Wahlen in Brasilien Lula siegt gegen Bolsonaro – aber die Zukunft des Landes ist ungewiss
- Lula hat die Stichwahl gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro gewonnen. Wie bewertest Du das Ergebnis?
Es ist ein Sieg der Demokratie - nach einem sehr schwierigen Wahlkampf, in dem Bolsonaro und seine Entourage für seine Wiederwahl das Land nicht nur mit ihren berüchtigten Fake News geflutet und das Wahlverfahren angezweifelt haben. Bolsonaro hat auch den gesamten Regierungsapparat - häufig rechtswidrig – eingespannt (u.a. durch Druck auf Menschen, die auf Sozialgelder angewiesen sind). Er hat geheime und umfangreiche Haushaltsmittel für Politiker seiner Richtung verteilt und sogar die Bundespolizeibehörden am Tag der Wahl gezielt beauftragt, WählerInnen zu behindern. Aber er ist gescheitert und brauchte fast 3 Tage, um sich zu äußern, und auch dies nur in gewundenen Formulierungen. In großen Teilen der Bevölkerung war jedoch nach den letzten harten Jahren (Wirtschaftskrise, Sozialabbau, Pandemie usw.) doch Erleichterung zu verspüren. Obwohl das Ergebnis rechnerisch sehr knapp war (50,89% gegen 49,10% bei über 2 Millionen Stimmen Vorsprung für Lula) und der Bolsonarismus sich sowohl im Parlament als auch in der Gesellschaft ausweiten konnte, zeigte diese Wahl jedoch, dass es möglich ist, dem zunehmenden Autoritarismus gegenzusteuern. Außerdem lehrte sie auch, wie notwendig breite politische Bündnisse sind, um den Protofaschismus zu schlagen und ihn nicht durch eine Wiederwahl noch zu stärken. Das Scheitern von Bolsonaro ist auch deshalb wichtig, weil er nach Trump zu den einflussreichsten Rechtspopulisten weltweit zählte. Mensch kann sagen, dass dieses Wahlergebnis ein Stück Hoffnung für Demokratie, Frieden und eine nachhaltigere Welt bringt. Das dürfte den sozialen Mobilisierungen für Gerechtigkeit, Demokratie und Klimaschutz weltweit zugutekommen.
- Was muss Lula tun, um die politische Spaltung im Land zu überwinden?
Lula hat dies schon mit seiner ersten Rede nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses versucht, als er die Bevölkerung zur ”Einheit in einem und demselben Land“ aufrief. Die brasilianische Gesellschaft ist aber schon seit Jahrhunderten stark gespalten. Unter der Militärdiktatur (1964 bis 1985) wurde das Land oft als „Belíndia“ bezeichnet, als lebten 80% wie in Belgien und nur 20% wie in Indien. Nach der Demokratisierung war eher von einem „Italordânia“ die Rede, einer Insel von Reichen, die so wie in Italien (nicht mehr so wohlhabend wie Belgien) lebten, inmitten von Armen wie in Jordanien (wo das Pro-Kopf-Einkommen dreimal so hoch war wie in Indien). Die Spaltung ist nicht nur politisch, sondern hauptsächlich wirtschaftlich bedingt und auf eine der schlimmsten sozialen Ungleichheiten der Welt zurückzuführen. Diese Situation wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte jedoch politisch zunehmend bewusster von breiten Schichten der Gesellschaft erfahren und kritisiert. Andererseits verbreitete sich ein wachsender Hass insbesondere in der Ober- und Mittelschicht gegenüber den Ärmsten. Daraus entwickelte sich später der Rechtspopulismus. Wie kann man diesen überwinden? Lula spricht sich deutlich für die Benachteiligten des Landes aus, die am meisten auf die Hilfe der Regierung angewiesen sind. Kann das als politische Polarisierung bezeichnet werden, wie es viele Medien im Ausland tun? Die Polarisierung kam meines Erachtens eher von rechts, so dass es bei dieser Wahl offensichtlich gar nicht mehr möglich war, einen Kandidaten der sogenannten Terceira Via (also des dritten Weges) ins Rennen zu schicken, weil Lula unter den 11 Kandidaten am besten die politische Mitte vertreten hat, viele seiner politischen Gegner aus der Vergangenheit zu einem Bündnis überzeugte und wahrscheinlich auch die Regierung entsprechend ausformen wird. Die entscheidende Frage wird aber sein, inwieweit eine neue Regierung Lula es schafft, die Errungenschaften seiner vorherigen beiden Amtszeiten, die er mit 83% Zustimmung beendet hat, in dem völlig veränderten Kontext der wirtschaftlichen, politischen, sozialen, ökologischen, gesundheitlichen und kulturellen Krisen Brasiliens durchzusetzen, ohne eine weitere Welle der Entpolitisierung, Enttäuschung und Empörung breiter Teile der Gesellschaft auszulösen.
