Nur wichtig mit Papieren rumfuchteln reicht nicht
Die Regierung in Brasília will die Wasserkraftnutzung zur Energiegewinnung und den Bergbau in Amazonien massiv ausbauen. Doch am Tapajós-Fluss stößt sie auf Widerstand der lokalen Bevölkerung und stolpert wiederholt über die eigene Gesetzgebung. Es geht dabei vor allem um die Frage, ob Konsultation bloß Anhörung oder auch Zustimmung bedeutet.
„Was machen Sie mit Ihrem Müll?“, lautete eine der Fragen, die dem Flussanwohner Chico Augusto von den brasilianischen Behörden gestellt wurde. Der über 80-Jährige bat die aus der Hauptstadt Brasília entsandte Mitarbeiterin für ihn die Antwort anzukreuzen. „Hm, hm“, Papiere machten ihn nervös, berichtet er hinterher der Reporterin der brasilianischen Ausgabe von El País, der er diese Begegnung der anderen Art schildert. Da kamen diese Interviewer*innen, geschickt von der Regierung, fuchtelten wichtig mit Papieren in den Händen rum und stellten ihm viele Fragen. Die er redlich und nach bestem Wissen zu beantworten habe. „Was tun Sie in Ihrer Freizeit?“ Freizeit ist für ihn ein etwas merkwürdiger Begriff. So bat er das Feld anzukreuzen, das – so hatte man ihm vorgelesen – für die Antwort stehe: „In die Stadt oder ins Stadtzentrum gehen.“
Chico Augusto lebt am Rande des großen Flusses, dem Tapajós, mitten in einer der letzten großen unberührten Gegenden Amazoniens. Er ist Flussanwohner, lebt am, vom und mit dem Fluss, dies sein ganzes Leben lang, also mehr als 80 Jahre. Das Haus der Nachbar*innen ist mehrere Ruderstunden entfernt. Als Chico Augusto 78 Jahre alt wurde, ist er zum ersten Mal in die Stadt gefahren. Dies sei eine Reise mythischen Ausmaßes gewesen, die in die mündliche Überlieferung der kleinen Gemeinde flussauf und flussab überging, so berichtet er El País. In gewissem Maße nutzte der damals 78-Jährige erstmal diese „Freizeit“, um seine Geburtsurkunde nachträglich erstellen zu lassen. Wie er die Post nutze, wollte die Interviewerin der Behörde auch noch wissen. Chico Augusto ließ ankreuzen, dass er in die Stadt Itaituba fahre, um die Post zu nutzen. Hinterher wird er bei der Reporterin von El País nachfragen, was denn diese „Post“ überhaupt sei. Und der Müll? „Was machen Sie mit Ihrem Müll?“ Das Kreuz setzte die Interviewerin bei „Der Müll wird auf Brachflächen oder öffentliches Gelände geworfen“. Ja, dorthin wirft Chico Augusto seinen Müll: Es sind die Reste seines Essens, die werden dann von den Hunden restlos aufgegessen.
Die Regierung in Brasília hatte die Interviewer*innen in die Tapajós-Region entsandt, um die vom Gesetz her vorgeschriebenen Befragungen der lokalen Bevölkerung durchzuführen. Denn Brasília will an den Flüssen der Tapajós-Region, also am gleichnamigen Fluss wie auch seinen beiden größten Zuflüssen, am Juruena und am Teles Pires, insgesamt mehr als ein Dutzend Staudämme errichten. Und die Betroffenen müssen laut Gesetz befragt werden. Flussanwohner*innen, Kleinbäuerinnen und -bauern ebenso wie Indigene wurden mit solchen standardisierten Bögen befragt. Biolog*innen sollten die Region ebenso wie Archäolog*innen und andere Forscher*innen erkunden. Und es sollte öffentliche Anhörungen zur Information der Bevölkerung geben. All dies schreiben die Gesetze vor.
