Brasilianische Staatsanwaltschaft für Arbeit und Soziales erhebt Anklage gegen Volkswagen wegen Sklavenarbeit auf der VW-Farm Vale do Rio Cristalino in Amazonien zwischen 1974 und 1986
Die brasilianische Staatsanwaltschaft für Arbeit und Soziales (kurz MPT) reichte am heutigen Donnerstag eine öffentliche Zivilklage gegen Volkswagen do Brasil ein, in der sie den Automobilhersteller beschuldigt, zwischen 1974 und 1986 Arbeiter:innen auf der Farm Vale do Rio Cristalino in Santana do Araguaia im südlichen Pará in sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen ausgebeutet zu haben. Die berichtet die brasilianische NGO von Investigativjournalist:innen Repórter Brasil auf ihrer Webseite und beim Nachrichtenportal UOL. Kurz nach Erscheinen des Berichts bei UOL und bei Repórter Brasil veröffentlichte auch die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft die Anklage gegen VW do Brasil auf ihrer Webseite.
Bei der heutigen Klage der Staatsanwaltschaft für Arbeit und Soziales gegen Volkswagen do Brasil geht es um den zweiten großen Fall der Menschenrechtsverbrechen, an denen Volkswagen do Brasil während der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) beteiligt war. Der erste bezog sich auf die Vorwürfe, die eigenen Mitarbeiter:innen des VW-Werkes an die Repressionsorgane der Militärdiktatur ausgeliefert und mit dieser aktiv kollaboriert zu haben: VW zahlte Ende 2020, nahezu 50 Jahre nach den Geschehnissen, Entschädigungen an die Betroffenen (siehe ausführlich hier bei KoBra). In dem zweiten Fall, dem Vorwurf der Sklavenarbeit auf der VW-Fazenda Rio Cristalino, steht ein solcher Schritt noch aus. Nun aber tut sich was.
Die Staatsanwaltschaft fordert demnach von dem Unternehmen eine Entschädigung für den kollektiven moralischen Schaden in Höhe von nicht weniger als 165 Millionen Reais (derzeit umgerechnet rund 26 Millionen Euro), was eine entsprechende Verurteilung der Firma zur größten in der Geschichte in Bezug auf die Ausbeutung von Sklavenarbeit in Brasilien machen würde, so die Autor:innen der Meldung bei Repórter Brasil, Leonardo Sakamoto und Isabel Harari. Die Staatsanwaltschaft fordert dem Bericht zufolge zudem, dass Volkswagen do Brasil die begangenen Verstöße öffentlich anerkenne und sich formell verpflichte, ähnliche Praktiken in Zukunft zu vermeiden. In einem nächsten Schritt wird Volkswagen aufgefordert, sich zu verteidigen und an einer Schlichtungsverhandlung teilzunehmen. Anschließend wird der Fall zur Beweisaufnahme und Verurteilung weitergeleitet.
„Auf der Grundlage der gesammelten Beweise ist die Arbeitsstaatsanwaltschaft zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass Hunderte von Arbeitern auf der Volkswagen-Plantage versklavt und ihrer Würde beraubt wurden, indem sie verschiedenen Formen physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren. Die Klage wurde daher eingereicht, um eine Entschädigung für die von Volkswagen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen zu erhalten“, erklärte Rafael Garcia, einer der Arbeitsstaatsanwälte, die die Anzeige unterzeichnet haben, gegenüber den Autor:innen des Berichts bei Repórter Brasil. Der Meldung zufolge erklärte der zuständige Staatsanwalt, der die Klage eingereicht hat: "Als sie zur Teilnahme an den Verhandlungen aufgefordert wurde, kamen sie dieser Aufforderung zunächst nach, zogen sich aber im März 2023 ohne weitere Erklärung vom Verhandlungstisch zurück und erklärten lediglich, dass sie ihre Verantwortung nicht anerkennen", so Staatsanwalt Rafael Garcia. Damit bezog sich Staatsanwalt Rafael Garcia auf die Vorgänge bis März 2023, als es zuvor drei Sitzungen bei der Staatsanwaltschaft in Anwesenheit von Menschenrechtsverteidiger:innen, NGOs, Betroffenen und Firmenvertreter:innen gegeben hatte, aber die VW-Rechtsvertreter:innen Ende März 2023 überraschend erklärten, an keinen weiteren diesbezüglichen Gesprächen mehr teilzunehmen.
