265 | Offene Wunden nach 200 Jahren Unabhängigkeit

Im September dieses Jahres wird Brasilien seinen 200. Unabhängigkeitstag feiern. Im neuen Brasilicum beleuchten wir aus verschiedenen Perspektiven (Religion, Landwirtschaft, Kultur, uvm.), wie sich diese Unabhängigkeit gestaltet und inwiefern sie mit Demokratie einhergeht. Klar ist, dass nicht jeder Brasilianer und jede Brasilianerin gleich unabhängig ist und wir gute, dekoloniale Ansätze brauchen, um die nächsten 200 Jahre in Brasilien - sowie global - gerechter und nachhaltiger zu gestalten.
| von Hannah
265 | Offene Wunden nach 200 Jahren Unabhängigkeit

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Inhalt:

"Brasilien durchlebt eine mentale Krankheit" - Ein Interview mit Celso Amorim
Ekrem Eddy Gülzedere

Mit der Kraft des (Wahl-)Geistes - Evangelikale, Politik und die Wahlstrategie für 2022
Fabio Py Murta de Almeida

Die Koloniale Logik des Agrobusiness - Ein Interview mit Larissa Bombardi
Hannah Dora

28 Jahre Aufführungen der Theaterkompanie Torre de Papel
Nana Rodrigues und Marcelo Félix

Köln- Rio de Janeiro: Mehr als nur Karneval - 10 Jahre Städte- und Klimapartnerschaft
Ute Dreiocker

Dekolonialisierung in Brasilien - wer dekolonialisiert eigentlich wen? 
Arivaldo Santos de Souza

Mehr Aufmerksamkeit für die Cerrado-Region - Eine Buchvorstellung
Jean Reusser
Bem-vindas und Willkommen - Veränderung und Bewegung im KoBra-Vorstand
Tilia Götze und Uta Grunert

Editorial:

Am 7. September 2022 wird Brasilien seinen 200. Unabhängigkeitstag feiern. Unabhängigkeit, das bedeutete in erster Linie das Ende der Kolonialzeit sowie der Herrschaft des Königreichs Portugal im Jahr 1822. Sie sagt jedoch wenig aus
über die Verteilung von Macht, Rohstoffen oder Rechten. Die Kolonialherrschaft basierte zu einem großen Teil auf der Konstruktion von „Rassen“, der Hierarchisierung von Leben. Dem Leben von Schwarzen und Indigenen wurde weniger Wert zugeschrieben als dem von Weißen. Wie ist das heute? Larissa Bombardi sagt im Interview über Pestizideinsätze durch das Agribusiness: „das wirtschaftliche Interesse [steht] über dem Leben der Menschen“. Wenn das wirtschaftliche Interesse eine Hautfarbe hätte, wäre es wohl weiß.

Für die indigene und schwarze Bevölkerung hat sich nicht viel geändert, als die weiße Monarchie durch eine weiße Oligarchie ausgetauscht wurde.Sie müssen weiter für ihre Rechte, ihre Kultur, ihre Territorien und ihr Leben kämpfen. Trotzdem macht es natürlich einen Unterschied, wer an der Macht ist. In keinem anderen lateinamerikanischen Land wurden Errungenschaften der indigenen Bewegungen aus den letzten Jahren so stark rückgängig gemacht wie in Brasilien. Präsident Jair Bolsonaro feuert mit seiner offen anti‑indigenen Agenda den Genozid an den Yanonami, Parakanã oder Piripkura sowie vielen anderen teils isolierten indigenen Gesellschaften an. Illegale Goldgräber oder Landwirte fürchten sich unter seiner Regierungsführung noch weniger vor den Konsequenzen, in die Territorien einzudringen und sich mit voller Gewalt die Rohstoffe anzueignen. Die kürzliche Ermordung des britischen Journalisten Dom Phillips und des Indigenen‑Experten Bruno Pereira im abgelegenen Vale do Javari haben ein Licht auf die Demontage der brasilianischen Behörden zum Schutz der indigenen Bevölkerung und der Umwelt geworfen, die unter der rechtsextremen Regierung stattgefunden hat. Ein anderer Narrativ, der mit der Kolonialisierung einherging, war der von „Fortschritt” und „Entwicklung“, heute vor allem an hohem Wirtschaftswachstum und Industrialisierung gemessen. Doch dieser Fortschritt ließ die meisten zurück, drängte einen Großteil der (vor allem Schwarzen) Bevölkerung in prekäre Lebensverhältnisse an den Stadträndern und kostete schon jetzt beinahe 20% des brasilianischen Amazonasregenwalds durch Abholzung. Celso Amorim bemerkt im Interview: „Bei der Unabhängigkeit Brasiliens sind die vor uns liegenden 200 Jahre meiner Meinung nach wichtiger, als die 200 Jahre, die hinter uns liegen.Zurzeit gibt es nicht viel zu feiern. Das sollte ein Moment sein, um zu reflektieren. Wie kann es sein, dass wir nach 200 Jahren immer noch so viele Probleme haben?“.

In den folgenden Seiten laden wir also zum gemeinsamen Reflektieren ein, nicht um in den Problemen zu schwelgen, sondern auf der Suche nach Antworten, wie die nächsten 200 Jahre gerechter und nachhaltiger gestaltet werden
können.


die Redaktion