Brasilien droht die Rückkehr auf die FAO-Weltkarte des Hungers
Die Weltkarte des Hungers ist seit 1990 ein alarmierender Indikator der UN-Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO in Rom. Brasilien war 2013 nach einer Politik erfolgreicher Sozialprogramme von dieser Liste gestrichen worden, weil weniger als 5% der Bevölkerung als unterernährt eingestuft wurde. Das Bild vom Norden und Nordosten als Armenhaus des Landes , vernachlässigt von staatlicher Aufmerksamkeit, schien gebannt. Das Null-Hunger-Programm, das unter Lula 2003 gestartet worden war, zahlte sich aus.
Heute tauchen Armut und Hunger wieder als drohende Szenarien auf. So fürchten 2,5 Millionen Brasilianer*innen erneut , in die unterste Armutskategorie abzurutschen. Der Sparkurs der neoliberalen Regierung Temer trifft soziale Programme besonders hart. Die Koordination für den Semiariden Raum ASA und weitere 19 NGOs wenden sich daher mit ihrer Analyse sorgenvoll an die FAO: 1,1 Millionen Familien wurde die staatliche finanzielle Transferleistung Bolsa familia (Sozialhilfe) gestrichen. Die Mehrzahl der betroffenen 4,3 Millionen Personen sind Kinder. Ende März haben Wissenschaftler*innen von den Gesundheitsorganisationen Fiocruz und der Escola Nacional de Saude Publica Sergio Arouca ermittelt, dass zwischen 2014 und 2016 die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben von gut 5.000 auf annähernd 10 Millionen angestiegen ist. Die Situation im Norden und Nordwesten wäre noch gravierender, hätte es in der jüngeren Vergangenheit nicht Programme zum Zisternenbau, die Sozialhilfe Bolsa familia oder kleinbäuerliche Subventionsleistungen wie Segura-Safra und Aposentadoria rural gegeben.
Armut und Hunger sind die Folgen extremer Ungleichheit. Obwohl Brasilien einer der größten Produzenten für Nahrungsmittel für den Weltmarkt ist, leiden laut Angaben des Statistikinstituts IGBE 3% der Bevölkerung an Unterernährung. Gleichzeitig deckt die Produktion kleinbäuerlicher Landwirtschaft 70% des Nahrunsmittelbedarfs der brasilianischen Bevölkerung. Der Kleinbauernverband MPA beklagt, dass die Regierung Temer den kleinbäuerlichen Sektor sträflich vernachlässige. So wurden Programme zur Sicherung der Ernährungssouveränität in strukturschwachen Gebieten drastisch zusammengestrichen: Das Programm zur Schulspeisung Programa Nacional de Alimentacao Escolar (PNAE) und das Programm zur Nahrungsversorgung aus kleinbäuerlicher Produktion für Gefängnisse, Krankenhäuser und Schulen Programa de Aquisicao de Alimentos (PAA). Laut Angaben der Koordination für den Semiariden Raum ASA wurde das Programm PAA 2017 um 40% gekürzt. Statt 91.700 Menschen konnte das Programm nur noch 41.300 Personen erreichen. Im Gegenzug stieg die Arbeitslosigkeit exponentiell auf 14 Millionen an. Auch die Preise für Energie und Gas wurden in vielen Gegenden wiederholt angehoben. Die Lage spitzte sich so weit zu, dass Betroffene und NGOs zu drastischen Mitteln greifen, um auf die besorgniserregende Situation im Nordosten aufmerksam zu machen. Von Ende Juli bis Anfang August ziehen 90 Vertreter*innen knapp 3.000 Kilometer in einer Karawane gegen Hunger aus dem semiariden Nordosten von Caetés (PE) nach Curitiba (PR). Von Pernambuco aus wollen sie die Hauptstadt Paranás erreichen. Strategische Zwischenstopps sind die Feira de Santana (BA) und Guararema (SP). Abschließend wird die Gruppe vor den obersten Bundesgerichtshof STF nach Brasilia ziehen.