Brumadinho und kein Ende in Sicht
Morgen, am 25. Januar, jährt sich der Dammbruch von Brumadinho zum dritten Mal. Über 270 Menschen starben, es war zusammen mit dem Dammbruch von Mariana vom 5. November 2015 eine größten Umweltkatastrophen in der Geschichte Brasiliens. So die auch offizielle Lesart. Doch Betroffene, Angehörige und Aktivist:innen stellen klar: „Der Dammbruch war kein Unfall – er war ein Verbrechen.“
Es war der 25. Januar 2019. Ein Damm eines Rückhaltebeckens für die Erzschlammreste der Mine Córrego do Feijão brach. Die Betreiber- und Eigentümerfirma von Mine und Rückhaltebecken, die brasilianische Bergbaufirma Vale, erklärte, in dem gebrochenen Becken hätten sich 11,7 Millionen Kubikmeter Erzschlammreste befunden.
Nachdem der Damm des ersten Rückhaltebeckens gebrochen war, flutete der Erzschlamm den zweiten Damm des nächstgelegenen Rückhaltebeckens und überflutete auch dieses. Danach frass sich der Schlamm wie ein Tsunami weiter bergabwärts, zerstörte alles, was ihr in den Weg kam. Die Erzschlammwelle hatte unter anderem ein Betriebskantine mit sich gerissen, in der gerade viele Arbeiter:innen zu Mittag aßen, Busse, in denen Arbeiter:innen saßen, die von oder zur Betriebsschicht fuhren, wurden unter den Schlammmassen begraben. Mindestens ein Dorf wurde zerstört, auch kleine indigene und Quilombola-Territorien litten hinterher monatelang unter der schlechten Wasserqualität der in Mitleidenschaft gezogenen Flüsse.
Die Mine und das Rückhaltebecken gehören dem brasilianischen Bergbaukonzern Vale S.A. Die Mine Córrego do Feijão samt Rückhaltebecken wurde 1956 von der Companhia de Mineração Ferro e Carvão in Betrieb genommen, 1973 wurde sie in die Thyssen-Tochterfirma Ferteco Mineração integriert, bevor sie 2003 von Vale S.A. übernommen wurde. Den nun gebrochenen Damm gebaut hat im Jahr 1976 die Thyssentochter Ferteco Mineração.
TÜV Süd aus München, namentlich die brasilianische Tochterfirma TÜV Süd do Brasil, hat im Auftrag von Vale und – so erklärt TÜV Süd auf der Homepage – „auf Grundlage der gesetzlichen Vorgaben (DNPM 70.389/2017) eine Periodic Review of Dams (Dokument vom 18. Juni 2018) und eine Regular Inspection of Dams Safety (Dokument vom 26. September 2018) durchgeführt.“ Vier Monate später brach der Damm. 272 Menschen starben, unter ihnen Marcelas Vater.
„Der Dammbruch war kein Unfall – er war ein Verbrechen.“ Dies sagt Marcela Nayara Rodrigues. Sie macht eine Pause, hält inne, kämpft mit den Worten. Sie holt Luft. Dies war im Berliner Herbst 2019, Marcela war zusammen mit weiteren Angehörigen von Betroffenen und Aktivist:innen nach Berlin gereist, um u.a. eine Anzeige in München einzureichen und im Deutschen Bundestag mit Abgeordneten zu sprechen.
Marcela Nayara Rodrigues ist aus der Kleinstadt Brumadinho, im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, nicht weit von der Millionenmetropole Belo Horizonte entfernt. Brumadinho ist eine dieser kleinen Städte im Inneren des großen und weiten Brasiliens, dort, wo ein nicht geringer Teil des Bruttoinlandsproduktes erarbeitet wird, das den Regierenden in Brasília und den Firmenchefs in den Konzernzentralen so wichtig ist, weil es Ausdruck ist des Profits, den die Firmen erwirtschaften, erarbeitet aber mit den schweren Händen von Menschen, wie Marcelas Vater. Der hatte bei der Bergbaufirma Vale gearbeitet, viele Jahre, und damit die kleine Familie ernährt. Dann kam der Bruch.
