Unternehmensverantwortung: Das Prinzip der Freiwilligkeit hat versagt
Weimar – Vor etwas mehr als einem Jahr, am 28. Oktober 2018, wurde der Rechtsradikale Jair Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten gewählt. Bereits vor der Wahl äußerten sich Deutsche Unternehmensvertreter*innen positiv : Bolsonaro sei der „Wunschkandidat der Märkte“, twitterte beispielsweise die Deutsche Bank. Auch die deutsche Bundesregierung erklärte Brasilien noch im April 2019 als verlässlichen Partner, mit dem man gemeinsame Werte teile. Doch die Bilanz der ersten zehn Monate der Regierung Bolsonaro ist alarmierend: Zwischen Januar und September stieg die Entwaldung des Amazonasgebietes im Vergleich zum Vorjahr um 93 Prozent an. Mehr als 380 neue Agrargifte wurden zugelassen – so viel genehmigte die Europäische Union in acht Jahren. Rund ein Drittel der zugelassenen Chemikalien ist in Europa verboten.
Die Mordrate ging im Vergleich zu 2018 leicht zurück, die Polizeigewalt nahm jedoch zu. Bis Juni wurden 2.800 Menschen durch Polizist*innen getötet. Laut einer Erhebung des Nationalen Journalistenverbandes bedrohte und diskreditierte Jair Bolsonaro seit seinem Amtsantritt in 99 Fällen die Medien oder ihre Vertreter*innen. Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen berichten von einer zunehmend prekären Sicherheitslage bei ihrer Arbeit.
In Anbetracht dieser Entwicklungen stellte der Runde Tisch Brasilien in diesem Jahr das Thema „Bolsonarismo in Brasilien. Unternehmen und Menschenrechte“ in den Mittelpunkt. 130 Teilnehmer*innen aus Deutschland, der Schweiz und Brasilien kamen vom 8. bis 10. November in Weimar zusammen, um gemeinsam Bilanz zu ziehen und Forderungen an Regierungen und Unternehmen im deutschsprachigen Raum zu formulieren.
Die Teilnehmer*innen aus Brasilien berichteten von der aktuellen Situation vor Ort. „Unsere Arbeit wird erschwert durch die Angriffe, die seit dem Amtsantritt Bolsonaros aus so vielen Richtungen und in so großer Geschwindigkeit kommen“, sagt Leticia Rangel Tura von der FASE Nacional. Die Organisation unterstützt die lokale Bevölkerung unter anderem beim Kampf um ihre Landrechte und schafft - besonders für Jugendliche und Frauen - Bildungsangebote zu politischen und ökologischen Themen. „Wir versuchen aber auch, die parlamentarische Arbeit in Brasília zu beeinflussen und uns national und international weiter zu vernetzen, denn für uns allein ist es unmöglich, den aktuellen Entwicklungen entgegenzuwirken“, so Rangel Tura weiter.
Auch die Arbeit von Bruno Langeani vom Instituto Sou da Paz hat sich seit Januar verändert: „Im vergangenen Jahr wurden 6.000 Menschen durch Polizist*innen ermordet und die neue Regierung ermutigt die Polizei zu noch mehr Gewalt.“ Das Instituto Sou da Paz ist seit 20 Jahren in São Paulo aktiv und arbeitet unter anderem direkt mit Polizist*innen, um „Frieden in der Praxis zu fördern“. Eine „Militarisierung der Bildung“, stellt Marilene Alves de Souza fest. Die Abgeordnete der Arbeiterpartei (PT) aus dem Landesparlament von Minas Gerais berichtet, dass sowohl die Zensur angeblich „linker“ Themen (wie Menschenrechte und Genderfragen) und Repressionen gegen Lehrkräfte, die diese Themen unterrichten, als auch das tägliche Singen der Nationalhymne in vielen Schulen inzwischen zum Alltag gehöre.
