Eigentor Brasilien. Editorial
»Was bedeutet es, Schriftsteller zu sein in einem Land in der Peripherie der Welt, einem Ort, wo der Begriff Raubtierkapitalismus ganz bestimmt keine Metapher ist?« Mit diesen Worten begann der brasilianische Autor Luiz Ruffato seine kritische Festrede zur Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt. Dort sollte das Gastland Brasilien gefeiert werden, jenes schon vom Schriftsteller Stefan Zweig beschworene »Land der Zukunft«. Ein Land, in dem sich laut Ruffato der Mythos von Toleranz und einer friedlichen ‚Vermischung der Rassen’ trotz tief eingeschriebener kolonialer Gewalt immer noch hält. Ein Land, in dem Wohnen, Bildung, Gesundheit und Erholung nach wie vor ein Privileg einer Minderheit sind, das gleichzeitig aber Unsummen für sportliche Großereignisse verpulvert.
Doch von den gewaltigen sozialen Spaltungen wollte bis vor kurzem weder die fußballbesoffene Weltöffentlichkeit noch der politische Mainstream Brasiliens etwas wissen. Das änderte sich erst, als im Juni 2013 lang angestauter Unmut aufbrach und bei landesweiten Massenprotesten während des Confederation Cups kritische Stimmen laut wurden. Hunderttausende gingen auf die Straßen, sie forderten mehr Ausgaben für Bildung und das Gesundheitssystem, ein bezahlbares öffentliches Nahverkehrssystem und die Bekämpfung der Korruption.
All das geschieht in einem Land, das in den letzten Jahren zur sechstgrößten Wirtschaftsnation der Welt avancierte und derzeit riesige Staudammprojekte im Amazonas umsetzt. Indem Brasilien Megaevents wie die Männerfußball-WM 2014 und Olympia 2016 ins Land holte, unterstrich es seinen Anspruch, künftig als Global Player im Reigen der Supermächte mitzuspielen. Doch hinter den Erfolgsmeldungen vom Aufstieg Brasiliens gerieten dessen soziale Kosten aus dem Blick.
Unser Dossier beleuchtet Brasiliens Weg in seinen verschiedenen Facetten und will dazu motivieren, einen Blick hinter die Kulissen der glamourösen Großevents zu werfen. Herausgeben wird es von KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) und dem iz3w (informationszentrum 3.welt). Die beiden organisatorisch unabhängigen Informationsprojekte eint nicht nur die gemeinsame Nutzung eines Hinterhauses in der Freiburger Kronenstraße, sondern auch ein von Luiz Ruffato formulierter Anspruch: »Die Perpetuierung von Unwissen als Herrschaftsinstrument, Markenzeichen jener Elite, die bis vor ganz Kurzem noch an der Macht war, lässt sich eindämmen.«
Unsere AutorInnen gehen der Frage nach, wie Brasilien sich in diesen Tagen verändert. Sie zeigen Ausschnitte aus den gut vernetzten brasilianischen sozialen Bewegungen und informieren über die Beweggründe für deren Proteste. Wir haben uns erlaubt, mit den großen Gegensätzen Brasiliens auch visuell zu spielen: Auf der einen Seite stehen die Protestbilder der Medienguerilla-Gruppe Mídia Ninja. Auf der anderen Seite zeigen wir Hochglanzmotive, wie sie inner- und außerhalb Brasiliens kursieren, und die ein beschönigendes Brasilienbild zeichnen.
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