Treibstoff statt Brot
Damit setzen sich Berlin und Brasilia über Forderungen sozialer Organisationen, der katholischen Kirche und der Vereinten Nationen hinweg, denen zufolge die Produktion und der Verbrauch von Agrarsprit angesichts der anhaltenden weltweiten Lebensmittelkrise gesenkt werden soll. In den vergangenen Wochen kam es in mehreren Armutsstaaten zu Protesten und Hungerrevolten, nachdem die Preise für Grundnahrungsmittel drastisch gestiegen waren. Experten führen dies auf die nicht zuletzt durch Berlin angeheizte Nachfrage nach "nachwachsenden Rohstoffen" zur Herstellung von Bio-Kraftstoffen zurück. Umweltschützer beobachten außerdem wegen der steigenden Treibstoff-Produktion eine zunehmende Rodung von Urwaldbeständen, so etwa im brasilianischen Amazonasbecken – mit katastrophalen ökologischen Folgen. Berlin, das die Produktion von Bio-Kraftstoffen mit Entwicklungsgeldern fördert, hält gegen alle Einwände an einer Steigerung des deutschen Konsums fest.
"Kriterien erfüllt"
Das neue deutsch-brasilianische Abkommen, das am 14. Mai von Bundeskanzlerin Merkel zum Beginn ihrer einwöchigen Lateinamerika-Reise unterzeichnet werden soll, ist Ende April von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel bei dessen Aufenthalt in Brasilien vorbereitet worden. Es stellt Gabriel zufolge eine ökologisch vertretbare ("nachhaltige") Produktion von Bio-Kraftstoffen sicher. Die Bestimmungen, die in Brüssel dafür gegenwärtig ausgearbeitet werden ("Nachhaltigkeitskriterien"), seien durch das Abkommen bereits erfüllt, sagte der deutsche Umweltminister in Brasilien.[1] Dadurch "gibt es keine Probleme mit Deutschland und Europa über den Import von brasilianischem Ethanol".[2] Brasilien ist nach den USA der zweitgrößte Produzent von Bio-Kraftstoffen weltweit.
Vom Tisch gefegt
Sowohl Umweltschützer als auch die katholische Kirche Brasiliens protestieren scharf. Gabriel habe sich leichtfertig über schwerwiegende Bedenken hinweggesetzt, heißt es: Grundlose "Versicherungen, dass durch Biokraftstoffe weder Regenwaldrodung noch Hunger drohten, reichten aus, um alle gegenteiligen Fakten und Berichte vom Tisch zu fegen".[3] Tatsächlich hat sich seit Mitte letzten Jahres unter anderem die Urwaldzerstörung rapide beschleunigt. Nach Angaben des Forschungsinstitutes Imazon, die noch während Gabriels Brasilien-Aufenthalt bekannt wurden, waren in den brasilianischen Bundesstaaten Mato Grosso und Pará von Januar bis März 2008 trotz der Regenzeit mindestens 214 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt worden, dreimal so viel wie in den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres.[4] "Um noch mehr Agrarsprit nach Deutschland exportieren zu können, sollen in Brasilien neue Anbauflächen erschlossen werden", fassen soziale Organisationen die Entwicklung zusammen.[5] Dabei bedroht die Agrarindustrie nicht nur unmittelbar eine Reihe wertvoller Ökosysteme.[6] Der Raubbau am Regenwald führt zudem dazu, dass immer weniger Kohlendioxid gebunden werden kann. Die daraus resultierenden Kohlendioxid-Emissionen machen Brasilien schon jetzt zum weltweit drittgrößten Klimasünder.
Vollständig falsch
Außerdem wird auch auf früheren Weideflächen immer mehr Zuckerrohr zur Treibstoff-Produktion angebaut. Das hat zur Folge, dass die bislang auf diesen Ländereien betriebene Viehhaltung in andere Regionen (zum Beispiel in den Urwald) zurückgedrängt wird – oder eben auch auf Plantagen, auf denen zuvor Lebensmittel angebaut wurden. Dies belegen laut der "Kommission für Landseelsorge" (CPT) der katholischen Kirche in Brasilien mehrere neue Studien. Gegenteilige Aussagen der Umweltminister Brasiliens und Deutschlands weist der Generalsekretär der CPT als "vollständig falsch" zurück.[7]
1,2 Milliarden Hungernde
