Abstauben in Rio de Janeiro
Das Stahlwerk TKCSA von ThyssenKrupp in Rio de Janeiro: Der Plan
Seit September 2006 baute ThyssenKrupp zusammen mit dem brasilianischen Bergbaukonzern Vale an einem Stahlwerkkomplex im Bundesstaat Rio de Janeiro. ThyssenKrup hielt zunächst 90 Prozent an dem Stahlwerkkomplex und die brasilianische Vale war mit 10 Prozent beteiligt, bis Vale im September 2009 ihren Anteil für den Betrag von 965 Millionen Euro auf knapp 27 Prozent aufstockte. ThyssenKrupp verblieb seitdem mit rund 73 Prozent die Mehrheit an der Companhia Siderúrgica do Atlântico (CSA) in der Bucht von Sepetiba. In den Medien ist die Rede von der größten deutschen Auslandsinvestition in Brasilien der letzten Jahre – jüngsten Zahlen zufolge bis zu sieben Milliarden Euro wurden in das Projekt investiert. Der gesamte Komplex setzt sich zusammen aus einem integrierten Stahlwerk mit einer Jahresproduktionskapazität von anfänglich 5,5 Millionen, später ausbaubar auf bis zu zehn Millionen Tonnen Brammen. Die Brammen sind große Stahlblöcke, die als Werkstoffe für die Weiterverarbeitung dienen. Die Kokerei sollte aus vier Millionen Tonnen Steinkohle pro Jahr, die aus Kolumbiens umstrittenen Bergbaugebieten per Schiff geliefert werden sollen, Koks für das Stahlwerk erstellen, und die giftigen Abgase der Kokerei sollten eingefangen und im angegliederten Wärme- und Stromkraftwerk rückstandslos verbrannt werden, dies gefördert über Clean-Development-Mechanismen. Das Kraftwerk mit einer Kapazität zur Erzeugung von 490 Megawatt Strom sollte auch Elektrizität ins öffentliche Stromnetz einspeisen, die diesbezüglichen Liefer- und Regulierungsverträge wurden bereits 2007 mit der Energiebehörde Agência Nacional de Energia Elétrica - ANEEL geschlossen. Und der Hafen des Komplexes besteht aus zwei Terminals und einer Brücke von vier Kilometern Länge und einem Pier von 700 Meter Länge, die den Mangrovenwald und die Bucht durchqueren. 60 Prozent der Brammen sollen nach Alabama und 40 Prozent nach Deutschland exportiert werden, um dort zu Blechen und Werkstoffen weiterverarbeitet zu werden, die vorrangig in der Automobilindustrie Verwendung finden sollten.
Das Stahlwerk und die Fischer
Der Ärger um das Stahlwerk fing Anfang 2007 an. Damals hörten die Fischer der Bucht von Sepetiba zum ersten Mal von den Plänen, dass an ihrer Bucht das größte Stahlwerk Lateinamerikas gebaut werden solle. Daraufhin versuchten sie, mit Verantwortlichen der Firma Kontakt aufzunehmen, um Genaueres zu erfahren. Doch sie erhielten keinen Termin. Dann passierte irgendetwas in der Bucht, was die Fänge der Fischer um bis zu 80 Prozent zurückgehen ließ. Die Fischer sind sich sicher, dass bei den Ausbaggerungsarbeiten für den Hafen die Sedimente unsachgemäß aufgewirbelt wurden, so dass die an den Feststoffen sich anreichernden Schwermetalle Zink, Kadmium und Arsen wieder freigesetzt wurden. Diese hochtoxischen Stoffe entstammen der bereits in den 1980er Jahren pleite gegangenen Zinkfabrik Ingá Mercantil, auf deren brach liegendem Grundstück in den neunziger Jahren ein Damm gebrochen war: Unzählige Tonnen an Schwermetallen ergossen sich damals in die Bucht. Fischfang war jahrelang nicht möglich.
Doch durch den Ablagerungsprozess war die Wasserqualität in der Bucht im Lauf der Jahre wieder besser geworden, berichten die Fischer. Doch dann kam ThyssenKrupp. Die deutsche Firma kannte sehr wohl die örtlichen Begebenheiten. Beim Erwerb des Geländes war die Verseuchung der Sedimente in der Bucht kein Geheimnis. ThyssenKrupp und die Regierung von Rio vereinbarten die Modalitäten, unterschrieben schön klingende Umweltschutzvereinbarungen – und die Verträge über Steuerleichterungen für die Firma. Und ab 2007 kamen die Ausbaggerungsschiffe, die für ThyssenKrupp den Hafenzugang tiefer ausbaggern sollten – und auf einmal blieben die Netze der Fische von Tag zu Tag leerer. Die Fischer mutmaßen, dass die toxischen Sedimente wieder aufgewirbelt wurden – und dass dadurch die Fischbestände so dramatisch gesunken sind.
Seit Beginn der Bauarbeiten habe sich so die Wasserqualität dort massiv verschlechtert. "Unsere Fänge gingen um bis zu 80 Prozent zurück", berichtet der Fischer Luis Carlos Oliveira. Nach Angaben von Umweltschutzorganisationen wurden durch Ausbaggerungsarbeiten die in der Bucht abgelagerten Schwermetalle wieder aufgewirbelt. "Doch dieses Problem war ThyssenKrupp bereits vor Baubeginn bekannt. Das Unternehmen hätte angemessene Gegenmaßnahmen ergreifen müssen", erklärte Karina Kato vom PACS Institut in Rio de Janeiro, die die Fischer seit Jahren unterstützt. Auch fehlende Genehmigungen hinderten ThyssenKrupp nicht am Bau des größten Stahlwerks Lateinamerikas. "ThyssenKrupp hat nur eine Baugenehmigung der Umweltbehörde des Bundesstaats Rio de Janeiro, diese ist aber gar nicht zuständig", so Kato. "Die allein zuständige Bundesumweltbehörde IBAMA hat nie eine Genehmigung erteilt." Die Staatsnwaltschaft von Rio de Janeiro und die Menschenrechtskommission des Parlaments des Bundesstaates von Rio de Janeiro (ALERJ) ermitteln wegen dieser Frage der rechtlichen Zuständigkeit der Erteilung der Genehmigungen.
Neben der Gefahr der Schwermetalle gibt es in der Bucht das Problem der zunehmenden Verschlickung: die Strömungen haben sich geändert, und die Fischer müssen durch den Schlick zu ihren Booten staken. "Das habe ich ein paar Mal gemacht", berichtete der Fischer Pedro. "Danach hatte ich sofort schlimmsten Ausschlag an den Beinen. Das dort ist alles komplett verseucht!" Hinzu kommt: "ThyssenKrupp hat genau an der Stelle die Hafeneinfahrt ausbaggern lassen, die wir Fischer seit Generationen schützen, weil dort die bevorzugten Laichgründe der Bucht sind", erklärte Pedro. So fangen die Fischer bis heute nur bis zu einem Fünftel ihrer vorigen Beträge – dies geht aus den Statistiken des Fischereiverbandes FAPESCA des Bundesstaates Rio de Janeiro hervor.
Wer sollte den Fischern ihre Einkommenseinbußen ersetzen? "ThyssenKrupp", da waren sich die Fischer sicher. Doch niemand von der Firma ließ mit sich reden. So begannen die Fischer ihren Protest. Mit 42 Fischerbooten umzingelten sie im Jahr 2008 ein Industrieschiff, das mit Aushebungsarbeiten für den Hafenzugang beschäftigt war, und so die Bauarbeiten für mehrere Stunden unterbrochen. Erst dann erklärte sich ein Verantwortlicher des Kruppstahlwerks zu Gesprächen bereit. "Am Nachmittag um vier kam dann jemand Hohes von der Firma – er wurde mit einem Hubschrauber zu uns geflogen", berichtete der Fischer Luis Carlos. Danach kam es zu einem Treffen mit Vertretern der Firma. "Aber was sie uns zeigten, war ein Video über das tolle, neue Stahlwerk – und wie schön alles werden würde", so der Fischer.
Luis Carlos ist seit 50 Jahren Fischer. Den Beruf hat er im neunten Lebensjahr von seinem Großvater gelernt, der auch Fischer an der Bucht von Sepetiba war. Luis Carlos ist wegen früher Kinderlähmung Rollstuhlfahrer – und er ist Fischer aus Leidenschaft. Doch Fischen kann er nicht mehr. Sein Boot liegt verlassen, ebenso ist sein Haus verwaist. Denn am 6. Februar 2009 um 11 Uhr vormittags erhielt er die letzte Warnung: Er befand sich gerade mit anderen Fischern auf der Straße, als ein Auto neben ihnen anhielt. Die getönten Scheiben des Wagens wurden heruntergelassen – und die Insassen des Autos zeigten dem am Straßenrand haltenden Fischer demonstrativ eine Waffe. In den Gegenden in Rio de Janeiro, in denen die Milizenmafias herrschen – und Sepetiba gehört zu diesen Gebieten – ist dieses Zeichen unmissverständlich: "Du wirst sterben."
Das Stahlwerk und die Milizen: Mafia, Macht, Mandate
Die Region, in der das Unternehmen die nach eigenem Bekunden "größte" privatwirtschaftliche ausländische Direktinvestition in Brasilien der letzten Jahre baute, ist bekannt als Gebiet, in dem eine der gefährlichsten Milizen Rio de Janeiros agiert. Verschwundene und Morde sind dort alltäglich. In einem solchen Umfeld verschiedenster krimineller Interessen und Machträume ist die Artikulation von Widerstand derjenigen, die gegen den Bau des Stahlwerkes protestieren, äußerst schwierig.
