Solidarität? Vergessen Sie’s – Reflexionen über einen (un)strittigen Begriff
Im Herbst 2010 organisierten wir an der Uni Innsbruck ein Treffen des Geographischen Arbeitskreises Entwicklungstheorien, um über neuere entwicklungstheoretische Ansätze – insbesondere Post-Development und postkoloniale Theorien – nachzudenken und zu diskutieren. Recht einig waren sich die Teilnehmer*innen dabei über die Kritik am Entwicklungsbegriff; nicht wirklich neu erschienen Fragen nach dem eurozentrischen Gehalt von Entwicklung, die Infragestellung der Vorstellung eines linearen Entwicklungsweges und die Kritik am Vorbildcharakter moderner, westlich-kapitalistischer Gesellschaften. Doch als dann auch noch der Solidaritätsbegriff kritisiert und die Möglichkeit der Zusammenarbeit auf Augenhöhe infrage gestellt wurde, war die Aufregung groß. Sollte nun auch noch der vermeintlich letzte positive Bezug einer inter- oder transnationalen Zusammenarbeit verabschiedet werden? War nicht Solidarität – jenseits der macht- und interessenverstrickten Entwicklungshilfe bzw. -zusammenarbeit – der unumstößliche Grund und die beste Motivation für ein internationalistisches Engagement?
Tatsächlich blickt der Begriff der Solidarität in seinem europäischen Gebrauch auf eine lange Geschichte zurück. Bereits im Römischen Recht bezeichnete das „obligatio in solidum“ die gemeinsame Haftung einer Rechtsgemeinschaft, was später auch in die französische Revolutionsverfassung Einzug fand. Doch das Motto „einer für alle und alle für einen“ galt dabei nicht uneingeschränkt. Frauen und Sklav*innen blieben zunächst ausgeschlossen. Im Zuge der Industrialisierung Europas und der damit verbundenen Kämpfe um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen spielte der Solidaritätsgedanke im Sinne des Einstehens für gemeinsame Interessen und der Etablierung eines gemeinsamen Kampfes der Arbeiter(*innen)klasse eine zentrale Rolle; zumeist auch über nationalstaatliche Grenzen hinaus. Nachdem die Versuche, eine internationale Solidarität der Arbeiter(*innen)klasse parteipolitisch zu institutionalisieren (1.-3. Internationale) spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkrieg gescheitert waren, gewann der Begriff der (internationalen) Solidarität erst wieder mit der Student*innenbewegung der 68er an Bedeutung – zumindest was den westdeutschen Kontext angeht. Die Solidarität richtete sich dabei vor allem auf die unterschiedlichen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt (die damals noch ohne Zusatz so bezeichnet wurde), ob in Algerien, Vietnam oder Nicaragua. Jedoch dienten die nationalen Befreiungsbewegungen immer auch als Identifikations- und Projektionsfläche. Da sich in der BRD keine revolutionären Veränderungen der bestehenden Verhältnisse abzeichneten, sollte die Revolution zunächst in den Ländern der „Dritten Welt“ erfolgen, sodass man selbst Teil einer weltumspannenden Veränderung sein konnte. So schreibt Pascal Bruckner in seinem Buch „Das Schluchzen des weißen Mannes“ (1984) recht zynisch: „Die Dritte Welt Solidarität ging (...) davon aus, daß ein stummer Pakt die Befreiungsbewegungen mit ihr verband, daß diese Bewegungen sich selbst als Garanten für die Zukunft des internationalen Klassenkampfes sahen. Die südliche Hemisphäre war für die multinationalen Konzerne eine wunderbare Rohstoffreserve, für eine gewisse Linke wurde sie zu einer phantastischen Mine von Illusionen. (...) Im Überschwang ihrer Begeisterung hatte die Linke Menschen und Dinge so gründlich nach ihren Vorstellungen umgemodelt, daß sie lange brauchte, um ihren tragischen Irrtum festzustellen“[i].
Auch wenn sich seitdem sowohl die internationalen geopolitischen Rahmenbedingungen als auch die Zusammensetzung der Solidaritätsbewegung grundlegend verändert haben, sind doch die ungleichen strukturellen Voraussetzungen und die Fallstricke für internationale Solidaritätsarbeit nach wie vor vorhanden. Somit macht es durchaus Sinn, den Solidaritätsbegriff und die mit ihm zusammenhängenden Logiken, Legitimationsmuster und Praktiken genauer in den Blick zu nehmen und einer kritischen Analyse zu unterziehen.
