Weitere Pestidzide in Brasilien freigegeben

Im ersten Regierungsjahr von Bolsonaro im Jahr 2019 wurden 503 Agrarchemikalien freigegeben, in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 waren es 250 Insektizide, Herbizide und Fungizide.
| von Christian.russau@fdcl.org
Weitere Pestidzide in Brasilien freigegeben
"Vorsicht" GIFT!" Foto: christianrussau

Es sind alarmierende Meldungen aus Brasilien: Die Regierung von Jair Bolsonaro gibt weitere hochgiftige, andernorts verbotene Agrargifte frei, wie keine Regierung zuvor. Marcos Pedlowski ist Professor an der Universidade Estadual do Norte Fluminense in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeiro. Seinen Berechnungen zufolge lag in den Regierungsjahren der Arbeiterpartei PT der jährliche Durchschnitt für Neuzulassungen bei 140 Pestiziden, Herbiziden und Insektiziden, die Temer-Regierung steigerte diese Zahl 2017 und 2018 auf 277 bzw. 405. Die Bolsonaro-Regierung toppte dies noch einmal: Im ersten Regierungsjahr von Bolsonaro im Jahr 2019 wurden 503 Agrarchemikalien freigegeben, in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 waren es 250 Pestizide, Herbizide und Fungizide.1

Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien beruht auf dem Anbau von Monokulturen, insbesondere von Soja, Mais, Baumwolle und Zuckerrohr – und diese Monokulturen brauchen viele Pestizide. „Seit Anfang der 2000er Jahre wird viel genmodifiziertes Saatgut verkauft, das nicht stirbt, wenn man es beispielsweise großflächig mit Glyphosat spritzt. Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien ist total abhängig von Pestiziden“, konstatiert der Aktivist Alan Tygel von der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte („Campanha permanente contra os agrotóxicos e pela vida“).2

Schlimmer noch: Brasilien ist Weltmeister. Seit in Brasilien im Jahr 2010 erstmals mehr als eine Million Tonnen Pestizide in der Landwirtschaft versprüht wurden, trägt es den unrühmlichen Titel des größten Pestizidverbrauchers weltweit.3 Und mit Tereza Cristina ist eine erklärte Lobbyistin in Sachen Agrargifte Landwirtschaftsministerin geworden. „Brasilien – das Paradies der Agrargifte“.4

Wenn Brasilien Weltmeister beim Agrargift ist – so ist der zentralbrasilianische Bundesstaat Mato Grosso der Rekordlandesmeister: Wenn die insgesamt in Brasilien je Jahr ausgebrachte Menge Agrargifte auf die Bevölkerung heruntergerechnet wird, so kommt man auf die erschreckende Menge von 7,3 Litern je brasilianischer Bürger:in. Dies ist aber „nur“ der Landesdurchschnitt. Brasilienweiter Spitzenreiter beim Versprühen von Agrargiften ist der Bundesstaat Mato Grosso: In diesem wurden laut Berechnungen des staatlichen Instituts für Agrarsicherheit des Bundesstaats Mato Grosso (Indea) in den Jahren 2005 bis 2012 jährlich 13,3% (140 Millionen Liter) aller in Brasilien ausgebrachten Agrargifte versprüht. In der Gemeinde Sapezal, im Bundesstaat Mato Grosso, wurden im Jahr 2012 neun Millionen Liter Agrargifte zur Anwendung gebracht. Dies sind die letzten verfügbaren Daten des staatlichen Instituts für Agrarsicherheit des Bundesstaats Mato Grosso (Indea). Rechnet man die Menge an Agrargift auf ganz Brasilien runter, kommen wir auf die erwähnten 7,3 Liter je Person. In Sapezal aber liegt dieser Wert 52 Mal höher: 393 Liter je Person, wenn wir als Basis die Bevölkerungszahl von 2016 nehmen.

