Brasilien: Keine Toleranz gegenüber Gewalt – erst recht nicht im Wahlkampf
Der Wahlkampf läuft nicht gut für den amtierenden Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro. Sein Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober, Luiz Inácio Lula da Silva, hat in den letzten Umfragen seinen Vorsprung konsolidiert und liegt nunmehr bei 45%, während Bolsonaro selbst nicht über 35% prognostizierter Stimmen hinauskommt. Doch wer am Ende die Wahl gewinnt, hängt von den gesellschaftlichen Entwicklungen und der Stimmung im Land in den kommenden Wochen ab. Unser Autor beschreibt, wie in Brasilien gesellschaftliche Auseinandersetzungen zunehmend gewalttätig ausgetragen werden und analysiert mögliche Auswirkungen dieser Stimmung auf die Wahlen.
Gewalt in indigenen Gebieten
Die Schlagzeilen der letzten Wochen zeigen, wie dringend ein Ende der Regierung Bolsonaro ist. Die Morde an dem britischen Journalisten Dom Phillips und seinem brasilianischen Begleiter, Bruno Pereira, Verteidiger indigener Rechte im Bundesstaat Amazonas, erregten Internationales Aufsehen und Entsetzen. Die beiden wurden im brasilianischen Grenzgebiet zu Peru, in der Nähe des großen indigenen Gebietes „Vale do Javari“ ermordet.
Die Morde weisen auf parallele Machtstrukturen in dieser Region hin. Umgebracht wurden die beiden vermutlich wegen ihrer Recherchen zu illegaler Fischerei und Jagd in und um das indigene Gebiet. Was sich eher harmlos anhört, ist inzwischen zu einem wichtigen Geschäftszweig der organisierten Kriminalität geworden, die große Teile dieser Region beherrscht. Der Doppelmord brachte das marode brasilianische Institutionengefüge zum Schutz der Gebiete nun in die Schlagzeilen der brasilianischen und internationalen Presse: Die Morde sind auch Folge der systematischen Demontage der für den Schutz der indigenen Gebiete zuständigen Behörde FUNAI sowie der Sicherheitsorgane in der Region, unter anderen der Polícia Federal. Sie gehen ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nach, indigene Gebiete und ihre Bewohner*innen vor illegalen Aktivitäten zu schützen. Auch die personelle Besetzung beeinflusst das Aufgabenprofil der Institutionen. Nur ein Beispiel: Präsident der FUNAI ist d von Bolsonaro im Juli 2019 eingesetzte Marcelo Augusto Xavier da Silva. Er ist Vertreter des Agrobusiness und unterstützt erklärtermaßen eine Politik, die indigene Gebiete u.a. für ökonomische Aktivitäten wie den Bergbau öffnen soll. In diesem Klima wägen sich Invasoren in Sicherheit, ungestraft davon zu kommen.
Konflikte durch Goldgräber*innen
Die von Bruno Pereira und Dom Philipps aufgezeigten und untersuchten Konflikte mit Indigenen sind kein Einzelfall. Auch in andere Gebiete dringen beispielsweise illegale Goldgräber*innen (garimpeiros) vor. Etwa 20.000 illegale Goldgräber*innen sollen in das im Norden an der Grenze zu Venezuela liegende Gebiet der Yanomami eingedrungen sein. Dort haben sie eine Spur der Verwüstung und Gewalt hinterlassen. In dem 1992 rechtlich anerkanntem indigenen Gebiet „Terra Indígena Yanomami“ leben ca. 26.000 Yanomami in 271 Gemeinschaften, über die Hälfte der Gemeinschaften ist direkt vom Goldbergbau betroffen, der nicht nur Entwaldung verursacht, sondern auch Flüsse und Menschen durch den Einsatz von Quecksilber bei der Goldsuche vergiftet. Auch die Munduruku am Tapajós-Fluß sind von Invasionen durch garimpeiros bedroht. 442 illegale Abbaugebiete sind in ihrem Gebiet identifiziert worden. Die Gesundheitsbehörde Fiocruz stellte bei einem Vororteinsatz in 100% der Blutuntersuchungen der Munduruku erhöhte Quecksilberwerte fest.