Nach wie vor besteht die Gefahr, dass Menschen, Lebensbedingungen und Kämpfe im Globalen Süden als Projektionsflächen für die eigenen Vorstellungen und Hoffnungen dienen. So werden gerade bei Kampagnen mit indigenen Gemeinschaften Bilder einer unberührten Natur, eines Lebens im Einklang mit der Natur und Vorstellungen von den „Edlen Wilden“ heraufbeschworen und reproduziert. Dabei spielen nicht nur strategische Überlegungen hinsichtlich des Erfolgs und der Medienwirksamkeit der Kampagne eine Rolle. Vielmehr werden auch aufgrund der eigenen Vorstellungen von Indigenität und Authentizität bestimmte Bilder bedient und dadurch Rollenzuschreibungen festgeschrieben. Auf der Suche nach dem widerständigen Subjekt werden indigene Gemeinschaften, Landlose oder Frauen oftmals als einheitliche Subjekte konstruiert, auf ihre Position innerhalb der Widerstandsstrukturen reduziert und ihre Lebensweisen romantisiert (Essentialisierungen).
Solidarität wird häufig als Einsatz für die Armen und Unterdrückten verstanden. Einem solchen Verständnis von Solidarität als Hilfe für diejenige, die sich selbst nicht wehren können[ii], liegt immer auch ein paternalistisches Moment der Bevormundung und Entmündigung zugrunde. Dabei werden „die Anderen“ als Opfer, Unterdrückte, Hilfsbedürftige etc. festgeschrieben, wodurch ihre Position als aktive Subjekte zum Verschwinden gebracht wird. Handlungsfähigkeit und die Übernahme von Verantwortung wird ihnen dadurch tendenziell abgesprochen.
In ihrem viel beachteten und viel diskutierten Essay „Can the subaltern speak?“ kritisiert Gayatri Chakravorty Spivak (2008)[iii] die Rolle von sogenannten Expert*innen (seien es Intellektuelle, Wissenschaftler*innen oder auch NGO-Vertreter*innen) bei der Repräsentation von subalternen[1] Gruppen. Die Annahme, die Position subalterner Gruppen verstehen und vertreten und somit letztlich in deren Namen sprechen zu können, hält sie letztendlich für ein illegitimes Mittel der Übernahme von Sprecher*innenpositionen. Bei ihrer Analyse geht es jedoch weniger um die Frage, ob die Subalternen sprechen könne oder nicht, sondern vielmehr darum, durch welche Mechanismen der Repräsentation ihre Stimmen ausgeblendet, vereinnahmt oder zum Schweigen gebracht werden. Ein solches „Wissen über“ und „Sprechen für“, das auch in vielen solidarischen Zusammenhängen aufscheint, kann somit auch als gewaltvolles Moment der Aneignung gedeutet werden, wodurch die Welt als Objekt unseres westlichen Wissens reproduziert wird.
Gleichzeitig ist in einem solchen „Sprechen für“ auch eine „uneingestandene Geste der Selbstüberhöhung“[iv] angelegt. Indem „die Anderen“ als hilfsbedürftig und arm dargestellt werden, können wir uns als handelnde und selbstbestimmte Subjekte wahrnehmen und inszenieren. Durch die Benennung von anderen Ländern und Kontexten als wahlweise unterentwickelt, korrupt oder frauenfeindlich, kann der eigene Kontext als relativ entwickelt, zivilisiert oder gerecht dargestellt werden. In Abgrenzung zu den oder dem „Anderen“ wird das Eigene hergestellt und bewertet. Schließlich werden durch solche Prozesse des Othering existierende Herrschaftsverhältnisse perpetuiert. Indem man sich selbst bspw. als „Sprachrohr der Unterdrückten“ versteht, werden bestehende Ungleichheitsverhältnisse (wer spricht? wer kann sprechen?) aufrecht erhalten und reproduziert.
Doch ist solidarische Zusammenarbeit im Kontext von ungleichen Machtverhältnissen und unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Unterdrückung heute überhaupt noch möglich, ohne in Paternalismus zu verfallen und Hierarchien zu reproduzieren? Hierbei warnt Gayatri Spivak davor, allzu einfache Lösungen und naive Auswege aus den Zwickmühlen internationaler Zusammenarbeit zu suchen: „Geschichte ist mächtiger als persönliches Wohlwollen. (…) In diesem Geschäft der Solidarität mit den Ärmsten der Armen im globalen Süden macht persönliches Wohlwollen nichts wett. Es ist christlich zu denken, dass man Tausende Jahre von Unrecht wieder gut machen kann, indem man einfach freundlich ist. Also gehe ich hin und (…) versuche, von ihnen und meinen Fehlern zu lernen. Solidarität? Um Himmels willen. Ich bin eine Kasten-Hindu. Vergessen Sie’s“[v].
