnden Polizeibehörden ein politisches Tatmotiv zu untersuchen und verweisen auf vermeintliche Verwicklungen in den Drogenhandel. Allein im Bundesstaat Pernambuco gab es in diesem Jahr bereits 13 Todesfälle im politischen Kontext.
Renato Sérgio de Lima, Direktor und Präsident des brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit, erinnert die kriegerische Atmosphäre an die jüngsten Konflikte am Vorabend der US-Wahlen. "Brasilien hat in seiner Geschichte schon immer seine Wahlstreitigkeiten auf gewaltsame Weise gelöst. Politische Gewalt ist nichts neues", sagt der Forscher. "Gegenwärtig ahmen wir nach, was in den Vereinigten Staaten geschieht. Die Polarisierung gibt einigen Menschen das Gefühl, das die Ermordung des politischen Opponenten ein legitimes Mittel darstellt. Die Banalisierung des Hassdiskurses legitimiert die Opfer der politischen Auseinandersetzung".