Die Auswirkungen der rechtsradikalen Regierung spüren auch Organisationen der Brasilien-Solidaritätsbewegung in Deutschland. „Wir haben in diesem Jahr viermal so viele Besuche von brasilianischen Aktivist*innen und linken Parlamentarier*innen mitorganisiert wie in den Vorjahren“, sagt Christian Russau vom FDCL. Der Bedarf an Informationen und Vernetzung ist groß. Ziel der Besucher*innen ist es, eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland zu schaffen sowie Politik und Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Andreia de Jesus, Abgeordnete des Landesparlamentes für die Partei PSOL in Minas Gerais, reiste mit einer klaren Botschaft nach Weimar: „Deutsche und europäische Unternehmen sind dafür verantwortlich, dass der Bergbau in Brasilien Menschenleben und die Umwelt zerstört.“ Im Oktober verklagten Betroffene gemeinsam mit dem Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) und Misereor das deutsche Unternehmen TÜV Süd, das die Sicherheit des im Januar 2019 gebrochenen Staudamms der Eisenerzmine bei Brumadinho zertifizierte. TÜV Süd hatte vorab Sicherheitsbedenken geäußert, letztlich zugunsten weiterer Aufträge aber eine Zertifizierung ausgestellt. Für Klaus Schilder von Misereor zeigt dieses Beispiel, dass das „Prinzip Freiwilligkeit“ gegenüber den Unternehmen versagt habe.
Die Initiative Lieferkettengesetz, an der sich neben Misereor mehr als 70 weitere Organisationen beteiligen, soll verhindern, dass sich Katastrophen wie Brumadinho in Zukunft wiederholen. Gleichzeitig will man Unternehmen zur Haftung verpflichten. In der Schweiz gibt es mit der Konzernverantwortungsinitiative ein vergleichbares Vorhaben. Katharina Boerlin, die für die Initative arbeitet, geht davon aus, dass noch 2020 in einer Volksabstimmung darüber entschieden wird, ob aus der Initiative ein Gesetz wird. Sollte der Schweizer Nationalrat einen zufriedenstellenden Gegenvorschlag zur Initiative liefern, könnte ein Gesetz sogar noch schneller kommen.
Jaqueline Santos von der FASE Amazônia aus Belém betont die Bedeutung solcher Initiativen der Zivilgesellschaft in Europa: „Viele Europäer*innen wissen nicht, was ihre Unternehmen im Ausland machen.“ Das beste Beispiel sei für sie der Bayer- Konzern. Das weltweit tätige Unternehmen verkauft in Brasilien Agrargifte, die in Europa nicht zugelassen sind. „Ihr habt in Deutschland die Macht, die Politik zu beeinflussen. Euer Engagement und eure Konsumentscheidungen beeinflussen auch unser Leben in Brasilien“, so Santos.
Das beim Runden Tisch Brasilien gemeinsam formulierte Positionspapier ist ein Weg, um diese Macht zu nutzen. Unter dem Titel „Keine Geschäfte mit Brasilien auf Kosten von Mensch und Natur!“ enthält es elf Forderungen, unter anderem den Boykott des EU-Mercosur- und des EFTA-Abkommens. Es soll der deutschen und schweizerischen Regierung noch im November vorgelegt werden, denn am 27. und 28. November treffen sich deutsche Regierungsvertreter*innen zu Konsultationen mit Vertreter*innen der Regierung Bolsonaro.
Der diesjährige Runde Tisch Brasilien wird auch aus einem anderen Grund besonders in Erinnerung bleiben: Der ehemalige brasilianische Präsident und langjährige Gewerkschaftsführer, Luíz Inácio Lula da Silva, wurde am 8. November nach 580 Tagen vorläufig aus der Haft entlassen. Marilene Alves de Souza von der PT in Minas Gerais verkündete die Nachricht noch während des Auftaktplenums am Freitagabend.
Audio-Rückblick auf den Runden Tisch Brasilien von Andrea Zellhuber (Terre des hommes Schweiz) und Andreas Behn (DGB Bildungswerk Brasilien):