Ein solches Statement geht tatsächlich an die Wurzeln des Solidaritätsgedankens, der im Allgemeinen auf der Idee von persönlichem Wohlwollen und individuellem Engagement beruht. Spivak weist darauf hin, dass unser Handeln in historische Zusammenhänge (Kolonialgeschichte), aktuelle Herrschaftsverhältnisse und Konzepte von Nationalismus und Rassismus eingebettet ist, die zu Unterdrückung und Ausschlüssen führen. Diese Strukturen sind immer Teil der Begegnung zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden und weisen uns bestimmte Plätze, Rollen, Identitäts- und Sprecher*innenpositionen zu. Aus diesen strukturellen Zusammenhängen können wir als Individuen nicht einfach heraustreten und sind wir noch so guten Willens. Somit erscheint die Anerkennung der Unmöglichkeit, aus den Verwobenheiten der Geschichte, den hegemonialen und rassistischen Macht- und Herrschaftsstrukturen einfach ausbrechen zu können, als Grundvoraussetzung für eine internationalistische Zusammenarbeit. Wir sind Teil dieser Strukturen und nehmen darin zumeist eine privilegierte Position ein.
Daraus folgt aber auch, dass eine Partnerschaft auf Augenhöhe, im Sinne einer Allianz zwischen zwei gleich gestellten Partner*innen, nicht möglich ist. Somit geht es nicht darum, bestehende Unterschiede kleinzureden und die Machtverhältnisse zwischen den Partner*innen auszublenden, sondern diese anzuerkennen und offenzulegen. Ein Verständnis davon, wie Ungleichheiten produziert und reproduziert werden, kann nur dann entstehen, wenn diese auch innerhalb von Solidarbeziehungen benannt und anerkannt werden, ohne dabei „den Anderen“ eine Opferrolle zuzuschreiben und ihnen Handlungsmacht abzusprechen.
Die Kritik an Konzepten und Praktiken der Solidarität soll bestehende Konzepte und Handlungsweisen in Frage stellen, ohne jedoch internationalistische Zusammenarbeit gänzlich abzulehnen. Vielmehr geht es um die Suche nach Anknüpfungspunkten, um eine Solidarität, die die bestehenden Ungleichverhältnisse und unsere Teilhabe daran mitdenkt, lebbar zu machen. Einen solchen Anknüpfungspunkt stellt vielleicht das mittlerweile berühmt gewordene Zitat der Murri-Aktivistin Lilla Watson dar: „Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit. Wenn du aber gekommen bist, weil deine Freiheit mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten“[vi]. Auf unseren Kontext übertragen bedeutet das, Solidarität nicht als Solidarität für andere zu verstehen, sondern Solidarität in einem gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele zu erleben. Dies zeigt jedoch gleichzeitig auch die Grenzen von Solidarität auf: Es geht nicht darum, die Kämpfe anderer als die eigenen Kämpfe zu verstehen, sondern um die Verbindung der unterschiedlichen Kämpfe. Nur so kommt es zur Abkehr von einer einseitig verstandenen Solidarität, die vom Globalen Norden ausgeht und auf den Globalen Süden abzielt. Es geht um gemeinsame Kämpfe gegen Ausgrenzung, Ausbeutung und Unterdrückung innerhalb einer kapitalistisch organisierten, globalisierten Welt, wobei auch im Norden emanzipatorische Veränderungen erkämpft werden müssen. Es geht darum, Kämpfe gegen Monokulturen und Vertreibungen mit Kämpfen gegen eine imperiale Lebensweise in Verbindung zu bringen; Auseinandersetzungen um Agrartreibstoffe, CDM- und REED+-Projekte, um Uran-, Kohle- oder Eisenerzabbau, um die Auswirkungen der WM oder der Olympischen Spiele im Globalen Süden wie im Globalen Norden zu führen. Es geht darum, strategische Allianzen zu entwickeln, ohne dabei bestehende Machtverhältnisse und Widersprüchlichkeiten auszublenden.