Wen sieht Marcela für den Bruch als verantwortlich an? War es die brasilianische Firma Vale, die als Eigentümerin und Betreiberin der Mine und des Rückhaltebeckens für die Stabilität des Dammes verantwortlich war, oder lag die Verantwortung eher bei der aus Deutschland stammenden Firma TÜV SÜD, die den Damm im Jahr 2018 zwei Mal für bruchsicher erklärte? Marcela Nayara Rodrigues sieht in erster Linie Vale als Eigentümerin von Mine und Damm für die Sicherheit verantwortlich. „Es ist das Unternehmen selbst, das sicherstellen muss, dass der Bergbau sicher abläuft und keine Arbeiter in Gefahr bringt. Und wenn Vale eine Firma zur Überprüfung der Sicherheit beauftragt, dann erwarten wir ein korrekt angefertigtes Sicherheitszertifikat.“ Aber, so betont Marcela: „TÜV SÜD wusste, dass der Damm ein Sicherheitsrisiko barg, trotzdem wurde die Stabilitätserklärung ausgestellt.“
Das Sicherheitszertifikat, das von den Mitarbeiter:innen von TÜV SÜD ausgestellt wurde, wird von vielen Betroffenen und deren Angehörigen angezweifelt. Im Nachgang des Bruchs bekannt gewordene Emails zeigen den Druck, den die Firma Vale auf TÜV SÜD aufbaute, die Sicherheit zu attestieren. Der Staatsanwaltschaft in Brasilien liegen auch Erkenntnisse darüber vor, dass mindestens zwei andere Consultingfirmen sich weigerten, die Sicherheit dieses Dammes zu zertifizieren. TÜV SÜD aber bestätigte die Sicherheit. Laut der Staatsanwaltschaft vorliegenden Erkenntnissen könnte dies aber wider besseren Wissens geschehen sein.
Claudia Müller-Hoff ist Rechtanwältin und arbeitet bei der in Berlin ansässigen Menschenrechtsorganisation ECCHR. Das ECCHR hat gemeinsam mit dem bischöflichen Hilfswerk Misereor im Oktober 2019 Klage gegen TÜV SÜD in Deutschland erhoben, auch gegen verantwortliche deutsche Manager:innen haben sie Strafanzeige gestellt. Claudia Müller-Hoff sagte im Oktober 2019 im Interview mit KoBra: „Mindestens seit November 2017 hatte der Damm schwerwiegende Stabilitätsprobleme. Wir haben bewiesen, dass dies sowohl Vale als auch TÜV SÜD bekannt war. Sie haben dennoch die Stabilität des Dammes garantiert. Und da liegt der Kern des Problems für TÜV SÜD. Und die direkte Verbindung nach Deutschland in diesem Fall besteht darin, dass es einen direkt verantwortlichen Ingenieur gab, der den gesamten Prozess von hier aus überwachte. Dieser Herr ist laut mehreren Zeugenaussagen mehrmals nach Brasilien geflogen, um die Arbeit der Tochterfirma zu kontrollieren. Und wir wissen, dass die Ingenieure vor Ort den Damm nur mit seiner Zustimmung für sicher erklären konnten. Letztlich attestierten sie dem Damm Stabilität. Daher gehen wir davon aus, dass der deutsche Ingenieur sein Okay dafür gegeben hat.“
Diese Klage ist Teil eines Strafverfahrens gegen TÜV SÜD. Doch dessen Fortgang lässt noch auf sich warten.
Derweil wurde in München ein Zivilverfahren gegen TÜV SÜD eröffnet, von einer anderen Kanzlei, die Entschädigungszahlungen fordern im Namen von Betroffenen. In Brumadinho sei „ein schreckliches Unglück geschehen“, räumte Florian Stork, Chef-Justiziar des TÜV Süd, damals gegenüber Medien. Er wolle „das Leid überhaupt nicht infrage stellen“, aber: TÜV SÜD sehe „keine rechtliche Verantwortung“ für die Katastrophe des 25. Januar 2019.
Das Gericht wird auch hier prüfen müssen: War den Verantwortlichen bei Vale und TÜV Süd bewusst, dass der Damm der Mine Córrego do Feijão schwer bruchgefährdet war und haben sie also wider besseren Wissens ein Sicherheitszertifikat ausgestellt? Das Gericht in München will 2022 ein Urteil in diesem Zivilprozess fällen. In Brasilien gehen die juristischen Klagewege der Betroffenen weiter, ebenso wie die Strafrechtsklage des ECCHR gegen TÜV Süd in Deutschland.