Die indigenen Völker und der Regenwald werden eine weitere Regierung Bolsonaro nicht verkraften: sie haben immer weniger Möglichkeiten, ihre Gebiete zu verteidigen und gleichzeitig wächst die Gefahr, dass Gesetze die Ausbeutung ihrer Gebiete auch noch legalisieren. Lula hat hier ein eindeutige Gegenposition zur aktuellen Regierung bezogen und zugesichert, dass er die Integrität indigener Gebiet sichern wird und sogar die Schaffung eines Ministeriums für indigene Angelegenheiten versprochen. Deswegen wird die Mehrheit der Indigenen Lula wählen. Auch bei Frauen sowie bei Menschen aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung (mit einem Monatseinkommen von bis zu zwei Mindestlöhnen) führt er die Umfragen an. Sogar Lula’s Sieg schon im ersten Wahlgang scheint nun möglich mit über 50% aller Stimmen im ersten Anlauf
Die Stützen des Systems Bolsonaro
Die Wahl ist jedoch keineswegs entschieden, ein Vorsprung von 10% kann schnell dahin sein. Angesichts der bereits im vorherigen Beitrag beschriebenen katastrophalen Bilanz der aktuellen Regierung und der Wirtschaftskrise ist bemerkenswert, dass ein Drittel der Wähler*innen Bolsonaro unbeirrt unterstützt. Der Präsident verfügt weiterhin über eine stabile Basis, die anscheinend durch nichts zu erschüttern ist.
Wer bildet diese treue Basis des Systems Bolsonaro? Kritiker*innen bezeichnen die aktuelle Regierung als Regierung der drei B, die für Boi („Rind“, also das Agrobusiness), Bibel (also die konservativen evangelikalen Kirchen) und Bala (Kugel, als der gesamte Bereich Waffen und „innere Sicherheit“) stehen. Auch wenn dies eine zugespitzte Vereinfachung sein mag, charakterisiert sie doch Grundzüge der sozialen und ökonomischen Basis der Regierung.
Boi: Das Agrobusiness hat unzweifelhaft von Bolsonaro profitiert, obwohl auch die Vorgängerregierungen, einschließlich Lulas, im Einvernehmen mit dem Agrarsektor regierten. Aber der Angriff auf die Institutionen der Umweltpolitik und die völlig bedenkenlose Freigabe von Agrargiften unter Bolsonaro haben die solide Unterstützung des Präsidenten durch den Sektor des Agrobusiness gesichert. Die Agrarministerin Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, auch „Muse der Agrargifte“ genannt, erwies sich als treue Unterstützerin der Regierung, auch in turbulenten Zeiten. Das brasilianische Agrobusiness wird überwiegend Bolsonaros Wahlkampf unterstützen und dabei vor allem in ländlichen Gebieten Wähler*innen erreichen.
Bibel: Religion ist sehr präsent in Bolsonaros Rhetorik. Sein Aufstieg mit der Unterstützung evangelikaler Kirchen hängt auch mit einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung in Brasilien zusammen: dem zunehmenden Einfluss reaktionärer, evangelikaler Kirchen auf die gesamte Gesellschaft. Über ein Fünftel der brasilianischen Bevölkerung bekennen sich inzwischen zu diesen Kirchen, mit steigender Tendenz. Schon in 2018 hat dieser Teil der Bevölkerung zu Bolsonaros Wahlsieg beigetragen: 21,7 Millionen Evangelikale stimmten in der Stichwahl für Bolsonaro während von dieser Gruppe nur 9,7 Millionen seinem Gegenkandidaten Haddad ihre Stimme gaben. Für seine Regierung holte Bolsonaro die evangelikale und sehr populäre Pastorin Damares Alves ins Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte.