Einen weiteren Ansatzpunkt des Umgangs mit den bestehenden Ungleichheitsstrukturen benennt Spivak mit ihrer Aufforderung „unlearning one’s privileges as loss“[vii]. Die eigenen Privilegien können zwar nicht einfach abgelegt, aber durchaus verlernt werden, indem wir sie uns bewusst machen und den Blick auf uns wenden. Das bedeutet nicht auf die Marginalisierten zu schauen, sondern vielmehr, die eigene privilegierte Position zu sehen und anzuerkennen und nach den Mechanismen zu fragen, die unsere Privilegien stützen (Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft etc.). Es geht darum, nach den Normalisierungs- und Universalisierungsmechanismen zu fragen, die bestimmte Werte und Standards als normal annehmen und auf andere Kontexte übertragen. Die eigenen Privilegien zu hinterfragen heißt auch, nach eigenen Ausblendungen zu suchen und diese ins Blickfeld zu nehmen. Allzu oft beruhen Kampagnentexte, Spendenaufrufe oder Projektbeschreibungen nach wie vor auf eurozentrischen Annahmen, kolonialen Bildern oder rassistischen Denkweisen. Das Verlernen der eigenen Privilegien heißt auch, zu versuchen, bestehende Repräsentationsmechanismen in Frage zu stellen: Wo sprechen wir für andere? Wann bringen wir andere zum Schweigen? Wo legen wir andere in einer bestimmten Subjektposition fest? Wo üben wir Definitionsmacht aus? Wo bestehen in gemeinsamen Projekten Privilegien und Dominanzverhältnisse (Finanzierung, Entscheidungsstrukturen etc.) und wie können diese abgebaut werden? Inwiefern produzieren auch wir Wissen über Andere und verfestigen somit eurozentrische Sichtweisen?
Ein solcher Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien und des Nachdenkens über die eigenen Verstrickungen sowohl auf persönlicher als auch auf institutioneller Ebene kann sehr schmerzhaft sein. So etwas schreckt ab, verunsichert, irritiert und verletzt. Dabei werden Emotionen geweckt und Widerstände hervorgerufen. Dies kann aber nur dann fruchtbar sein, wenn die aufkommenden Abwehrmechanismen überwunden werden und die Bereitschaft besteht, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Ein Verlernen der eigenen Privilegien und ein Neu-Lernen von solidarischen Beziehungen kann nur dann entstehen, wenn wir bereit sind, unser eigenes Denken und Handeln zu reflektieren und uns damit auseinandersetzen, wie sich postkoloniale Denkweisen, ungleiche Machtverhältnisse und rassistische Strukturen auch in unseren Projekten und unseren Vorstellungen widerspiegeln. Dabei kann und soll es keine einfachen Antworten und klaren Vorgaben geben. Aber vielleicht können uns postkoloniale Theorien und Denker*innen Anregungen und Hinweise liefern, um nicht an Bestehendem festzuhalten, sondern über eine ständige Reflexion der eigenen Arbeit und Positionen neue Formen der solidarischen Zusammenarbeit entstehen zu lassen.
[1] Der Begriff „subaltern“ wird dabei vor allem in Sinne von Antonio Gramsci verwendet. Er bezeichnet damit bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die aufgrund von Herrschaftsverhältnissen und hegemonialen Strukturen von politischer Beteiligung und Artikulationsmöglichkeiten tendenziell ausgeschlossen sind.
[i] Bruckner, Pascal in: Hierlmeier, Josef (2006): Internationalismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Stuttgart: Schmetterling (Reihe Theorie.org); S.110 .
[ii] Moser, Bettina & Gilgenbach, Dominik (2012): Das Ende der Nord-Süd-Einbahnstraße? Post-Development, internationale Solidarität und zapatistischer Kaffee. In: arranca! (46), S. 16–18.
[iii] Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia & Kant.
[iv] Steyerl, Hito (2008): Die Gegenwart der Subalternen. Vorwort. In: Gayatri Chakravorty Spivak (Hrsg.): Can the Subaltern Speak? Wien: Turia & Kant, S. 11.
[v] Dhawan, Nikita (2009): Zwischen Empire und Empower: Dekolonisierung und Demokratisierung. In: Femina Politica 13 (2), S. 52–63.
[vi] Bernau, Olaf (2012): In der Autoritäts- und Identitätsfalle. Stichworte zur Debatte um Critical whiteness anlässlich des diesjährigen No Border Camps in Köln. In: PHASE 2 (44).
[vii] Spivak, Gayatri Chakravorty (1990): The post-colonial critic. Interviews, strategies, dialogues. New York: Routledge.