Bislang konnten sich Milizionäre in Rio de Janeiro relativ sicher fühlen, nur selten wurde einer von ihnen rechtlich belangt. 24 Milizionäre wurden 2007 festgenommen. Die meisten von ihnen, weil sie wegen kleinerer Delikte, wie dem Tragen von nicht-registrierten Waffen, aufgefallen waren. Doch das waren immerhin mehr Verhaftungen als 2006, im Jahr des Höhepunkts der Aktivitäten der Milizen in Rio de Janeiro. Die Zahlen der verhafteten Mitglieder dieser kriminellen Vereinigungen sprechen für sich: Es waren 2006 ganze vier. Ab 2009 und 2010 stiegen die Zahlen der Verhaftungen an, auch weil die Öffentlichkeit mehr und mehr Druck ausübte. Dennoch kontrollieren noch immer Milizen ganze Stadtteile in Rio de Janeiro. Und die Westzone von Rio de Janeiro, dort wo Santa Cruz liegt, der Stadtteil, in dem ThyssenKrupp das Stahlwerk TKCSA errichtet hat, ist eine ihrer Hochburgen. Ab 2006 kandidierten erstmals einige Milizenführer bei den Wahlen zum Stadtparlament und wurden prompt gewählt. Es ist vor allem diese brisante Mischung aus krimineller Vereinigung, lokaler Machtausübung und politischer Einflussnahme – sei es durch Bestechung, Erpressung oder durch eigene Ambitionen, politische Mandate zu erlangen –, die die Milizen zur mittlerweile größten Bedrohung in Rio de Janeiro haben anwachsen lassen.
"Es war nach unserem ersten Protest. Wir hatten uns am Rande des Kanals zur Besprechung versammelt. Da kam jemand auf mich zu und hat mir gedroht und gesagt: «Pass‘ auf, Alter! Diese Firma ist sehr mächtig!»", berichtet Luis Carlos. Aber dadurch habe er sich nicht einschüchtern lassen. "Und wir haben trotz der Drohungen weiter gemacht". Dann kam die Blockade der Industrieboote durch die 42 Fischerkähne – und die Proteste gingen weiter, da sich von Seiten der Firma niemand zeigte, der die Fischer ernstzunehmen bereit schien. Doch die Bedrohungen gegen seine Person nahmen zu. Luis Carlos erhielt des Nachts anonyme Telefonanrufe. Vermummte und bewaffnete Männer stiegen in seinen Vorgarten ein und zeigten sich demonstrativ vor seinem Fenster. Die Drohungen nahmen zu.
Dann befand sich Luis Carlos eines Tages an der Straße – und das Auto mit den getönten Scheiben fuhr heran, die Scheiben wurden halb herunter gelassen und Luis Carlos wurde aus dem Wageninneren die unmißverständliche Botschaft geschickt. "Um 16 Uhr am gleichen Nachmittag habe ich den Bundesstaat Rio de Janeiro verlassen", erzählt Luis Carlos. Seither musste er in vier verschiedenen Bundesstaaten leben, ohne jeden Kontakt zu seiner Familie. Gut drei Jahre wurde Luis Carlos von der brasilianischen Bundespolizei geschützt – sein Aufenthaltsort war nur den wenigen Mitarbeitern des Bundesprogramms zum Schutz für Menschenrechtsverteidiger bekannt. Die Aufnahme in das Menschenrechtsschutzprogramm der brasilianischen Bundesregierung wurde Luis Carlos in einem Dokument bescheinigt. In dem heißt es, dass er "Morddrohungen von Polizisten (Zivil- und Militärpolizisten) und von Milizionären" erhalten hat. In Bezug auf die Milizionäre fährt das Dokument wörtlich fort: "Milizionäre, die mutmaßlich angestellt sind für den Werkschutz der Gruppe ThyssenKrupp, die gemeinsam mit Vale do Rio Doce verantwortlich ist für den Bau des Stahlwerks CSA". Die brasilianische Bundesregierung geht demnach davon aus, dass der Werkschutz der TKCSA "mutmaßlich" aus Milizionären besteht.
Mit dieser Aussage steht der Fischer nicht allein. Ein hochrangiger Gewerkschafter des brasilianischen Gewerkschaftsverbandes CUT hat schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte des Stahlwerks TKCSA erhoben. Auf einer Anhörung der Menschenrechtskommission des Parlaments des Bundesstaates Rio de Janeiro sagte Jadir Baptista, Mitglied des Direktoriums der CUT im Bundesstaat Rio de Janeiro, dass er beim Versuch, im Rahmen seiner Gewerkschaftsarbeit die Mitarbeiterunterkünfte des Stahlwerks TKCSA aufzusuchen, von einem der dortigen Sicherheitskräfte unter Androhung von Schusswaffengebrauch daran gehindert wurde "Die haben uns dort rausgeworfen. Mit Revolver am Kopf", sagte der CUT- Gewerkschafter gegenüber dem Gremium aus. Dies geht aus der Niederschrift des Wortprotokolls der Anhörung vom 14. Dezember 2010 hervor. Der Gewerkschafter Jadir berichtete weiter, dieses Vorgehen sei reines Banditentum: "Die werfen dort alle raus, mit der Waffe am Kopf." Jadir Baptista war 28 Jahre Metallarbeiter beim brasilianischen Stahlkonzern CSN. Er arbeitete dort als Techniker in der Kokerei. Heute ist er Mitglied des Direktoriums der CUT im Bundesstaat Rio de Janeiro. Anfang der 1990er Jahre hatte Jadir Baptista auch an gewerkschaftlichen Schulungsmaßnahmen und Netzwerktreffen mit Stahlarbeitern im Ruhrgebiet teilgenommen.
Das Problem der Mafiamilizen in der Westzone Rio de Janeiros ist bekannt. Amnesty International organisierte im Jahr 2009 eine Eilaktion für die von den Milizen bedrohten ParlamentarierInnen, und die Heinrich Böll Stiftung hatte schon im Jahre 2008, gemeinsam mit brasilianischen Partnerorganisationen, einen Hintergrundbericht zu den Milizen in Rio de Janeiro verfasst. Darin wird erklärt, wie die Angst vor den lokalen Milizen die Strafverfolgung gleichsam unterdrückt. Es ist das Gesetz des Schweigens, an das sich alle in der Region halten, wenn sie ihr Leben nicht in Gefahr bringen wollen. Der Fischer Luis Carlos hat die Gefahr gekannt. Er hat dennoch darüber öffentlich gesprochen. Seither lebt er versteckt.
Das ihn schützende Menschenrechtsprogramm ist für ihn Ende 2011 ausgelaufen. Seither lebt Luis Carlos von der bescheidenen Behindertenrente, die er monatlich bezieht. Und muss sich seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs verdienen. Fern der Familie, der Heimat, an geheimen Ort, wo niemand etwas über seine Vergangenheit weiss oder wissen darf. Zu gefährlich. Denn die Milizen herrschen noch immer in Sepetiba und Santa Cruz, fragen regelmäßig nach ihm, über seinen Verbleib, ob wer von ihm gehört habe.
Und die Milizen? Bewegen sich immer noch frei in der Westzone von Rio de Janeiro. Terrorisieren die Bevölkerung und schrecken vor nichts zurück. Selbst die Tageszeitung O Globo, nicht gerade bekannt für ihre kritisch-emanzipatorische Berichtserstattung, beschrieb mittlerweile das Problem der Milizen als schwerwiegender als das des Drogenhandels. Eine bekannte Richterin, die es gewagt hatte, gegen die Milizen zu ermitteln und sie anzuklagen, wurde 2011 auf offener Straße erschossen. Der Parlamentarier Marcelo Freixo musste vergangenes Jahr wegen der zunehmenden Morddrohungen gegen ihn kurzfristig das Land verlassen, um ausreichend Zeit zu haben, neue Sicherheitssysteme zu seinem Personenschutz zu organisieren.
Und die mutmaßlichen Milizen, die im Stahlwerkkomplex von ThyssenKrupp als Werkschutz operieren sollen? Am 19. März 2009 hatte die Menschenrechtskommission des Abgeordnetenhauses von Rio (ALERJ) zu dem Fall eine öffentliche Anhörung abgehalten. Sie gingen den Vorwürfen der Fischer nach, ob die Sicherheitskräfte des ThyssenKrupp-Unternehmens CSA auch lokale Milizen angehörten. Auf der Anhörung wurde ein Foto von Roberto Barroso gezeigt. Dieser sei stadtbekannter Milizionär, sagten die auf der Anhörung anwesenden Fischer, wie dem Protokoll der Anhörung in der ALERJ zu entnehmen ist. Und Luis Carlos identifizierte in Barroso den Mann, der ihm am Rande des Kanals gedroht hatte. Brisant dabei: Barroso war zu der Zeit der oberste Sicherheitschef des Werkschutzes des ThyssenKrupp-Unternehmens CSA. Dies bestätigte der Anwalt der CSA: "In der Tat, dieser Herr heißt Roberto Barroso, er wurde 2005 als Supervisor des Werkschutzes eingestellt", so der Anwalt der CSA auf der Anhörung am 19. März. Von 2005 an war er über das Subunternehmen Protege als Chef des gesamten Werkschutzes der CSA tätig, seit Dezember 2008 übte er die gleiche Funktion aus, nur: "Heute ist er direkt bei uns angestellt", so der Anwalt der CSA auf der parlamentarischen Anhörung im März 2009.