„Für mich ist die Anzeige eine persönliche Angelegenheit: Weil mein Vater beim Dammbruch getötet wurde und weil sich das korrupte Geschäft mit der Sicherheit ändern muss – denn es zerstört unsere Leben und unseren Planeten“, sagt Marcela Nayara Rodrigues. Ihren Vater brächte ein Urteil nicht zurück, aber vielleicht würde sich in Zukunft im brasilianischen Bergbau etwas ändern.
Etwas ändern: Brasiliens Politik, die jahrelang weggeschaut hatte bei den Risiken und sozialen Folgen des Bergbaus, die nur schaut auf die makroökonomischen Exportzahlen all der Erz-Pellets, die ins Ausland gehen, auch nach Deutschland, das rund 45 Prozent seiner Eisenerzimporte aus Brasilien bezieht, jene Politik von Südamerikas größtem Staat war – gelinde gesagt – bergbaufreundlich. Dies ist sie auch noch heute, nur kurz nach dem Bruch, als die Medien der Welt auf das Land und seinen Bergbausektor mit all seinen ökologischen und sozialen Kosten schauten, da wurde die Politik kurz hektisch und veranlasste das Offensichtliche: das Ende der bruchgefährdetsten Tailing-Dämme: der „Upstream“-Dämme.
Groß war der Aufschrei nach dem Bruch des Dammes des Rückhaltebeckens der Vale-Eisenerzmine der Mine Córrego do Feijão in der Nähe des Dorfes Brumadinho im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais am 25. Januar dieses Jahres. So groß, dass selbst industrie-nahe, erzneoliberale Politiker*innen öffentlich erklärten, dass nun nach den zwei Brüchen von Mariana (5. November 2015) und Brumadinho (25. Januar 2019) die bruchanfälligsten unter den Dammkonstruktionen für Tailings (also Rückhaltebecken für meist verflüssigte Bergbauabfälle) - die sogenannten „Upstream“-Dämme künftig nicht mehr zugelassen werden und, mehr noch, die bestehenden bis 2021 zu deaktivieren und zurückzubauen seien. Diese Entscheidung, die unter medialem Druck, aber gleichwohl geschickt öffentlichkeitswirksam von der erzneoliberalen Bolsonaro-Regierung in Form ihres Umweltministers Salles kurz nach dem Brumadinho-Bruch verkündet worden war, ist bereits wenige Monate später, im August 2019, wieder gekippt worden. Ist die mediale Aufmerksamkeit gesunken, einige Zeit verstrichen, dann obsiegt wieder das industrie-freundliche Interesse über den Schutz von Natur und Mensch.
Die Dämme, die allein in Minas Gerais im „Upstream“-Verfahren gebaut wurden und in Betrieb sind, sollten ursprünglich bis 2021 die Maximallaufzeit erreicht haben und die Dämme stillgelegt werden. Doch später gab die Bundesagentur für Bergbaufragen ANM den Unternehmen bis zu sechs weitere Jahre Zeit, je nach Dammgröße. Bei der neuen Restlaufzeit wird die Größe des Speichers berücksichtigt, so die ANM damals. Eigentlich sollten alle „Upstream“-Dämme bis maximal zum 15. August 2021 in Betrieb sein. Durch die verlängerte Ausphasierung haben die Bergbauunternehmen die Arbeiten im September 2022 für Deponien mit bis zu 12 Millionen Kubikmetern Haldenvermögen, im August 2025 für bis zu 30 Millionen Kubikmeter große Anlagen und bis August 2027 für Bauten mit mehr als 30 Millionen Kubikmeter Füllmasse an Bergbauschlämmen abzuschließen.
Doch selbst dies industrie-freundliche Herangehen hält Brasiliens Bergbauindustrie nicht ein. Ein Blick in den Bergbaubundesstaat Minas Gerais offenbart das Problem: von den 54 im Bundesstaat Minas Gerais existierenden nach dem „Upstream“-Verfahren gebauten Dämmen wurden 49 bislang nocht nicht zurückgebaut, heißt es in jüngst von der Landesumweltstiftung Fundação Estadual do Meio Ambiente (Feam) erstellten Studie.