Inzwischen fordern auch die Vereinten Nationen die EU und die Vereinigten Staaten auf, ihre jeweiligen Biosprit-Programme einzuschränken. "In den USA wandert in diesem Jahr bis zu einem Drittel der Mais-Ernte in den Benzintank. Das ist ein riesiger Rückschlag für die weltweiten Lebensmittelvorräte", sagt Jeffrey Sachs, Armutsberater des UN-Generalsekretärs.[8] Die EU hat ihrerseits im vergangenen Jahr unter deutschem Druck beschlossen, bis 2020 den Agrarsprit-Anteil am Gesamtbenzinverbrauch auf zehn Prozent zu erhöhen.[9] Bereits jetzt kann die Bevölkerung in einer Vielzahl von Armutsstaaten die Preise für Grundnahrungsmittel nicht mehr bezahlen, weil sie in den vergangenen Monaten wegen des Biosprit-Booms rapide gestiegen sind. So hat sich beispielsweise der Preis für eine Tonne Reis – ein Grundnahrungsmittel in Asien, Afrika und Lateinamerika – seit Jahresbeginn von knapp 400 US-Dollar bis Anfang April auf über 900 Dollar pro Tonne mehr als verdoppelt.[10] In den vergangenen Wochen eskalierten Hungerrevolten von Lateinamerika (Haiti) über afrikanische Länder (Ägypten, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Mauretanien, Moçambique, Senegal, Somalia) bis nach Asien (Indonesien). "Die Zahl der Hungernden erhöht sich mit jedem Prozent Preissteigerung für Grundnahrungsmittel um 16 Millionen", heißt es in einer Studie zweier US-Ökonomen aus dem Jahr 2003: "Das bedeutet, dass im Jahr 2025 1,2 Milliarden Menschen hungern könnten – 600 Millionen mehr als wir 2003 prognostizierten".[11]
Verjagt
Auch durch den Landhunger der Großkonzerne, darunter europäische, wird die ohnehin prekäre Situation vieler Menschen weiter verschärft. Infolge des Agrartreibstoff-Booms suchen Betreiber von Agrardiesel- und -Ethanol-Raffinerien nach ergiebigen Ländereien – und nötigen deren Besitzer zum Abschluss von Kauf- oder Pachtverträgen. Die Entschädigungszahlungen, die an die Bauern geleistet werden, reichen jedoch für deren Existenzsicherung meist nicht aus. Kleine Landpächter werden nicht selten sogar einfach verjagt, wenn sie die Pachtzinsen für die im Wert steigenden Ländereien nicht mehr bezahlen können.[12]
Weiter so
Verantwortlich für die Entwicklung sind vor allem die Vereinigten Staaten sowie die Europäische Union – mit Deutschland an der Spitze. Während die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft einen Wert von zehn Prozent Biosprit-Beimischung bis zum Jahr 2020 beschlossen hat, strebt die Bundesregierung für Deutschland sogar einen Anteil von 20 Prozent an – und will an den Agrarsprit-Importen festhalten.[13] Brasilien spielt hierbei für Deutschland eine Schlüsselrolle. Dabei setzt Berlin auch Mittel der sogenannten Entwicklungshilfe ein. So ist die bundeseigene Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) Anfang 2005 in ein Projekt eingestiegen, das deutschen Unternehmen den Zugang zur Branche öffnen kann; daran beteiligt ist der brasilianische Marktführer "Brasil Ecodiesel" (Marktanteil: mehr als 50 Prozent), an dem wiederum kurz nach Beginn des GTZ-Projekts die Deutsche Bank über eine US-Filiale fast die Hälfte der Anteile übernahm.[14] Das heute zur Unterzeichnung stehende Biosprit-Abkommen mit Brasilien baut auf diesen Entwicklungen auf und schreibt sie gegen alle Proteste fort.
[1] "Dem vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf zufolge soll dann nur noch Biomasse von nachhaltig bewirtschafteten Flächen eingesetzt werden. Auch darf der Anbau nicht auf Flächen erfolgt sein, die zum Stichtag 1. Januar 2005 Gebiete mit hohem Naturschutzwert waren oder danach dazu wurden. Außerdem soll die CO2-Bilanz um mindestens 30 Prozent, ab 2011 um 40 Prozent günstiger sein als bei fossilen Brennstoffen." Nachhaltigkeitskriterien sollen Biosprit grüner machen; AFP 06.05.2008
[2] Sigmar Gabriel fordert Nachhaltigkeit bei Ethanolproduktion in Brasilien; www.brasilienportal.ch 28.04.2008
[3] Regenwaldrodung per Regierungsabkommen Brasilien Deutschland; Gemeinsame Pressemitteilung von Rettet den Regenwald/ROBIN WOOD/FDCL/KoBra/BLUE 21, Berlin/Hamburg/Freiburg 09.05.2008
[4] Gabriel macht sich stark für Agrosprit; taz 03.05.2008
[5], [6] Regenwaldrodung per Regierungsabkommen Brasilien Deutschland; Gemeinsame Pressemitteilung von Rettet den Regenwald/ROBIN WOOD/FDCL/KoBra/BLUE 21, Berlin/Hamburg/Freiburg 09.05.2008
[7] "Ethanol-Produktion zerstört die Umwelt". Generalsekretär der brasilianischen "Kommission für Landseelsorge" weist besänftigende Äußerungen der Umweltminister Brasilias und Berlins zurück; KAP 30.04.2008
[8] UN: Europa und USA müssen Biosprit-Programme einschränken; Reuters 06.05.2008
[9] s. dazu Deutsche Retter
[10] Hungerpreise; Zeit online 14.04.2008
[11], [12] Oliver Müller: Volle Tanks und leere Teller. Dürfen Biotreibstoffe die Lösung unserer Energieprobleme sein?; Herder Korrespondenz 2/2008
[13] Gabriel hält an Biosprit-Importen fest; netzeitung 06.05.2008
[14] s. dazu Das Recht auf Treibstoff