Auf der Anhörung zeigten sich die Rechtsvertreter der CSA ebenso wie der anwesende deutsche Vizekonsul bestürzt. CSA suspendierte daraufhin den Sicherheitschef und versprach, den Vorwürfen nachzugehen. Ergebnis: nach 30 Tagen wurde die Suspendierung aufgehoben, weil sich – so CSA – in keiner Akte über Barroso diesbezügliche Hinweise fanden, und der Sicherheitschef bestritt, Milizionär zu sein und dem Fischer gedroht zu haben. Somit stand für CSA Aussage gegen Aussage. Neuesten Erkenntnissen aus dem Umfeld des Stahlwerkkomplexes sei Barroso mittlerweile dort nicht mehr beschäftigt, so ein Mitarbeiter, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen wollte.
Kritik unerwünscht
Der Essener Konzern reagierte immer ungehalten auf die Kritik. Dem Fischer Luis Carlos ließ man in Essen nachsagen, er sei "nur am Geld interessiert", Luis Carlos Oliveira sei eigentlich gar nicht aus der Region, sondern von 70 Kilometer Entfernung und weitere Unwahrheiten, die in verschiedenen Stellungnahmen und Briefanfragen aus Essen verbreitet wurden. Ein Parlamentsabgeordneter aus Rio berichtete im Parlament von Rio, dass in Brasília Druck auf das Menschenrechtssekretariat ausgeübt worden sei, die Erklärung zurückzuziehen, dass Luis Carlos Oliveira in das Menschenrechtsprogramm aufgenommen wurde, da er Bedrohungen durch Milizen erhalten habe, die mutmaßlich den Werkschutz der TKCSA stellen. Informationen dieses Abgeordneten zufolge weigerte sich das Sekretariat aber, diesem Ansinnen nachzukommen. Auch vor Interventionen bei Dritten schreckte ThyssenKrupp offenkundig nicht zurück. Der Brasilien-Solidaritätszeitung "Brasilien Nachrichten" aus Freiburg wurde wegen eines kritischen Artikels zum Stahlwerk in Rio der Vertrag mit der Lufthansa gekündigt. Eigentlich sollte die jeweilige Ausgabe der Brasilien Nachrichten auf der Stecke Frankfurt – São Paulo in der Business-Class frei ausgelegt werden. Bedingung dafür war, dass die Herausgeberin der "Brasilien Nachrichten" pro Exemplar 1.- € an die Lufthansa für die Kosten bezahle. Bei täglich einem Flug bedeutete dies monatliche Kosten von 560.- € für die kleine Organisation aus Freiburg. Aber nach nur sechs Wochen kam die Kündigung von der Lufthansa. Auf Nachfrage erläuterte ein Mitarbeiter der Kranichlinie, dass es "massiven Druck eines Großkunden" gegeben habe. Laut Ansicht der "Brasilien Nachrichten" soll es sich bei dem erwähnten Großkunden um ThyssenKrupp handeln. Später korrigierte die Fluglinie ihre Aussage und wies darauf hin, dass es bei Lufthansa üblich sei, bei neuen Produkten nach vier Wochen einen "Check" zu machen, berichten die Herausgeber der "Brasilien Nachrichten". Dies bedeute, so die Lufthansa, bei Zeitschriften, wie häufig sie abgefragt würden und ob es beispielsweise "Kundenbeschwerden" gebe. Einflussnahme von außen, wie im vorliegenden Fall von Seiten ThyssenKrupp, wies der Sprecher der Lufthansa zurück.
Den Protest gegen das Stahlwerk nach Deutschland tragen
Offenkundig scheint dem Konzern vor allem die Kritik, die zuerst von dem Kleinfischer Luis Carlos Oliveira der internationalen Öffentlichkeit vorgetragen wurde, alles andere als gefallen zu haben. Im Januar 2010 war Luis Carlos Oliveira nach Deutschland gefahren. Auf Einladung des Dachverbands der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre trug er auf der Jahreshauptversammlung von ThyssenKrupp den Protest der Fischer von Sepetiba vor – und griff den Vorstand von ThyssenKrupp scharf an: "ThyssenKrupp beutet das Erz aus, uns Fischern bleibt die Schlacke!", rief er gegen Ende seiner bewegenden Rede den Aktionärinnen und Aktionären zu. Und die Reaktion der deutschen Firma? Wies alle Vorwürfe entschieden zurück. Keine Umweltschäden. Keine Milizen, die als Werkschutz operieren. Keine Entschädigungen. Kein Dialog.
Auf den Vorwurf, der Werkschutz von CSA bestehe aus Milizionären, reagierte der Konzern wiederholt unisono: «ThyssenKrupp CSA beschäftigt für Aufgaben des Werkschutzes auf ihrem Werksgelände keine organisierten Banden. Die Sicherheitsdienste werden von rechtmäßig gegründeten und von den zuständigen brasilianischen Behörden genehmigten, renommierten Firmen ausgeführt», so die Stellungnahme von ThyssenKrupp.
Handschlag verweigert
Auf der Aktionärsversammlung war die Stimmung zwischen den Konfliktparteien angespannt: Nach seiner Rede kam es zu einer symbolischen Übergabe eines Fisches aus Stoff – in Anspielung auf die massiven Rückgänge beim Fischfang in der Bucht. Als es zur Übergabe des Fisches kam, verweigerte der Fischer Luis Carlos Oliveira dem Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens, Ekkehard Schulz, den Handschlag. "In Anbetracht all der Ungeheuerlichkeiten, die ThyssenKrupp in meiner Heimat anrichtet, kann ich ihm nicht die Hand reichen", erläuterte der Fischer hinterher sein Vorgehen.
ThyssenKrupp veröffentlichte im Anschluss an die Aktionärsversammlung eine Stellungnahme, in der die Forderungen der Fischer abgetan wurden. Tourismus gebe es in dem Industriebezirk von Rio de Janeiro ohnehin nicht, heißt es, die Fischer machten "nach eigenen lokalen Erhebungen" weniger als zehn Prozent der Bevölkerung aus. Dem widersprachen die Nichtregierungsorganisationen umgehend. Selbst eine von ThyssenKrupp in Auftrag gegebene Studie hatte zuvor die Bedeutung des Tourismus und der Fischerei anerkannt, sagte die Institutsvertreterin Karina Kato.
Bau im Naturschutzgebiet: Bedrohter Mangrovenwald
Und ThyssenKrupp versuchte weiter, sich von allen Vorwürfen frei zu sprechen. "Das Baugelände des Stahlwerks liegt nicht in einem Naturschutzgebiet", so die Stellungnahme des Konzerns. Geschützt seien nur die mit Mangroven bewachsenen Ufer. Genau dies sei aber der Fall, sagt der Fischer Luis Carlos Oliveira: "Das Gelände ist Naturschutzgebiet, weil es aus Mangrovenwald besteht." Mangroven gelten weltweit als bedroht, enorm wichtig für Erosions- und Küstenschutz, für Laichgründe von Fischen idealen Raum bietet und eine erhebliche Speicherkapazität von Kohlendioxid aufweist, weswegen auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit – namentlich die vormalige GTZ (nun GIZ) – seit Jahren Programme zum Schutz der Mangrovenwälder durchführt. Das Argument des Naturschutzgebiets war Mitte des vergangenen Jahrzehnts von der Regierung als Argument angeführt worden, um eine Besetzung der Landlosenbewegung MST auf dem Gelände für illegal zu erklären, erklärte Oliveira. Die dort lebenden 75 MST-Familien wurden vertrieben. "Doch als ThyssenKrupp sein Stahlwerk errichten wollte, galt das Naturschutzgebiet auf einmal nicht mehr", kritisierte der Fischer.
Oliveira beklagte, dass offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird: "Wenn wir als Fischer in einem Mangrovenwald einen Ast absägen, um uns daraus eine Angel zu bauen, dann landen wir im Gefängnis. Wenn ThyssenKrupp vier Quadratkilometer Mangrovenwald abholzt, bekommen sie Steuererleichterungen und zinsgünstige Kredite der Regierung."
Mit Schwermetallen verseuchte Sedimente in "Höhlen" – oder doch nur "Gruben"?
Die Firma widersprach auch dem Vorwurf, die in der Bucht vorgefundenen Schwermetall verseuchten Sedimente seien unsachgemäß behandelt worden. Durch das angewandte Dekontaminierungsverfahren sei das entsprechende Material "in Schichten innerhalb unterirdischer Höhlen sicher gelagert, ohne aufgewühlt zu werden." Das bedeute, dass der kontaminierte Aushub umweltschonend mit hohen Kosten nachhaltig versiegelt wurde, so ThyssenKrupp. Diese Sprachregelung von "unterirdischen Höhlen" und "nachhaltiger Versiegelung" wird aber durch das die Aushub- und Verbringungsarbeiten ausführende niederländische Unternehmen Royal Boskalis Westminster N.V. in ein anderes Licht gerückt. In der Projektbeschreibung für das sogenannte CDF-Dekontaminisierungsverfahren in der Bucht von Sepetiba, spricht Boskalis in Bezug auf die vermeintlichen "Höhlen" in der Tat von "Gruben". In Bezug auf die "nachhaltige Versiegelung" erwähnt Boskalis eine "Bedeckung mit zwei Meter sauberen Erdreichs". "Das ist die vermeintliche nachhaltige Versiegelung, von der CSA seit Jahren redet", kritisierte Karina Kato.