Der Präsident des Industrieverbands des Bundesstaates Minas Gerais (Fiemg), Flávio Roscoe, bezeichnete jüngst die angegebene Frist hingegen als „nicht realisierbar“. Er schätzt, dass der Stilllegungsprozess mindestens bis 2030 andauern wird. „Es hat keinen Sinn, eine nicht realisierbare Frist zu setzen. Der Gesetzgeber hat damals ein Datum festgelegt, ohne sich eingehend damit zu befassen, wie das überhaupt geschehen sollte“, so der Fiemg-Präsident Roscoe. Nach Angaben von Roscoe habe der Bergbausektor in den letzten drei Jahren bereits 16,7 Mrd. R$ – umgerechnet derzeit 2,7 Milliarden Euro – in Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit dieser Dämme und deren Stilllegung investiert. Laut der von Fiemg veröffentlichten Übersicht wurden sieben Staudämme bereits zurückgebaut und bei 12 weiteren erfolge deren Rückbau bis zum 25. Februar 2022. Insgesamt komme die Industrie somit auf 19 zurückgebaute Tailingdämme der Baumarke „Upstream“. Laut der Landesumweltbehörde Feam sind von den 54 stromaufwärts gelegenen Bauwerken in Minas Gerais aber bisher nur fünf „Upstream“-Tailingdämme zurückgebaut und befänden sich in der Phase der Umweltsanierung, der letzten Phase des Rückbaus von Dämmen, also des Neubepflanzen etc.
Viele Dämme (tailings) von Bergwerksdeponien werden nach dem „Upstream“-Verfahren gebaut, denn dieses ist das bei weitem kostengünstigste, aber eben auch das bruchanfälligste aller Tailingdammsysteme. Dann gibt es noch das Center-Verfahren und das Downstream-Verfahren. Das letzte, das Downstream-Verfahren, ist das teuerste, aber es ist das sicherste aller Tailing-Dammbau-Verfahren. Zur Erinnerung: die Statistik zu Dammbrüchen sagt, dass Tailingbrüche, also Brüche von Dämmen von Bergwerksdeponien, statistisch um den Faktor 10 häufiger brechen als Wasserkraftstaudämme (weswegen interessanterweise die International Commission on Large Dams (ICOLD) in ihrem 58.000 Staudämme umfassenden Register keine Dämme von Bergwerksdeponien aufnehmen mag, weil die ja dann die Statistik der Dammbrüche so verheerend aussehen lassen würden). Beim „Upstream“-Verfahren wird ein Damm errichtet, hinter diesen der Bergwerksschlamm gelagert, ist dieser dann nach einigen Jahren getrocknet, wird auf den Damm und einen Teil des dann (hoffentlich genügend) ausgetrockneten Materials ein neuer Damm errichtet, der dann wieder eine Schicht Schlamm aufnimmt. Dieser Prozess kann bis zu zehn Mal wiederholt werden, so dass es zu mehreren hundert Meter hohen Dammkonstruktionen kommen kann. Beim Center-Verfahren wird die Aufstockung jeweils auf dem Dammbereich vorgenommen, beim „Down-Stream“-Verfahren wird bergab die Dammerweiterung vorgenommen. „Upstream“-Dämme sind in Lateinamerika beispielsweise in Chile schon längst verboten. In Brasilien zieht sich das noch hin.
In die Länge gezogen werden auch die Entschädigungszahlungen für die Betroffenen, die die Bergbaufirma Vale leisten muss. Noch immer sind nicht alle entschädigt worden, noch immer laufen Prozesse, noch immer taktieren die Anwält:innen im Auftrag von Vale, berichten brasilianische Medien. Eigentlich schreibt Brasiliens Rechtssprechung dafür einen Maximalzeitrum von bis zu drei Jahren vor. Doch juristisch innovative Argumentationsmöglichkeiten finden sich immer, so berichtet die Zeitung Brasil de fato. So haben zum Beispiel viele der Betroffenen des Dammbruches von Mariana noch immer keine Entschädigung erhalten, auch die versprochenen und gerichtlich festgehaltenen Neusiedlungen wurden bisher nicht umfänglich fertiggestellt. Der Bruch von Mariana ist nun über sechs Jahre her. Der Weg für Gerechtigkeit ist lang, ob er je zum Ziel führt, bleibt fraglich.