Getrübte Erwartungen: Warum trotz der Einführung des Ministeriums für indigene Völker die Ureinwohner*innen Brasiliens eine Verschärfung von Landkonflikten zu befürchten haben.
Die territoriale Rechtssicherheit indigener Völker in Brasilien lässt sehr zu wünschen übrig. Von den insgesamt 1.381 Gebieten, die von Indigenen beansprucht werden, wurden bislang 62% immer noch nicht demarkiert (d.h. physische Grenzziehung und Anerkennung). Somit wurde die in der brasilianischen Verfassung von 1988 festlegte Absicht, innerhalb von fünf Jahren, also bis 1993, alle Gebiete zu demarkieren, eklatant missachtet. Während der Amtszeit von Jair Bolsonaro wurden keinerlei indigene Territorien demarkiert.
Lula vertritt zwar eine andere politische Richtung als sein Amtsvorgänger Bolsonaro, der bereits während seines Wahlkampfs angekündigt hatte, „kein Zentimeter Land“ für Indigene freizumachen. In der Praxis vermag seine Regierung jedoch nicht die Schritte einzuleiten, die die Lebenssituation Indigener grundlegend verbessern würden. Es wurde letztes Jahr ein Ministerium für indigene Völker (Ministério dos Povos Indígenas - MPI) eingerichtet, mit der indigenen Ministerin Sonia Guajajara an der Spitze. Aufgrund dessen unzureichenden finanziellen Ausstattung und der mühsamen Strukturierung (erstmalige Einführung in der Geschichte Brasiliens) ist das Ministerium jedoch nur sehr begrenzt handlungsfähig. Unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen hat auch die Indigenenschutzbehörde FUNAI, die ebenfalls von einer Indigenen – Joênia Wapixana – geführt wird.
Besonders erschwert wird die Umsetzung sinnvoller politischer Vorhaben durch die ungünstigen Mehrheitsverhältnisse im Kongress. Über 50% der Kongressmitglieder gehören der parlamentarischen Agrarfront an (aktuell 340 von insgesamt 594 Mandatsträger*innen) und sehen die Rechte Indigener entsprechend als nicht prioritär an. So ist die Verabschiedung des Gesetztes 14.701/2023, welches das Rechtskonstrukt des sogenannten „marco temporal“ („Stichtagregelung“) legitimiert, nicht verwunderlich. Dieses Rechtskonstrukt besagt, dass Indigene, die nicht beweisen konnten, dass sie zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Verfassung am 05.10.1988 aktiv das von ihnen beanspruchte Gebiet besetzten, kein Anrecht auf jenes Land haben. Die Regelung verkennt somit grundlegend die leidvolle und gewaltsame Vertreibungsgeschichte Indigener in Brasilien.
Untergrabung rechtlicher Rahmenbedingungen zum Schutz indigener Völker
Besonders eklatant ist, dass das Gesetz just in demselben Zeitraum verabschiedet wurde, indem das Oberste Gerichtshof STF den „marco temporal“ für verfassungswidrig erklärte. Obwohl die oberste juristische Instanz des Landes diesen entscheidenden Beschluss fasste – der noch nicht offiziell veröffentlicht, sondern nur bekanntgegeben wurde – besteht immer noch die große Gefahr, dass diese Regelung umgesetzt wird. Möglich werden könnte dies durch den vom STF-Richter Gilmar Mendes einberufenen Vermittlungsausschuss („mesa de conciliação“). Innerhalb des STF ist dieser Richter zuständiger Berichterstatter für die Fragen zum „marco temporal“ und ihm gegenüber positiv eingestellt. Eigentlich sollte die Repräsentation aller beteiligter Stakeholder am Ausschuss gewährleistet sein. Faktisch wurden zum Verhandlungstisch jene Gouverneure als Vertreter*innen der Bundesstaaten eingeladen, die die Regelung befürworten, darunter z.B. der Gouverneur von Mato Grosso do Sul, Eduardo Riedel.
Die nationale Bewegung indigener Völker, APIB, die zu diesem Prozess eingeladen wurde, entschloss sich nach einiger Zeit aus diesem auszusteigen, da sie die dort diskutierten Forderungen als unvereinbar mit indigenen Interessen betrachtete. Daraufhin nominierte das MPI indigene Staatsfunktionäre (z.B. Indigene, die in der Behörde für indigene Gesundheit – SESAI – arbeiten), um im Ausschuss irgendeine Art indigener Repräsentation zu gewährleisten. Somit fiel das Ministerium der APIB auf erschütternder Art und Weise in den Rücken.
Selbst wenn das Inkrafttreten des „marco temporal“ über den Weg des Vermittlungsausschusses scheitern sollte, könnte es durch einen Verfassungsänderungsvorschlag (proposa de emenda constitucional – PEC) noch durchkommen. Für die Umsetzung dieses „Plan B“ haben rechtskonservative Abgeordnete mit der Ausarbeitung des PEC 48 bereits „vorgesorgt“. Das Beispiel des „marco temporal“ veranschaulicht, wie juristische und demokratische Entscheidungsprozesse in Brasilien untergraben und die Interessen ökonomischer Eliten über äußerst fragliche Umwege durchgesetzt werden können.
Indigene Schule im Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo Kinder die Guarani-Sprache lernen können. © Ramos Görne/ Misereor
INFOKASTEN
Die Arbeit von CIMI und CPT
CIMI ist die Fachstelle der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) für indigene Fragen. Zu den vielfältigen Wirkungslinien CIMIs gehören u. a. Rechtsberatung, Begleitung von laufenden Demarkierungsprozessen, Unterstützung von indigenen Mobilisierungsaktionen, Sichtbarmachung der Situation Indigener über Öffentlichkeitsarbeit sowie Beratung bei der Landnutzung. Von besonderer Bedeutung ist der jährlich von CIMI herausgebrachte Bericht „Gewalt gegen die Indigenen Völker Brasiliens“, dessen Zusammenfassung auch auf Deutsch erscheint.
Die CPT ist die kirchliche Fachstelle für Landfragen und unterstützt die brasilianische Landbevölkerung, darunter u. a. Agrarreformsiedler*innen, Kleibäuerinnen, Mitglieder indigener und traditioneller Gemeinden bezüglich der Themen der territorialen Rechtssicherheit und Ernährungssouveränität. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der CPT seit ihrem Gründungsmoment ist die Prävention und Bekämpfung sklavenähnlicher Arbeitsbeziehungen. Der jährlich von ihr herausgebrachte Bericht über die Landkonflikte in Brasilien – inkl. deutscher Zusammenfassung – wird als Referenzdokument in nationalen und internationalen Lobbyprozessen genutzt.
Autor*innen:
- Matias Benno Rempel und Klenner Antonio da Silva – Regionalstelle von CIMI in Mato Grosso do Sul
- Rosani Santiago und Valdevino Santiago – Regionalstelle der CPT in Mato Grosso do Sul
- Madalena Ramos Görne – Projektreferentin für Brasilien bei Misereor e.V.
Weiterführende Informationen:
- 2023 hielt die Gewalt gegen Indigene an; das Jahr war geprägt von Angriffen auf Rechte und wenige Fortschritte bei der Demarkierung von Landgebieten | Cimi
- Release Geral_ALEMAO.pdf