Boskalis betont ferner, dass während der Arbeiten "die Wasserqualität täglich an mehreren ausgewählten Standorten überprüft wurde". Bei der Messung seien – so Boskalis – die "wichtigsten überprüften Parameter der Trübungsgrad, die Wassertemperatur und der Salzgehalt". Dass keine Aussagen über die Messung von Schwermetallen getroffen werde, spreche Bände, kritisiert Kato. Die Überprüfung der Wasserqualität obliege eigentlich den staatlichen Behörden – doch das Umweltinstitut Rio de Janeiros INEA habe im Dezember 2009 auf Anfrage eingeräumt, dass es diese Daten nicht erhebe: die TKCSA sammle die Daten und reiche sie weiter, berichtete Kato. Der Konzernvorstand erläuterte auf der Aktionärsversammlung 2010 dazu, dass brasilianische Fachfirmen im Auftrag der CSA diese Daten erheben – das Monitoring erfolge durch das Institut TuTech der Universität Hamburg-Harburg. Doch auch diese Daten wurden bislang nicht freigegeben – ebenso wie das INEA die Daten nicht veröffentlicht. Trotz offizieller Anfrage durch das Parlament des Bundesstaates von Rio de Janeiro (ALERJ) wurden diese Daten zur Wasserqualität in der Bucht bis heute nicht freigegeben.
Cromme: "Beim Controlling vor Ort die Komplexität unterschätzt"
Auf der Aktionärsversammlung im Januar 2010 hatte Aufsichtsratschef Gerhard Cromme gegenüber den anwesenden AktionärInnen eingestanden, dass "beim Controlling vor Ort die Komplexität unterschätzt" worden war. Dies sei der Grund für die explodierenden Kosten beim Bau des Stahlwerks in Brasilien. Er fügte hinzu, dass ein interner Prüfungsausschuß von ThyssenKrupp aus Deutschland nach Brasilien gefahren war, und dieser "in Brasilien Falsches, Widersprüchliches und Lückenhaftes" als Auskunft bekommen habe. Die Ökonomin Karina Kato sieht darin eine Bestätigung ihrer Kritik: "Wenn ThyssenKrupp dergleichen eingesteht, dann müssen wir ihnen sagen, dass auch wir es Leid sind, von ThyssenKrupp Falsches, Widersprüchliches und Lückenhaftes als Auskunft zu bekommen", so Kato.
Cromme berichtete zudem, dass eine Anwaltskanzlei mit der Prüfung der Frage von einer Klage auf Entschädigungszahlungen gegen den vormaligen Vorstand Karl-Ulrich Köhler beauftragt worden war, aber dass die Kanzlei wegen einer Erfolgsaussicht der Klage von "weniger als 50 Prozent" davon abgeraten habe. Im November 2009 war Köhler geschasst worden und durch den zuvor bei Salzgitter tätigen Hans Fischer ersetzt worden. Fischer wurde aber bereits Ende 2011 seinerseits wieder abgesetzt.
Dann Ende Januar 2010 befasste sich auch der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestags mit der Angelegenheit. Der Ausschuß hatte Vertreter beider Seiten geladen. ThyssenKrupp lief mit drei Direktoren und Assistenten auf. Auf Seite der Kritiker der Fischer Luis Carlos und die Mitarbeiterin des die Fischer unterstützenden Instituts PACS aus Rio.
Im Anschluss an das Gespräch sprach sich Karina Kato von PACS für eine umfassende Untersuchung aller Vorwürfe aus: "Wenn laut ThyssenKrupp alles in Ordnung ist, dann werden sie ja auch nichts gegen eine unabhängige internationale Untersuchungskommission haben". Diese Kommission müsse unbehinderten Zugang zu allen Informationen bekommen. Doch davon wollte ThyssenKrupp nichts wissen.
Und dennoch war der Auftritt von Luis Carlos vor den Aktionärinnen und Aktionären von ThyssenKrupp ein gewichtiger Schritt nach vorn im Kampf der Fischer gegen den Industriegiganten aus Deutschland. Was in der Berichterstattung der deutschen Medien als Kampf "David gegen Goliath"-Züge trug, sprach sich infolgedessen schnell nach Brasilien durch – und bewog die dortigen Medien, auch auf das Thema aufmerksam zu werden.
Das Stahlwerk und die Medien: "Was für eine Barbarei! Eine deutsche Firma! – chucrute!"
Anderthalb Jahre nach den Protesten auf der Aktionärsversammlung hatte sich das Medienbild des Stahlwerks TKCSA auch in Brasilien geändert: da wird zur besten Sendezeit in den Abendnachrichten vor einem Millionenpublikum über die Staubbelastung für die Anwohner berichtet, lassen die Anwohner ihren Unmut über "die Firma aus Deutschland" freien Lauf; da wettert die konservative Tageszeitung O Globo, wie denn die Stadt Rio de Janeiro "saubere Olympische Spiele" gewährleisten könne, wenn da ein Werk im Stadtgebiet steht, dass die Kohlendioxidemissionen von ganz Rio de Janeiro um 76 Prozent in die Höhe schnellen lässt?
Einer der bekanntesten Journalisten Brasiliens, Ricardo Boechat, früher bei O Globo, Kolumnist beim Jornal do Brasil und der Zeitschrift Istoé sowie Leiter der meistgehörten Morgensendung von Rio, schimpfte nach Bekanntwerden der Umweltverschmutzung und der Gesundheitsgefährdung der Anwohner durch das Stahlwerk über die Tatsache, dass nicht einmal zwei Monate nach Eröffnung das Umweltamt einschreiten muss. "Da wird mit Gouverneur und Minister das Stahlwerk mit viel Tamtam eröffnet! Da wird das groß willkommen geheißen, weil es Arbeitsplätze bringt! So eine Industrie ist willkommen im Austausch gegen Arbeit und Steuern, aber nicht wenn sie verschmutzt!", erläuterte Boechat seinen treuen Zuhörern der Morgensendung des Radios Bandnews FM. "Gibt es keine Filter dagegen? Wenn es keine Filter gibt, dann baut dieses Stahlwerk nicht!", erregte sich Boechat. "Ich stelle persönlich die Aussage der Firma in Frage, dass sie die bestmögliche Technik verwenden. Wenn sie nicht die bestmögliche Technik verwenden, dann schließt das Ding sofort!", so Boechat, um gleich im Anschluss zu fragen, wie es sein könne, dass ein Land wie Deutschland, das so viel für den Umweltschutz tue, seine Industrie exportiere, die dann andere Länder verseuche. "Was für eine Barbarei! Eine deutsche Firma!", schimpfte der Journalist, bevor er verächtlich hinzufügte: "chucrute!" – übersetzt: Sauerkraut.
30.000 Arbeitsverträge entsprechen nicht 30.000 Arbeitsplätzen
Dieser Wutausbruch dürfte den Stadtoberen, dem Bürgermeister, dem Gouverneur und auch dem damaligen brasilianischen Präsidenten Lula nicht gefallen haben. Haben diese sich doch alle bereits mehrmals auf dem Baugelände von ThyssenKrupp stolz filmen lassen, haben Reden geschwungen über den industriellen Aufstieg Brasiliens, über die nachholende industrielle Entwicklung, die Brasilien in fünf Jahren zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen lasse. In den Zeiten des Wahlkampfes klingt solch frohe Botschaft überzeugend: Über 30.000 Arbeiter hätten das Stahlwerk errichtet, 3.500 Menschen sollten im Stahlwerk arbeiten, und 10.000 indirekte Arbeitsplätze kämen in Zuliefererbetrieben und der Umgebung durch Zweiteffekte noch einmal hinzu. Brasiliens Präsident Lula hatte im Mai 2009 feierlich den dreißigtausendsten Arbeitsvertrag beim Stahlwerk unterschrieben. Nicht gerne wurde in der Öffentlichkeit auf Nachfrage eingestanden, dass 30.000 Arbeitsverträge eben nicht immer einer gleichen Anzahl an Arbeitsplätzen entspricht: Rotationen in befristeten und nicht erneuerten Arbeitsverträgen bei den Stellen bedeutet eben 30.000 Personen, die zusammengerechnet über den ganzen Zeitraum auf der Baustelle des Stahlwerkes einmal beschäftigt waren. Was für Lula zählte, waren die medienwirksame Zahl von 30.000. Und Lula hat nie verhehlt, was für ihn Arbeitsplätze sind: in erster Linie sind dies Industriearbeitsplätze. Ein Lula nahestehender Minister hatte 2010 die Antwort auf die Frage, was denn Lulas Meinung nach am besten für die Entwicklung Brasiliens sei, es schlicht so auf den Punkt gebracht: "Stahlwerke, Stahlwerke, Stahlwerke". Dafür, so die Befürworter des Projekts, lohnten sich doch die gewährten Steuervergünstigungen sowie die zinsgünstigen Kredite aus dem Fonds der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES in Höhe von umgerechnet einer halben Milliarde Euro, die von öffentlicher Seite in den Stahlwerkkomplex gesteckt wurden.