Aber auch andere Bereiche sind von Agrargiften betroffen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen verspritzte Agrarchemikalien als Rückstände auf den konsumierten Nahrungsmitteln verbleiben. Laut jüngsten vorliegenden Zahlen (2017/18) der Nationalen Behörde für Gesundheitsüberwachung ANVISA wurden bei Stichprobenüberprüfungen 14 gängiger landwirtschaftlicher Produkte5 in 23% der Fälle die zulässigen Grenzwerte überschritten.6 Ein weiterer kritischer Bereich ist der des Trinkwassers. Das Gesundheitsministerium prüft laut geltender Verordnung bislang auf 27 Stoffe,7 die teils schwere Gesundheitsgefährdungen bei Kontakt bewirken können.8 16 dieser Substanzen gelten laut ANVISA als „extrem toxisch“ oder „hoch toxisch“, 11 werden in Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Missbildungen, hormonellen oder reproduktiven Störungen in Verbindung gebracht.9 Was die brasilianische Öffentlichkeit im April 2019 vor allem schockte: Im Jahr 2014 wurden in 75% der Tests Rückstände von Agrarchemikalien im Trinkwasser gefunden. Bis 2017 stieg dieser Wert auf 92%.10 Das Gesundheitsministerium sah sich genötigt zu reagieren. Es plant eine Erweiterung der Überprüfung auf 37 Stoffe, nachdem in vielen Munizipien die Grenzwerte im Trinkwasser überschritten wurden, und dies obwohl im Rahmen des staatlichen Überwachungssystems SISAGUA11 nicht einmal die Hälfte der befragten Munizipien Daten übermittelte.12 Die dem Gesundheitsministerium unterstellte Forschungsinstitution FIOCRUZ fordert zum Schutz der Bevölkerung eine noch weiter reichende Untersuchung, nämlich das Trinkwasser auf 35 weitere Stoffe hin zu untersuchen. Zudem müsse, so FIOCRUZ, die Politik der geltenden Grenzwerte in Brasilien rasch geändert werden. Denn: Bei Glyphosat z.B. gilt in Brasilien ein Grenzwert im Trinkwasser von 500 Mikrogramm je Liter – somit ist der brasilianische Toleranzwert 1.000 mal höher als der in der EU gültige Wert.13

2https://contraosagrotoxicos.org/

3Siehe https://amerika21.de/meldung/2011/02/23060/eine-tonne-pestitide

4So titelte https://www.cartacapital.com.br/sociedade/ministra-da-agricultura-transforma-o-brasil-no-paraiso-dos-agrotoxicos/

5Anvisa wählte aus: Ananas, Salat, Knoblauch, Reis, Süsskartoffeln, Rote Bete, Karotte, Chayote, Guave, Orange, Mango, Paprika, Tomate und Weintrauben.

6http://portal.anvisa.gov.br/documents/111215/0/Relat%C3%B3rio+%E2%80%93+PARA+2017-2018_Final.pdf/e1d0c988-1e69-4054-9a31-70355109acc9#page=5

7https://cevs-admin.rs.gov.br/upload/arquivos/201804/26143402-anexo-xx.pdf#page=16

8Siehe zu den Gesundheitsrisiken der Stoffe zusammenfassend unter https://portrasdoalimento.info/2019/04/12/conheca-os-27-agrotoxicos-encontrados-na-agua-que-abastasse-as-cidades-do-brasil/#

9Siehe zusammenfassend https://exame.abril.com.br/brasil/1-em-4-municipios-tem-coquetel-com-agrotoxicos-na-agua-consulte-o-seu/

10https://reporterbrasil.org.br/2019/04/coquetel-com-27-agrotoxicos-foi-achado-na-agua-de-1-em-cada-4-municipios/

11http://www.saude.gov.br/vigilancia-em-saude/vigilancia-ambiental/vigiagua/sisagua

12https://reporterbrasil.org.br/2020/05/mistura-de-agrotoxicos-na-agua-continua-sem-controle-fiocruz-propoe-regras-mais-rigidas/

13https://reporterbrasil.org.br/2020/05/mistura-de-agrotoxicos-na-agua-continua-sem-controle-fiocruz-propoe-regras-mais-rigidas/