Die am Tapajós geplanten Stauwerke dienen nicht nur der Energiegewinnung, sondern die Stromschnellen sollen auch durch Schleusen schiffbar gemacht werden. So sollen zwei Ziele durch eins erreicht werden: Ausbau der Energiegewinnung durch Wasserkraftwerke und der erleichterte, weil kostengünstigere Transport von Rohstoffen an die Atlantikhäfen. Also vor allem die in Mato Grosso massiv angebauten Sojabohnen und Rohstoffe des in Zukunft noch stärker in der Region auszubauenden Bergbaus. Denn hinzu kommt: Die brasilianische Regierung erarbeitet derzeit ein neues Rahmengesetz für Bergbau. Und in der Tapajós-Region soll sich künftig das Herzstück für den Mineralbergbau herausbilden. „Dort“, so berichtete Padre Edilberto Sena bereits vor über einem Jahr im Interview, „dort gibt es alles: Bauxit, Gold, Mangan, Kalk, Phosphat. In der Nähe gibt es zudem Uran und Blei – all diese Mineralien stehen im gierigen Fokus der Bergbaukonzerne.“ In Mato Grosso wurden erst vor kurzem Vorkommen mit 450 Millionen Tonnen Phosphat sowie elf Milliarden Tonnen Eisenerz entdeckt. Wenn das neue Rahmengesetz für Bergbau kommt und der Rohstoffabbau in der Tapajós- und Mato-Grosso-Region Fuße fasst, dann will Brasília die Erze über den schiffbar zu machenden Korridor des Tapajós transportieren lassen.
Der Staudamm São Luiz do Tapajós ist mit acht Gigawatt nach Belo Monte mit elf Gigawatt der zweitgrößte der derzeit in Planung beziehungsweise in Bau befindlichen Staudämme in Brasilien und der größte des Tapajós-Komplexes. Und São Luiz do Tapajós soll der erste Staudamm in dieser noch meist unberührten Region im Süden Parás sein. Da die Bauarbeiten am Staudamm Belo Monte in einigen Monaten vollendet sein sollten, hatte Brasília seit langem geplant, die Bauarbeiten für São Luiz do Tapajós direkt im Anschluss an die Fertigstellung Belo Montes beginnen zu lassen, um die 30.000 Arbeiter*innen Belo Montes nicht arbeitslos werden zu lassen, sondern sie direkt an die dann neue Baustelle am Tapajós zu bringen.
Um den Bau aber beginnen zu können, müssen die Gesetze beachtet werden. Brasilien hatte 2004 die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO) zum Schutze indigener Völker ratifiziert und die brasilianische Gesetzgebung, den Artikel 231 der Brasilianischen Verfassung, entsprechend angepasst. Seither gilt, dass jegliche Bau- und -vorarbeiten für Staudämme oder andere Großprojekte, die indigene Bevölkerung betreffen, erst nach der erfolgten freien, vorherigen und informierten Konsultation der betroffenen Indigenen stattfinden dürfen.
Brasília sagt, die Untersuchungen, Befragungen und öffentlichen Anhörungen seien durchgeführt worden. Außerdem habe keiner der am Tapajós geplanten Staudämme Auswirkungen auf indigene Gruppen, da dort keine demarkierten indigenen Territorien seien. Dieser Ansicht widersprach nun ein Bundesrichter in einem jüngst veröffentichten Urteil vehement. Es gebe dort sehr wohl demarkierte Territorien, so der Richter Ilan Presser am 15. Juni in seiner Urteilsbegründung. Und da, so der Richter weiter, „im gesamten [bisherigen] vorbereitenden Versteigerungsverfahren das Recht auf vorherige Konsultation nicht ernsthaft beachtet wurde“, müsse der nächste Schritt im Bauplanungsprozess an die zeitliche Vorgabe der abschließenden Erfüllung der freien, vorherigen und informierten Konsultation der betroffenen Indigenen hinten angestellt und von dieser abhängig gemacht werden.
Was diese Entscheidung nun in der Praxis bedeutet, ist zunächst noch unklar. Denn der Oberste Gerichtshof in Brasília hatte schon in mehr als zwei Dutzend vergleichbaren anhängigen Klagen der Bundesstaatsanwaltschaften stets mit dem Verweis auf ein Dekret aus der Zeit der Militärdiktatur reagiert, nach dem die Klage ohne Ansehung des Sachverhalts auf zunächst unbestimmte Zeit aufgehoben wird, indem sich das Richtergremium auf das „nationale Interesse“ beruft. Dies kann auch in dem hier vorliegenden Fall geschehen. Aber selbst wenn die Entscheidung des Bundesgerichts weiterhin Bestand haben sollte, dass zunächst die freie, vorherige und informierte Konsultation der Betroffenen erfolgen müsse, bleibt rechtlich ungeklärt, wie genau diese Konsultation auszusehen hat.