Bereits jetzt mobilisiert er die evangelikale Wähler*innenschaft mit einer aggressiven Rhetorik gegen das Recht auf Abtreibung oder die Anerkennung von LGTBQ*-Rechten. Er bringt dies kurz auf den Punkt: „Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, Gott steht über allen.“ Seine sogenannte „moralische Agenda“ bekommt auch Rückhalt in konservativen katholischen Kreisen. Gleichzeitig sind die Evangelikalen keineswegs ein homogener Block. Laut einer Umfrage von Mai dieses Jahres wollen immerhin 25% von ihnen Lula wählen. Die Bedeutung der Evangelikalen ist jetzt schon im Wahlkampf zu spüren. Lula und sein Wahlbündnis vermeiden Themen der moralischen Agenda. In der neuen noch vorläufigen Version des Regierungsprogramms wurde jedenfalls jeglicher Hinweis auf Abtreibung und reproduktive Rechte gestrichen.
Bala: Das dritte B steht für bala, „Kugel“. Es ist facettenreich und zentral für das System Bolsonaro. Immer wieder behauptet er, das ganze Übel der Gewalt in Brasilien liege darin, dass die „Schlechten“ über Waffen verfügen und die „Guten“ nicht. Außerdem hinderten Menschenrechte und Justiz die Polizei daran, die „Schlechten“ wirkungsvoll zu bekämpfen. Seiner Anhängerschaft präsentiert er Folgendes als Erfolg: In den ersten drei Jahren seiner Regierung sind dreimal so viele neue Waffen registriert worden wie in den drei Jahren zuvor, der legale Verkauf von Waffen explodiert. Inzwischen befinden sich 2,2 Millionen legale Waffen in privater Hand. Im Mai diesen Jahres wiederholte Bolsonaro: „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt sein… Die Waffe in der Hand der aufrechten Bürger wird nicht nur die Familie, sondern auch das Vaterland verteidigen.“
Aber Bolsonaro will sich nicht nur auf ein diffuses „bewaffnetes Volk“ stützen. Mit seiner Politik hat er sich auch die Loyalität der Militärpolizei und vielen Militärangehörigen gesichert, sie gehören zu den Gewinnern des Systems Bolsonaro. 6.000 Militärs haben gut bezahlte Posten in der Regierung bekommen, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. In den Wahlkampf wird Bolsonaro wohl mit einem loyalen Militär als Vize gehen. Die Militärpolizei, die für öffentliche Ordnung zuständig ist, rechtlich den Gouverneuren der Bundesstaaten unterstellt ist und so eher mit der deutschen Länderpolizei (und nicht mit Feldjägertruppen) vergleichbar ist, steht weitgehend hinter Präsident Bolsonaro. Wie die Militärs profitierten Militärpolizist*innen von Lohnerhöhungen und einer Rentenreform während seiner Regierung.
Das System Bolsonaro setzt auf Gewalt. Sei es in Amazonien, wo illegale Eindringlinge ermutigt werden indigene Gebiete auszubeuten oder in den Großstädten wo Bolsonaro Polizist*innen de facto Straffreiheit in Aussicht stellt, sollten bei ihren Einsätzen Personen ums Leben kommen. Ein alarmierender Ausblick: in 2021 wurden über 6.000 Menschen durch die Polizei umgebracht, im Jahre 2015 waren es 3.330. Vor diesem Hintergrund ist die wiederholte Drohung Bolsonaros, eine Wahlniederlage nicht zu akzeptieren, durchaus ernst zu nehmen. Es ist offen, wie seine aktuelle Basis damit umgehen wird. Auch wenn kaum jemand in Brasilien an einen klassischen Militärputsch glaubt, hat Bolsonaro großes Potential Chaos und Angst zu verbreiten und sorgt für große Besorgnis. Gemeinsam mit Menschenrechtsverteidiger*innen in Brasilien fordert die internationale Gemeinschaft richtigerweise Aufklärung und Strafverfolgung für die Morde an Bruno Pereira und Dom Philipps. Sie muss sich aber auch für die vielen anderen Menschen stark machen, die unter ähnlichen Umständen in Brasilien ihr Leben verloren. Sie muss die zunehmende Toleranz gegenüber Gewalt verurteilen, die auch den Vorwahlkampf zu bestimmen droht.