Bericht über Gewalt gegen die indigene Bevölkerung Brasiliens

Der Indigenen-Missionsrat CIMI (Conselho Indigenista Missionário) hat am 30. Juni 2011 einen weiteren Bericht über die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung Brasiliens veröffentlicht. Die erhobenen Daten stammen aus dem Jahr 2010 und machen das traurige und beunruhigende Ausmaß der Gewalt gegen die indigene Bevölkerung Brasiliens deutlich. Auffallend ist die hohe Anzahl an Morden, Morddrohungen, Kindersterblichkeit und körperlichen Verletzungen.
| von Philipp Andrae

Im Bundesstaat Mato Grosso beispielsweise sind im Jahr 2010 60 Kinder der dort lebenden indigenen Bevölkerung an Unterernährung, Atemwegserkrankungen oder Infektionskrankheiten gestorben. Diese Zahl entspricht 40% der dort im Jahr 2010 in indigenen Gemeinschaften geborenen Kinder. Im Vergleich zu den Vorjahren kommt dies einem drastischen Anstieg der Kindersterblichkeit gleich. In den Jahren 2008 und 2009 wurden insgesamt 33 Todesfälle registriert. Der Bericht spricht von prekären Zuständen bei der medizinischen Versorgung in Mato Grosso und konstatiert einen Mangel an medizinischer Ausstattung, Ärtzt_innen, Krankenpflegern und Krankenschwestern, Medikamenten und an Transportmöglichkeiten, um kranke oder verletzte Personen von ländlichen Regionen bis in die Städte zu bringen. Die Situation ist alarmierend, in Mato Grosso wurden 2010 15.000 Fälle von unterlassener medizinischer Hilfeleistung registriert.
Bezeichnend ist auch die Situation der indigenen Bevölkerung in der an Peru grenzenden Region Vale do Javari im Bundesstaat Amazonas, in der sich rund 20 verschiedene, isoliert lebende, indigene Gruppen auf dem 2001 anerkannten Territorium aufhalten. In der Region Vale do Javari hat die hohe Kindersterblichkeit innerhalb der letzten zehn Jahre zu einer drastischen Verringerung der indigenen Bevölkerung geführt. Die Daten beweisen, dass in der Region in den vergangenen 11 Jahren 210 Kinder unter 10 Jahren starben, was einer Kindersterblichkeitsrate von mehr als 10% entspricht. Der nationale Durchschnitt in der Gesamtbevölkerung beträgt im Vergleich dazu knapp 2,3%. Die geographische Distanz, die Tatenlosigkeit und Ignoranz der Regierung seien in diesem Fall entscheidende Faktoren dafür, dass die Zahl der Krankheitsfälle in der Region nicht zurückgegangen sei, von denen viele – wie z.B. die Unterernährung – mit einfachen Mitteln hätten verhindert werden können. Insgesamt sei 2010 in 25.652 Fällen fehlende, mangelnde oder unterlassene medizinische Hilfeleistung festgestellt worden.
Als eine der Hauptursachen für die alarmierenden Zahlen aus dem Jahr 2010 nennt der Bericht Versäumnisse der Regierung, welche der indigenen Bevölkerung mit Geringschätzung gegenüberstehe und deren Bedürfnisse vernachlässige. Die Regierung versäume in ihrer einseitigen, auf bestimmte ökonomische und politische Interessen ausgerichteten Politik, die Interessen der Indigenen zu wahren und ihre Gebiete vor den Auswirkungen der auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Politik zu schützen.
Die Erziehungswissenschaftlerin Iara Tatiana Bonin konstatiert: „Kurz nach der Geburt sind die Kinder bereits Umständen ausgesetzt, die ihr Leben erschweren oder unmöglich machen. Enteignung und Plünderung des eigenen Lebensraums, Zurückdrängung, mangelnde ärztliche Hilfe und medizinische Versorgung, starke Verbreitung von Krankheiten, Unterernährung, Hunger und jegliche Art von Gewalt, denen Indigene aufgrund der Intoleranz und des fehlenden Respekts vor ihrer Lebensform ausgesetzt sind.“
Des weiteren spricht der Bericht von einer permanenten Bedrohung der rund 90 isoliert lebenden indigenen Völker. Die gewonnen Daten machen deutlich, dass viele dieser Völker von der Ausrottung bedroht sind. Durch illegalen Holzeinschlag werden die Gebiete, in denen Indigene leben, eingegrenzt und stark beeinträchtigt. Die Invasion der Holzfäller_innen dringt hierbei selbst in die indigenen Gebiete vor, die bereits als Ursprungsgebiete anerkannt wurden. Eine weitere Bedrohung stellen die Unternehmungen der Regierung dar, die es allesamt zum Ziel haben, den Abbau von Rohstoffen sicher zu stellen und den freien Warenhandel (Holz, Mineralien, Fisch, Wasser, etc.) zwischen den lateinamerikanischen Staaten zu fördern. All diese Entwicklungen folgen der Logik der Ausbeutung und erschließen so immer mehr Gebiete, in denen Indigene leben. Dies hat zur Folge, dass die Zufluchtsorte der indigenen Bevölkerung immer weniger werden und verschiedene indigene Gruppen gezwungen sind, innerhalb des verbleibenden Schutzraumes ihren Lebensraum gegeneinander zu verteidigen. Beispielhaft sind die Konzessionen für die Wasserkraftwerke Jirau, Santo Antônio und Belo Monte, von deren Auswirkungen zahlreiche Indigene betroffen sind. Trotz der hohen Widersprüchlichkeit der Bauvorhaben folgte die Genehmigung seitens der Regierung, die dabei die Existenz der isoliert lebenden Indigenen grundsätzlich missachtete.
In der Folge der alarmierenden Situation betont Egydio Schwade, Mitarbeiter von CIMI im Amazonas-Gebiet, die Wichtigkeit der Erinnerung an die Massaker an der indigenen Bevölkerung, die während der Zeit der Militärdiktatur zu Tausenden verfolgt und brutal ermordet wurden. Ganze Völker seien während dieser Zeit verschwunden, andere wurden gezielt ausgerottet oder drastisch reduziert. Er kritisiert, dass diese historische Tatsache, die Folter und die Gewalt, denen die Ureinwohner_innen Brasiliens unter der Militärdiktatur ausgesetzt waren, seitens der Medien, der Regierung und innerhalb der durchschnittlichen Bevölkerung kaum thematisiert werden würde.


Bericht in portugiesischer Sprache: http://www.cimi.org.br/pub/publicacoes/1309466437_Relatorio%20Violencia-com%20capa%20-%20dados%202010%20%281%29.pdf

Die Publikation wurde im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung am Sitz der nationalen Bischofskonferenz in Brasília von den verantwortlichen Personen vorgestellt.