Wie konnte es bei so viel Unterstützung seitens der Politik zu einem solchen Mediendesaster für die Firma aus dem Ruhrgebiet kommen? Was war passiert?
Das Stahlwerk und die Politiker: Pomp und Pathos
Lange hatte es alles andere als danach ausgesehen, dass die Medien oder lokalen Behörden kritische Distanz zum Stahlwerk einnehmen würden. Noch am Vorabend der mit Pomp und Pathos begangenen Einweihung des Stahlwerkes im Juni 2010 beteuerte der Präsident des Umweltamtes, Luiz Firmino Martins Pereira, in der Tageszeitung Globo, dass alle Umweltkompensationen von ThyssenKrupp angemessen seien. Was ThyssenKrupp seinerseits unter "adäquaten Umweltkompensationen" versteht, geht aus der Stellungnahme des Konzerns gegenüber dem Deutschen Bundestag vom 27. Januar 2010 hervor. Dem zufolge erhielt das Umweltamt Inea zur Renovierung seines Dienstsitzes von ThyssenKrupp 4,6 Millionen brasilianische Reais (umgerechnet rund zwei Millionen Euro). Die Unabhängigkeit des Umweltamts Inea werde dadurch erheblich in Frage gestellt, kritisierte die Anwohnervereinigung in einer Erklärung anlässlich der Eröffnung des Stahlwerkkomplexes. Für die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Rio de Janeiro lag ebenfalls der Anfangsverdacht einer Interessenkollision des Umweltamtes vor, so dass erste diesbezügliche Ermittlungen bereits im Juni 2010 aufgenommen wurden. Auf der Aktionärsversammlung der ThyssenKrupp AG im Januar 2011 erläuterte der damalige Vorstandsvorsitzende, Ekkehard Schulz, auf Nachfrage, TKCSA habe diese Zahlungen nur als Mitglied des Industrieverbandes von Rio de Janeiro geleistet.
Doch die Eröffnung des Stahlwerkkomplexes in Santa Cruz im Stadtgebiet von Rio de Janeiro lief am 18. Juni 2010 noch wie von Konzern und Politik erhofft ab. Das Stahlwerk TKCSA wurde in Anwesenheit des brasilianischen Präsidenten, Luiz Inácio Lula da Silva, von ThyssenKrupp-Vorstandsvorsitzenden Ekkehard Schulz und dem Präsidenten des brasilianischen Bergbaukonzerns Vale, Roger Agnelli, an der Bucht von Sepetiba mit Pomp und Pathos eingeweiht.
Abstauben in Rio de Janeiro
Kurze Zeit später klagten die Anwohner des Stahlwerks über den Staub und die Luftverschmutzung seit Betriebsbeginn des Industriekomplexes. Zunächst gegenüber der Zeitung Extra Globo berichteten die Anwohner über Hustenreiz, Augenreizungen, Allergien und notwendige Krankenhausbesuche, dann kam es in den Abendnachrichten von Rio: Stahlwerkstaub dringe in die Häuser der Anwohner ein, Meldungen von vermehrten Krankheitsfällen machten die Runde.
Nach Bekanntwerden des ersten Vorfalls gab das Umweltamt des Bundesstaats Rio de Janeiro, INEA, TKCSA zunächst fünf Tage Zeit, um die Kapazität des Hochofens zu reduzieren. Andernfalls drohe ein Strafgeld von umgerechnet bis zu 880.000 Euro. ThyssenKrupp hatte wiederholt erklärt, dass sich das Stahlwerkprojekt auf dem neuesten Stand der Technik befinde. Dann kamen die Techniker des Umweltamts auf das Firmengelände und nahmen erste Proben. INEA erklärte daraufhin, "dass die Partikel hauptsächlich durch Kippen und Kühlung des noch nicht gegossenen Roheisens in Notgruben entstanden sind". INEA berichtete weiter über zuvor entstandene Probleme in den Stranggussmaschinen beim Stahlwerk, so dass die Verbringung der Eisenschmelze in die Notgruben notwendig wurde. Laut Auskunft des Umweltamts resultierte aus diesen Problemen eine Überproduktion von 20 Prozent beim Roheisen. Dieses musste in die Notgruben unter freiem Himmel verbracht werden. Das Umweltamt hatte daraufhin auch verlangt, dass die Notgruben ebenfalls mit Filtern augestattet werden müssten.
Ein mit der Materie vertrauter Stahlwerkingenieur aus Duisburg erklärte, dass es im Notfall durchaus üblich sei, bei Problemen im Stranggussverfahren oder Hochofen auf Notgruben unter freiem Himel zurückzugreifen. Der Ingenieur fügte aber hinzu, dass seines Wissens in Duisburg dergleichen mit Eisenschmelze so gut wie nie geschehe. Bei der Schmelze im Hochofen werde ein erfahrener Schichtmeister die Schmelze rechtzeitig chemisch korrigieren, um sie dort kontrolliert weiter zu verarbeiten. Sollte es aber dennoch zu Problemen kommen, müsse eben technisch auf die Notgruben zurückgegriffen werde, um ein Verklumpen der Schmelze im Hochofen zu verhindern. In Duisburg geschehe das Freisetzen in die Notfallgruben allenfalls mit Schlacke, dann sei "der Himmel über Duisburg rot". – Im Fall einer Eisenschmelze jedoch, die bei 1.700 bis 1.800 Grad Hitze ins Freie gelangt, würden sehr wahrscheinlich auch Eisenbegleitstoffe, Flüssigmacher und giftige Gase unkontrolliert freigesetzt werden. Eine chemische Analyse des Partikelstaubs lag zu dem Zeitpunkt noch nicht vor.
Das Stahlwerk und die Staatsanwaltschaften
Anfang Dezember 2010 wurde dann die Anklage seitens der Staatsanwaltschaft bekannt. Die Companhia Siderúrgica do Atlântico (TKCSA), der Projektleiter des Stahlwerks, Friedrich-Wilhelm Schäfer, sowie der Umweltdirektor, Álvaro Francisco Barata Boechat, wurden im Dezember 2010 von der Staatsanwaltschaft massiver Umweltverstöße bezichtigt. Sollten die Vorwürfe gerichtlich bestätigt werden, so drohen den Projektverantwortlichen bis zu 19 Jahre Haft, liess die Staatsanwaltschaft verlauten. Möglich seien auch Strafzahlungen, die komplette oder teilweise Schließung der Anlage sowie der zeitweise Ausschluss von Staatsaufträgen für einen Zeitraum von fünf Jahren sowie die Aberkennung von Steuererleichterungen. Dies teilte die Staatsanwaltschaft am 3. Dezember 2011 im Internet mit. "Ein Stahlwerk der Ausmaße wie CSA, das im Jahr 2010 fertig gestellt wurde, darf es nicht unterlassen, angemessene Sicherheits- und Kontrolltechnologie einzubauen, die dazu dienen sollte, jegliche Emission von Schadstoffen in Luft und Wasser vorzubeugen und zu kontrollieren", erläuterte dazu der Staatsanwalt Daniel Lima Ribeiro. Seit Betriebsstart im Juni 2010 habe das Stahlwerk weit über zulässigen Grenzwerten liegende Schadstoffe in die Umgebung abgegeben. Die Staatsanwaltschaft stützte sich dabei auf ein Gutachten des Instituts für Geowissenschaften der Bundesuniversität Rio de Janeiro, nach dem die zulässigen Grenzwerte in der Umgebung des Stahlwerks bei einigen Schadstoffen um bis zu 600 Prozent überschritten wurden. Die vom Stahlwerk ausgestoßenen Schadstoffe stellten eine "Bedrohung der menschlichen Gesundheit dar, vor allem für die direkten Anwohner im Gebiet von Santa Cruz", so die Presseerklärung der Staatsanwaltschaft. Die Klage gegen ThyssenKrupp erfolgte, nachdem Anwohner Umweltverstöße bei der Staatsanwaltschaft angezeigt hatten. Die Staatsanwaltschaft teilte in der Pressemitteilung zudem mit, dass im Rahmen des Verfahrens auch gegen den Werkschutz des Unternehmens wegen des Verdachts der Bandenbildung in Milizen ermittelt werde.
ThyssenKrupp CSA wurde zudem wegen des wiederholten Umweltverstoßes und Gesundheitsgefährdung der Anwohner von den Behörden mit Geldbußen und Entschädigungszahlungen belegt worden. Neben der Strafe von 2,8 Mio. Reais (1,26 Mio. Euro)
muss ThyssenKrupp CSA eine Kompensation von 14 Mio. Reais (6,3 Mio. Euro) zahlen. Die Kompensationszahlungen sollen für die Verlegung von Drainagen zur Entwässerung, Asphaltierung von Straßen und den Bau einer Familienklinik verwendet werden.
Gouverneur erlaubt Hochfahren der Öfen: Stahlgiessen je nach Windrichtung?