Denn die Umsetzung der ILO-Konvention 169 ist bis heute in einer rechtlichen Grauzone. Die Konvention 169 definiert in Artikel 6, Satz 1, dass „die betreffenden Völker durch geeignete Verfahren und insbesondere durch ihre repräsentativen Einrichtungen zu konsultieren [sind], wann immer gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie unmittelbar berühren können, erwogen werden“. Weiter bestimmt die Konvention, dass die „Konsultationen in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen sind, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen.“
Und genau in diesem Spannungsbogen zwischen „Konsultation“ und „Zustimmung“ bewegt sich auch die Auseinandersetzung um die Auslegung der ILO-Konvention 169. Projektbetreibende und Regierungen meinen meist, dass es reicht, Anhörungen durchzuführen. Indigene Völker wie auch die zuständigen UN-Gremien und die ILO selbst stehen dagegen auf dem Standpunkt, dass die ILO-Konvention so auszulegen sei, dass Konsultation, Partizipation und Zustimmung alle drei gleichermaßen Grundbedingen des Rechtsschutzes für indigene Völker darstellten. Und wenn die „Zustimmung“ erforderlich ist, muss dies im Umkehrschluss heißen, dass ein Projekt eben schlicht nicht durchgeführt werden darf, wenn die betroffenen Gemeinschaften ihre Zustimmung nicht geben. Dieser Rechtsstreit wird in Brasilien noch Jahre geführt werden müssen, der Ausgang, wer siegen wird, ist noch offen.
Doch darauf zu vertrauen, dass die Rechtslage letztlich zugunsten der lokal betroffenen Bevölkerung entscheide, dass diese per möglichem Veto das letzte Wort über den Bau des Tapajós-Komplexes habe, darauf wollen sich vor allem die indigenen Munduruku nicht verlassen. Bereits im Jahr 2013 waren mehrere hundert Munduruku öffentlichkeitswirksam zur mehrere hundert Kilometer entfernten Baustelle von Belo Monte gefahren, um diese zu besetzen und den Bau zu stoppen. Im Juni 2013 hatten die Munduruku zudem in ihrem Gebiet die von Brasília in ihr Gebiet
entsandten Wissenschaftler*innen kurzzeitig als „Invasoren“ ihres Landes festgesetzt und einen generellen Stopp für alle Baupläne am Tapajós gefordert. Daraufhin beeilte sich die brasilianische Bundesregierung öffentlich zu erklären, die für die Tapajós-Region geplanten vorbereitenden Studien sofort auszusetzen. Die Munduruku ließen die Wissenschaftler*innen wieder frei und wurden vom Präsidialamtsminister zu Gesprächen nach Brasília geladen. Dort wurde ihnen erneut zugesagt, dass am Tapajós nichts gegen ihren Willen geplant werde. Wenige Tage nach dieser Zusage äußerte der Vorsitzende der staatlichen Energieforschungsagentur, Maurício Tolmasquim, dass der geplante Staudamm am Tapajós nun noch 15 Prozent leistungskräftiger als geplant werde. Binnen Monatsfrist hatte Brasília zudem die Wissenschaftler*innen wieder vor Ort entsandt, diesmal bewacht durch Militäreinheiten.
Auf das Wort der Regierung scheinen die Munduruku nicht mehr besonders zu vertrauen. Statt dessen nehmen sie die Dinge lieber selbst in die Hand. So haben Munduruku in einigen der bislang noch immer nicht demarkierten Gebiete damit begommen, eine Auto-Demarkation vorzunehmen. Sie selbst beginnen mit den Erhebungen und sondieren, welche Gruppe der mehr als 10.000 Munduruku traditionell wo in der Tapajós-Region welche Gebiete wie nutzt. Darüber machen sie Aufzeichnungen und wollen diese selbst gesammelten Informationen verwenden, wenn in Zukunft wieder jemand aus Brasília geschickt wird, der*die viele Fragen stellt und wichtig mit Papieren in den Händen rumfuchtelt.
// Christian Russau. Dieser Text erscheint auch in der neuen Print-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten, Juli/August 2015