Der zuständige Staatsanwalt Rafael Garcia hatte gegenüber dem Autor dieser Meldung im Juni 2023 zum einseitigen Ausstieg von Volkswagen do Brasil aus dem Verhandlungsprozess bei der Staatsanwaltschaft auf Email-Anfrage erklärt: "Wir werden nicht akzeptieren, dass sie einfach den Verhandlungstisch verlassen und sich weigern, die Verantwortung für die Verbrechen zu übernehmen, die auf ihrer Fazenda begangen wurden." Nun hat der Staatsanwaltschaft diesen Worten Taten folgen lassen.
Damals Ende März 2023 sollten zeitgleich zu den Verhandlungen bei der Staatsanwaltschaft vor Ort von Aktivist:innen eine von fast 3.000 Bürgerinnen und Bürgern aus Deutschland unterzeichnete Petition der Brasilieninitiative Freiburg e.V. übergeben werden, die von Volkswagen Entschädigung für die ehemaligen Sklavenarbeiter:innen forderte (KoBra berichtete). Laut damaligen Medienberichten verließen die anwesenden Vertreter:innen und Rechtsanwält:innen von VW do Brasil die Anhörung und lehnten eine weitere Beteiligung an dem Verfahren ab. Laut dem damaligen Bericht der Tageszeitung Folha de São Paulo beharrten die vor Ort anwesenden Vertreter:innen des Unternehmens auf dem Argument, dass Volkswagen keine Verantwortung für die damaligen Geschehnisse auf dem Grundstück trage. Unverblümt blieb VW damit auf der Argumentationskette, die die Firma bereits Mitte der 1980er gefahren hatte, als die ersten Anschuldigungen über sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse auf der VW-Fazenda Rio Cristalino international bekannt wurden: VW habe mit der Sklavenarbeit vor Ort auf ihrer Fazenda nichts zu tun, schließlich seien die dort Tätigen ja über Drittfirmen beschäftigt.
Günther Schulz von Brasilieninitiative Freiburg e.V. nannte Ende März 2023 den erklärten Rückzug Volkswagens aus dem Verhandlungsprozess mit der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft und die verbliebenen Betroffenen "beschämend, unsere von fast 3.000 Bürger:innen unterzeichnete Petition wurde vollkommen missachtet und zeigt, wie in den Vorstandsetagen über die Zivilgesellschaft gedacht wird. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden ist das Verhalten von VW besonders skandalös. VW sollte schnellstens einer Vereinbarung zustimmen und die Verzögerungstaktik aufgeben“, so Schulz weiter. „VW muss endlich dieses düstere Kapitel seiner Historie zum Abschluss bringen." Diese Forderungen und Kritik bekräftigte Günther Schulz übrigens vor Kurzem erneut, in der aktuellen Ausgabe der in Freiburg erscheinenden Brasilien Nachrichten.
Die Anzeige gegen Volkswagen do Brasil bezieht sich auf die Vorgänge auf der VW-Fazenda Vale do Rio Cristalino in Amazonien. Damals kam es zwischen 1974 und 1986 den Ermittlungen der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft zufolge, die sich vor allem auf die Anzeige von Padre Ricardo Rezende Figueira berufen, zu - so Padre Ricardo Rezende - "Verstößen gegen das, was wir Schuldknechtschaft nennen. Die Arbeiter betraten die Farm und konnten sie nicht mehr verlassen, unter dem Vorwand, dass sie Schulden für den Transport zur Vale-do-Rio-Cristalino-Farm hätten. Dann gab es Schulden für Lebensmittel, da sie gezwungen waren, auf der Farm Lebensmittel zu kaufen, für Arbeitsgeräte und für die Plastikfolie, mit der die improvisierte Hütte abgedeckt war. Es war ein System der permanenten Verschuldung. Tausende von Arbeitern waren versklavt und wurden vor allem im Nordosten und Mittleren Westen für zeitlich begrenzte Tätigkeiten wie das Abholzen des Waldes, das Anzünden des Dschungels, das Anpflanzen von Gras und den Bau der Anlagen auf der Ranch angeworben. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren menschenunwürdig, und die Arbeit war anstrengend. Darüber hinaus gab es Berichte über Mord, Vergewaltigung, körperliche Gewalt und Folter."
Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht. Und es reicht eben nicht aus, wenn VW einseitig erklärt, dass die Firma keine Verantwortung diesbezüglich trüge. Dies sollen nun die Gerichte in Brasilien entscheiden.