Kurz vor Weihnachten 2010 wurde entgegen der vorherigen Beteuerungen von Umweltamt, Umweltminister und Gouverneur der zweite Hochofen des umstrittenen Stahlwerks Companhia Siderúrgica do Atlântico der deutschen ThyssenKrupp im Stadtgebiet von Rio de Janeiro hochgefahren. Dies war dem Unternehmen nur durch einen Erlass des Gouverneurs des Bundesstaates, Sérgio Cabral, möglich. Dieser hatte laut Medienberichten befürchtet, dass ThyssenKrupp 800 Arbeiter entlassen könnte, sollte der Hochofen nicht hochgefahren werden dürfen. Die größte Tageszeitung Brasiliens, O Globo, berichtete, das Argument der Arbeitsplätze, das "CSA gegenüber dem Gouverneur gebraucht" habe, sei sehr "schwerwiegend" für den Gouverneur Cabral gewesen. Weitere Argumente dafür seien "die internationalen Verpflichtungen des Konzerns" – also die Lieferungen der Stahlbrammen in die ThyssenKrupp-Werke in Alabama und Deutschland – als auch die Stromabnahmeverträge mit brasilianischen Stromversorgern, die aus dem neuen Kraftwerk mitversorgt werden sollten. Zuvor hatte das Umweltamt noch ein 60-tägiges Audit gefordert, dass die Umweltverschmutzungen unabhängig untersuchen sollte, bevor der zweite Hochofen mit über 2,5 Millionen Tonnen Jahresproduktion in Betrieb hätte gehen dürfen.
Nur wenige Tage nach dem Hochfahren des zweiten Hochofens im Dezember 2010 traf die Anwohner des mittlerweile von ThyssenKrupp selbst eingestandenen sechs Millarden Euro teuren Komplexes die Staubbelastung erneut mit voller Wucht. An den Weihnachtsfeiertagen wurden die Häuser der Bewohner der Avenida João XXIII, an der auch das Stahlwerkgelände direkt anschließt, mit der aus Metalloxiden bestehenden Staubschicht bedeckt, wie die Tageszeitung Globo berichtete. Nach diesem Vorfall musste laut Ministeriumsbeschluss TKCSA auf seinem Betriebsgelände Überwachungskameras installieren. Deren Übertragung soll direkt ins Operationszentrum des Umweltinstituts INEA erfolgen, um die Ordnungsmäßigkeit der Produktion direkt zu überwachen. Solange die Umweltprüfung nicht abgeschlossen sei, könne das Unternehmen CSA keine Betriebsgenehmigung erhalten, so die Aussage des Umweltministers Minc.
Das Umweltamt INEA gab der Konzernleitung der ThyssenKrupp-Tochter in Rio de Janeiro nach diesen erneuten Problemen Ende 2010 mit Luft- und Staubbelastung durch die zwei in Betrieb genommenen Hochöfen zunächst eine Frist von 30 Tagen, um zu einer "definitiven" Lösung des Problems zu kommen. Die Umweltministerin von Rio, Marilene Ramos, erklärte gegenüber Globo, dass dem Konzern wegen Wiederholungstat nun eine schärfere Strafe drohe. Zugleich äußerte sie grundsätzliche Zweifel an dem Standort: "Es ist nun erwiesen, dass es nicht kompatibel ist, so ein Werk so nahe an einer Wohngegend, die sich dort schon zuvor befand, zu betreiben", erklärte Ramos. Des Weiteren sei es noch nicht abschliessend klar, ob ThyssenKrupp CSA bei der für diesen Februar anstehenden Entscheidung über die definitive Betriebsgenehmigung des Stahlwerks die Zustimmung der Behörden erhalte. Letzteres sei noch offen, so die Umweltministerin Ramos. Die definitive Betriebsgenehmigung wurde bis heute [Januar 2012] nicht erteilt.
Eine Anwohnerin berichtete kurz nach dem Vorfall von Weihnachten 2010, dass nach dem Hochfahren des zweiten Hochofens die "Staubbelastung so schlimm wie nie" war. ThyssenKrupp war das Hochfahren des zweiten Hochofens nur durch den Erlass des Gouverneurs, Sérgio Cabral, möglich geworden, nachdem zuvor die amerikanische Consulting CH2M HILL in einem Kurzaudit die Auflagen zum Hochfahren des zweiten Hochofens festgelegt hatte. Demnach müsse die Menge der Roheisenproduktion der Hochöfen sowie die Nutzung der Notgruben sich an der Windrichtung orientieren. "Wenn die dokumentierte Windrichtung nach dem TKCSA-Komplex die Stadt von Santa Cruz ins Ziel nimmt, so muss TKCSA sofort die Roheisenabgussrate in die Notgruben auf ein Minimum reduzieren", so das Dokument von CH2M HILL. Des Weiteren muss jeweils fünf Minuten vor Nutzung der Notgruben oder der Giesanlagen die Windrichtung photographisch eindeutig erkennbar dokumentiert werden, so das Kurzaudit. Umweltschützer bezweifeln die Durchführbarkeit dieser Auflagen. "Wer glaubt denn ernsthaft, dass ThyssenKrupp dauernd die Windrichtung im Blick hat und danach ihre Produktion ausrichtet?", bezweifelte eine Umweltforscherin der Bundes-Universität Rio de Janeiro das Vorgehen des Konzerns.
Trotz des durchsichtigen Agierens des Gouverneurs ließ die Staatsanwaltschaft von Rio nicht locker und beließ es nicht bei dieser einen Anklage gegen TKCSA. Im Zeitraum von Dezember 2010 bis Juni 2011 hat die Staatsanwaltschaft drei Anklagen wegen Vorgängen des oder um das Stahlwerk erhoben: Hatte die Staatsanwaltschaft sich bei ihrer ersten Klage auf die Umweltschäden des Hochofens 1 bezogen, wurde im April 2011 Klage wegen der Umweltverschmutzung durch den Hochofen 2 erhoben. Und Ende Juni 2011 erhob die Staatsanwaltschaft Klage gegen das in ihren Augen falsche Umweltgutachten der Drittfirma Usiminas, dessen Erstellung eigentlich Voraussetzung war für den Weiterbetrieb des Stahlwerks war. Zuvor war bereits von Stahlwerkgegnern die Unabhängigkeit des durchführenden Unternehmens Usiminas in Zweifel gezogen worden. Es bestünden Kapitalverflechtungen der Anteilseigner (namentlich des Fonds Previ) von Usiminas und vom ThyssenKrupp-Partner Vale, so die das Unternehmen kritisierenden Gruppen.
Anhaltende Umweltbelastung
Indessen wiederholte ThyssenKrupp selbst monatelang das Argument, der auf die Anwohner nieder regnende Staub sei "nicht gesundheitsgefährdend", da es sich "nur um Graphit" handele. Sollte die zuständige Strafkammer in Rio jedoch zu dem Schluss kommen, dass ThyssenKrupp wissentlich gegen Umweltvorschriften verstoßen hat, droht dem Werk die Schließung – und den projektverantwortlichen Managern bis zu 19 Jahren Haft. Für den Stahlkonzern sind die Vorwürfe aus der Luft gegriffen: Die Vorwürfe werden bestritten, alles sei doch harmlos und man gehe nicht von einer Verurteilung aus. Thyssen spielte wohl wieder mal auf Zeit: 1988 beging eine Tochterfirma Thyssens in Rio die gleiche Straftat – "Umweltverbrechen" durch massive Gewässerverschmutzung. Im Dezember 2010, 22 Jahre danach, wurde das inzwischen verkaufte Unternehmen in erster Instanz schuldig gesprochen. Prozessverschleppung mit allen Winkelzügen: Das dürfte erneut die Strategie des deutschen Konzerns sein. Aber was einmal geklappt hat, muss nicht wieder klappen.
Im Mai 2011 kam es erneut zu einem Vorfall, so dass das Umweltministerium des Bundesstaates Rio de Janeiro die laufenden Erweiterungsarbeiten der dritten Kokerei wegen anhaltender Umweltbelastungen gestoppt hatte. Der Umweltminister von Rio, Carlos Minc, hatte nach diesem Vorfall von "krassen Fehlern" in Planung, Betrieb und Durchführung seitens ThyssenKrupp gesprochen. Minc verlangte, dass der Konzern binnen Monatsfrist mit dem Bau der Einhausungsanlagen für die Notgruben für den Stahl zu beginnen habe, um ein weiteres Austreten von Staub zu verhindern. CSA müsse brasilianische Gesetze erfüllen oder es werde geschlossen. "Das Stahlwerk hat keine definitive Betriebsgenehmigung", erinnerte Minc erneut. "Falls unseren Auflagen nicht entsprochen wird, wird es den Betrieb einstellen", bekäftigte Minc gegenüber der Zeitung Estado de São Paulo zum wiederholten Male. Ein Anwohner, der in Sichtweite der Stahlschmelze lebt, kommentierte, "entweder schließt das Umweltministerium die Anlage oder es muss wegen ungesetzlichen Handelns selbst geschlossen werden". Angesichts so viel Entschlossenheit bei den Anwohnern, deren Zorn im vergangenen Jahr vermehrt über die Radio- und Fernsehkanäle in Rio verbreitet wurde, wurden auch die Politiker entschiedener.
Politiker im Vorwahlkampf: grün, grüner und bloß keine sichtbaren Schlote
So kam es rund ein Jahr nach Eröffnung der Stahlschmelze zu den ersten öffentlichen Forderungen von Politikern, die bislang weniger durch Kritik an dem Stahlwerk in Erscheinung getreten waren, das Stahlwerk besser sofort zu schliessen. Auf der Anhörung der parlamentarischen Kommission zur Untersuchung der Vorgänge um das umstrittene Stahlwerk CSA, schlug der Abgeordnete Paulo Ramos von der sozialdemokratischen PDT vor, die mit Fünf-Millionen-Tonnen Jahresproduktion größte Stahlschmelze Lateinamerikas sofort zu schliessen, bis alle Informationen und wissenschaftlichen Gutachten vorlägen. „Es kann nicht sein, dass die Bevölkerung als Versuchskaninchen missbraucht wird!“, erboste sich Ramos vor den anderen Abgeordneten und Zuhörer im Landesparlament von Rio de Janeiro (ALERJ) am 14. Juni 2011.
Auch Politiker, die sich bislang als Befürworter des Projekts in der Öffentlichkeit gezeigt hatten, traten zusehends wankelmütiger auf, bemerkten sie doch den Stimmungsumschwung in Medien und Bevölkerung. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, distanzierte sich ab April 2011 nach jahrelanger Unterstützung des umstrittenen Stahlwerkkomplexes allmählich von ThyssenKrupp. "Wenn ich damals, am Anfang des Entscheidungsprozesses, beteiligt gewesen wäre, hätte ich das wahrscheinlich nicht unterstützt", sagte der Konservative. Der Bürgermeister der Sechs-Millionen-Stadt sagte, die Stadt habe durch das Stahlwerk nun mehr Probleme als zuvor, weswegen er grundsätzlich eine "Industrie ohne Schlote" bevorzuge.
TKCSA erhöht die Kohlendioxidemissionen des gesamten Stadtgebiets von Rio de Janeiro um satte 72 Prozent
"Eine Industrie ohne Schlote" stünde dem Image der Stadt nach Ansicht ihrer Politiker gut zu Gesicht. Da passte es aber nicht ins Bild, was über das ThyssenKrupp-Stahlwerk Anfang November 2011 in der Presse verlautbart wurde. Die Tageszeitung Estado de São Paulo berichtete, das Stahlwerk hätte im ersten Betriebsjahr 5,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Luft gepustet – und damit die CO2-Emissionen des gesamten Stadtgebiets von Rio de Janeiro gegenüber dem Vergleichsjahr 2005 – dem letzten, aus dem Daten vorliegen – um satte 50 Prozent erhöht. Da das Werk noch nicht unter Vollast laufen darf, sei ein Gesamtanstieg von bis zu 72 Prozent zu erwarten. Ähnliche Zahlen hatte die Zeitung O Globo bereits zwei Jahre zuvor errechnet. Damals hatte TKCSA diese Berechnung in Zweifel gezogen, die Zahlen beruhten auf veralteten Angaben, das Werk im Westen von Rio de Janeiro sei eines der modernsten weltweit. Nun also doch eine satte Emissionssteigerung um mehr als die Hälfte aller zusammen gerechneten Emissionen von Haushalten, Verkehr und Industrie im Stadtgebiet. Diesmal bestritt die Firmenleitung die Zahlen nicht: stammen sie doch aus dem Hause ThyssenKrupp selbst, die der Konzern der Zeitung auf Anfrage übermittelt hatte.
Für Rios Politiker eine peinliche Angelegenheit. Hatten sie doch seit Jahr und Tag das Stahlwerkprojekt eifrig mit Steuererleichterungen unterstützt und von den "tausenden Arbeitsplätzen" geschwärmt. Doch angesichts der zunehmend kritischeren Berichterstattung in den Medien, scheint das Stahlwerk in der Gunst der Politiker zu sinken. Der massive Anstieg der Treibhausgasemissionen durch das Stahlwerk vermiest den Politiker nun auch ihre Werbekampagne für die "sauberen und grünen" Olympischen Spiele, die 2016 am Zuckerhut stattfinden. Bis 2016 wollte die Stadt die Kohlendioxidemissionen im Vergleich zu denen von 2005 um 16 Prozent senken. Nun drohen diese durch das ThyssenKrupp-Stahlwerk um mehr als 70 Prozent nachgerade zu explodieren. Das Stahlwerk wird mehr und mehr zum Imagedesaster für die Stadt – und eine Gesundheitskatastrophe für die Anwohner.
Das Stahlwerk, der Staub und die Anwohner: "Nur Graphit" – oder doch Schwermetalle?
Denn was die gegen das ThyssenKrupp-Stahlwerk protestierenden Anwohner seit Jahresfrist behaupteten und vom Konzern aus Essen immer wieder heftig bestritten wurde, wurde mittlerweile wissenschaftlich belegt: Das Stahlwerk emittiert schwermetallhaltigen Staub in die Umgebung. In dem Staub, den das umstrittene Stahlwerk Companhia Siderúrgica do Atlântico (TKCSA) von ThyssenKrupp in Rio de Janeiro in die Umgebung emittiert, finden sich entgegen der Beteuerung des deutschen Stahlkochers auch giftige Schwermetalle. Dies hat eine Analyse der dem Gesundheitsministerium unterstellten Stiftung Fundação Oswaldo Cruz (Fiocruz) ergeben. Demnach enthalte der Staub nicht wie von ThyssenKrupp wiederholt behauptet "nur Graphit", sondern auch "Eisen, Kalzium, Mangan, Silizium, Schwefel, Aluminium, Zinn, Titan, Zink und Kadmium", so die Anfang Oktober vorgestellte Studie der Forscher. Die Wissenschaftler verwiesen auf die "Verschlimmerung der Luftverschmutzung seit dem Hochfahren des ersten Hochofens" und auf die Gesundheitsprobleme der Anwohner. Diese klagen vor allem über Atemwegs-, Hauterkrankungen und Augenreizungen.
Der mittlerweile aus den Ämtern geschiedene damalige Vorstandsvorsitzende Ekkehard Schulz hatte auf der Aktionärsversammlung 2011, angesprochen auf die Frage, ob es zutreffe, "dass die vom Stahlwerk auf die Anwohner geschleuderten Metalloxide Schwermetalle enthalten? Wenn ja: welche?" beteuert: "Ausschließlich Graphit. Von diesem geht keine Gesundheitsgefahr aus. Wir entschuldigen uns dennoch für die Unannehmlichkeiten und dafür, dass wir zu spät in Kommunikation mit den Anwohnern getreten sind." Diese Aussage, in dem Staub fände sich lediglich Graphit, wurde von den Wissenschaftlern der Fiocruz mittlerweile widerlegt.
Und für ThyssenKrupp kam es noch dicker. Nahezu zeitgleich zum Bekanntwerden der Analysedaten des schwermetallhaltigen Stahlwerkstaubs prangerte der Bundesstaatsanwalt in Rio de Janeiro, Daniel Pereira, an, dass im ersten halben Jahr die vom Stahlwerk in die Umgebung emittierten metallischen Schwebstoffe in der Luft 23,5 Prozent über den international zulässigen Werten lagen. Dies sagte der Staatsanwalt Anfang Oktober 2011 auf einer Anhörung zu dem Fall im brasilianischen Kongress. ThyssenKrupp habe sich bei der Standortentscheidung für das Stahlwerk im Stadtteil Santa Cruz auch nicht an den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1.500 Metern zu den nächsten Wohnhäusern gehalten.
Nerven liegen blank
Und mittlerweile scheinen auch angesichts dieser neuer Entwicklungen sowie der bereits im Dezember 2010 unverhohlen ausgesprochenen Drohung der Staatsanwaltschaft, notfalls das Stahlwerks schließen zu lassen, nun bei den Firmenverantwortlichen der TKCSA die Nerven blank liegen. Während die endgültige Entscheidung über die Erteilung der Betriebslizenz für die sechs Milliarden Euro teure Anlage noch immer aussteht, hat TKCSA Verleumdungsklage gegen die drei Wissenschaftler der FIOCRUZ und einer Uniklinik erhoben. Zuerst war es der Forscher und Arzt, Hermano de Castro, der ein medizinisches Gutachten erstellt hatte, in dem er auf die Gesundheitsgefahren für die Anwohner hinwies, wenn sie über einen längeren Zeitraum der vom Stahlwerk emittierten Staubbelastung ausgesetzt werden. Der Fiocruz-Forscher empfahl, im Hinblick auf chronische Erkrankungen wie Krebsfälle, die Anwohner über 20 Jahre ärztlich zu beobachten. Daraufhin erstattete TKCSA Anzeige gegen ihn. Mitte Oktober erstattete TKCSA gegen einen weiteren Forscher der Fiocruz, wenige Tage nach Erscheinen der Studie zu den Gesundheitsgefahren durch das Stahlwerk, ebenfalls Anzeige. Und die Biologin Mônica Lima, Mitarbeiterin der Universitätsklinik Hospital Universitário Pedro Ernesto, erhielt eine Klageschrift wegen der "immateriellen Schäden und anderem", die der deutsche Tochterkonzern TKCSA durch sie erlitten habe. Lima vermutet, dass es um die Gutachten geht, in denen sie auf die Gesundheitsgefahren durch den Stahlwerkstaub hinwies. "Aber ich lasse mich nicht mundtot machen", so Lima. "Ich hoffe, dass kein Anwalt von mir verlangen wird, dass ich schweige: weil das werde ich nicht tun!"
Auch in der Konzernzentrale in Essen scheinen die Nerven blank zu liegen. Im Dezember 2011 musste der langjährige Vorstand, Ekkehard Schulz, wegen des Stahlwerks in Rio seinen Aufsichtsratsposten bei ThyssenKrupp räumen. Am 20. Dezember wurde zudem bekannt, dass ThyssenKrupp mögliche Schadensersatzforderungen gegen Schulz wegen der ausufernden Kosten in Rio prüfe. Anfang Dezember 2011, bei der Vorabbekanntgabe der Jahresbilanz des Konzern, musste ThyssenKrupp wegen der ausufernden Kosten seiner Werke in den Amerikas – woran das Stahlwerk in Rio den Löwenanteil an Kostenexplosion verzeichnet und deshalb schon wiederholt in der Presse als "Milliardengrab" tituliert wurde – 2,1 Milliarden Euro abschreiben. Laut Medienberichten sei ein Großteil davon auf Probleme der von der chinesischen Citic Group im Auftrag der ThyssenKrupp AG erbauten Kokerei zurückzuführen. Citic hatte damals gegen die auf den Bau solcher Anlage spezialisierte, konzerneigene ThyssenKrupp-Tochter Uhde den Zuschlag bekommen, da sie mit einem Preis von 275 Millionen Euro einen "zweistelligen Millionenbetrag" unter dem Preis von Uhde gelegen habe. Nun, einige Jahre später, zitierte das Handelsblatt Konzernchef Hiesinger, der von Gesamtkosten alleine für die Kokerei von eineinhalb Milliarden Euro sprach – das Sechsfache des ursprünglichen Preises. In Medienberichten vom Dezember 2011 wurden nicht namentlich genannte Mitarbeiter zitiert, die die Kokerei als "Schrott", wahlweise als "Murks" beschrieben, die Kokerei werde nie die volle Auslastung erreichen, sie produziere nicht das Koks und das für das Kraftwerk benötigte Gas, das nun extern zugekauft werden müsse, so das Handelsblatt. Unklar bleibt daraufhin aber, was aus den von ThyssenKrupp so beworbenen Clean-Development-Projekten der Wärmerückgewinnung und Abgasnutzung der Kokerei wird, die Thyssenkrupp seit Jahr und Tag als erfolgreiche CDM-Projekte bewirbt.
Kokerei: "Weltweit modernste Anlage" – oder doch "Schrott" und "Murks"?
Diese vom Handelsblatt zitierte Einsicht, dass die Kokerei "Schrott" und Murks" ist, scheint sich gleichwohl noch nicht bis zum Stahlwerk in Rio selbst herumgesprochen zu haben: Dort ließ noch im Dezember 2011 eine Mitarbeiterin der Rechtsabteilung der TKCSA, von der Juristenzeitung Tribuna do Advogado angesprochen auf die Frage, was denn von den von den Fiocruz-Mitarbeitern erstellten Diagnosen der Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung durch den Stahlwerkstaub zu halten sei, verlauten, das Stahlwerk stoße die in der Literatur erwähnten Stoffe nicht aus, "eben weil es ein modernes Stahlwerk ist, mit der weltweit bestverfügbaren Technologie, hat TKCSA seine Kokerei mit der Technologie der Wärmerückgewinnung ausgerüstet, was die Verbrennung und vollständige Beseitigung der in der Kohle enthaltenen flüchtigen Stoffe" gestatte. Und deshalb stoße das Stahlwerk TKCSA "keine Substanzen aus, die – in bestimmten Situationen – Fälle von Krebs oder anderen Krankheiten auslösen könnten". Die Dame warf den Fiocruz-Forschern vor, sie hätten sich die Anlage des Stahlwerks nie vor Ort angesehen oder Nachfragen zum dortigen Produktionsprozess gestellt: "Dies erklärt vielleicht die Diskrepanz zwischen der angesprochenen Studie, die auf Fällen der Vergangenheit beruht, und der Realität der Fakten, die die TKCSA betreffen", so die Mitarbeiterin. Bleibt die Frage im Raume stehen, wie gut die Mitarbeiterin der Rechtsabteilung selbst die Produktionsprozesse und -begebenheiten kennt, wenn sie als Konzernrechtsbeistand als lobendes Beispiel ausgerechnet die Kokerei, die mittlerweile selbst bis nach Duisburg allgemein als "Schrott" und "Murks" bekannt geworden ist, erwähnt.
Für ThyssenKrupp wird die Luft in Rio dünner
Hatten sich die Konzernverantwortlichen in Essen stets selbstsicher gezeigt, bröckelt diese zur Schau gestellte Selbstgewissheit zusehends: Der neue Konzernchef von ThyssenKrupp, Heinrich Hiesinger, hatte Mitte Mai 2011 gegenüber der Financial Times Deutschland eingeräumt, dass bis zur Erteilung der endgültigen Betriebslizenz "noch ein bis eineinhalb Jahre vergehen" könnten. Die seit Jahren gegen das Stahlwerk kämpfenden Umweltgruppen wissen, was diese Aussage bedeutet: "ThyssenKrupp und die Politiker hier in Rio spielen auf Zeit. In anderthalb Jahren sind hier die Wahlen, davor wird kein Politiker sich gerne öffentlich für eine Drecksindustrie, die das Leben der Anwohner und Fischer ruiniert, aussprechen. Und dann Ende 2012, wenn die Wahlen gelaufen sind, dann erteilen sie flugs die Genehmigung", erklärte Sandra Quintela vom Instituto PACS aus Rio de Janeiro das Taktieren von Politik und Konzern. "Aber das werden wir nicht zulassen", bekräftigte Quintela selbstsicher.
Indessen klingen auch die Verlautbarungen aus der Presseabteilung der Stahlschmelze in Santa Cruz zusehends zahmer. Entschuldigungen an die lokale Bevölkerung "für das Ungemach", den die Staubbelastung nach sich ziehe, sowie Beteuerungen, dass ThyssenKrupp in Rio de Janeiro die weltweit modernste Technik anwende. Gerade dies bezweifeln die Anwohner und Umweltgruppen. Weniger Staubbelastung und Kohlendioxidausstoß sei technisch nicht möglich, beteuerte ThyssenKrupp gebetsmühlenhaft. Und gegen die "Staubbelastung" bot der Essener Dax-Konzern mit einem Jahresumsatz 2009/2010 von 42,6 Milliarden Euro den lokalen Anwohnern an, die Kosten für die Reinigungsmittel gegen den Staub in den Häusern zu ersetzen. Damit setzt der Konzern seine Duisburger Praxis fort: den dortigen Anwohnern bezahlt ThyssenKrupp bei starker Staubbelastung eine PKW-Wäsche.
Fischer und Anwohner: "Wir machen weiter – dieses Werk muss stillgelegt werden!"
Die Anwohner und Fischer jedenfalls glauben dem Konzern kein Wort mehr. Sie wollen die komplette Schließung der Anlage. "Unsere Sorge ist, dass die für den kommenden Monat angesetzte Entscheidung über die Erteilung der definitiven Betriebsgenehmigung ein soziales und ökologisches Verbrechen zur Folge haben wird, indem das Leben von 6.000 Familien in Gefahr gebracht wird", so die Anwohner in einem Offenen Brief bereits Ende 2010. Dies sehen die vom Stahlwerk betroffenen 8.000 Fischerfamilien ebenso. Was die Fischer wollen, ist, wieder in Ruhe arbeiten zu können und den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sichern. Doch solange dieses Stahlwerk dort sei, ginge das nicht. So klagen sie zunächst auf Entschädigung. Die in sieben Zivilklagen zusammengeschlossenen 5.763 Fischer fordern laut Auskunft des im Januar 2011 aus dem Amt geschiedenen Vorstandsvorsitzenden der ThyssenKrupp AG, Ekkehard Schulz: "280 Millionen Euro". Schulz selbst erklärte alle Beschwerden der Fischer für unerheblich. Die Klagen seien "unberechtigt, unbegründet und deswegen auch unerheblich für unsere Bilanz". Der Konzern habe dafür keine Rückstellungen vorgenommen, so Schulz auf der Aktionärsversammlung in Bochum im Januar 2011.
Doch die Fischer und Anwohner geben nicht auf. "Wir haben nichts zu verlieren", so der Fischer Isac. "Sie haben unsere Fischgründe zerstört, nun wollen sie unsere Gesundheit, die Zukunft unserer Kinder zerstören". Als sie vor Jahren ihren Kampf gegen das Stahlwerk begannen, waren sie wenige, ausschließlich Fischer, da diese als erstes von dem Monsterprojekt betroffen waren. Doch dann kamen weitere Umweltgruppen und die Wissenschaftler hinzu, die auf die Fülle an Unregelmäßigkeiten bei den Betriebsgenehmigungen, auf die Unregelmäßigkeiten hinwiesen, die auch die Staatsanwaltschaft auf den Plan rief und zu den Ermittlungen gegen den Konzern führten, so erzählte der Fischer Isac. Und dann kamen die Anwohner, die unter der Staubbelastung litten, und nun würden bei jedem Stadtteiltreffen mehr und mehr Leute kommen, um sich zu informieren, nachzufragen und um sich zu engagieren. "Warum haben die Deutschen das hier gebaut?", fragte Isac. "Weil sie in Deutschland zu hohe Umweltauflagen haben, und diese dort nicht nur auf dem Papier existieren – sondern eingehalten werden", so Isac. "Und hier in Brasilien, da haben wir tolle Gesetze – aber eben meist nur auf dem Papier. Aber wir machen weiter", bekräftigte der Fischer, "dieses Werk muss stillgelegt werden!"