- Hat sich die brasilianische Linke – vor allem die PT - politisch und personell erholen können nach dem bösen Abstieg von 2015?
Nach dem Amtserhebungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016, der folgenden Verurteilung Lulas wegen angeblicher Korruption und seine Festsetzung haben viele das Ende der PT prophezeit. Der parlamentarische Hinterbänkler Bolsonaro konnte 2018 den zunehmend propagierten Hass, die Diskreditierung und Ablehnung der PT für sich ausschlachten und trat damals fast programmlos und trotz hoher Ablehnungsquote zur Wahl an, begünstigt durch die Ausschaltung von Lula als aussichtsreicher Kandidat. Auch damals wählten Brasilianer mehrheitlich ein Parlament, dass bis dato eines der rechtesten war und die Linke schien insgesamt am Boden zu liegen. An der Regierung überfluteten Bolsonaro und seine Entourage (darunter seine kriminellen und rechtsradikalen Söhne) das Land tagtäglich mit Themen, die seine Wählerschaft (insbesondere Evangelikale, Großgrundbesitzer:innen und Militäranhänger:innen) ansprachen. Es ging dabei im Grunde um die sogenannte konservative moralische Agenda gegen Menschenrechte, soziale Gleichheit, die Diskriminierung von Minderheiten und die Ablehnung demokratischer Strukturen. Durch Liberalisierung des Waffenbesitzes nach US-Muster betrieb er die Bewaffnung - vor allem seiner Klientel - bis an die Zähne und zementierte die ultraliberale Ideologie von völliger Freiheit für das Kapital. Zahlreiche Gesetze wurden entsprechend geändert oder neu geschaffen. Umwelt- und Klimaschutz, Kleinbauern oder indigene Völker wurden als Hindernisse für das Wirtschaftswachstum angesehen und bekämpft. Solche Ideologie, die wir als Bolsonarismus bezeichnen können, nahm in der Gesellschaft enorm zu und hat auch viele Institutionen (v.a. Polizei, Militär und Justiz) immer weiter nach rechts verschoben. Wichtige Umweltschutzbehörden wurden kastriert oder schlicht aufgelöst. Dagegen zu halten war natürlich für die gesamte Linke ein hartes Stück Arbeit, denn sie wurde mit hasserfüllten und verleumderischen Fake News auf allen Gebieten – nicht zuletzt im Bildungs- und Kulturbereich - hart bekämpft. 2022 hat sich diese ideologische Blase, die sich besonders in den sog. sozialen Medien von der realen Welt immer weiter abtrennte, leider nicht verringert. Im Gegenteil: sie scheint stärker als Bolsonaro selbst zu sein. Aber in der vom Personenkult stark geprägten politischen Kultur Brasiliens konnte Lula stärker als die gesamte Linke bei der Wahl auftreten. Mit über 60 Millionen Stimmen erzielte er in der Stichwahl das beste Ergebnis, das überhaupt ein Präsidentschaftskandidat erreicht hat. Sowohl die PT als auch die PSOL konnten sich etwas erholen, wenn man die jetzigen Wahlergebnisse mit denen von 2018 vergleicht. Der Kongress (Bundesparlament und Senat) ist aber insgesamt noch weiter nach rechts gerückt als vor vier Jahren. Für die Zukunft ist das äußerst problematisch. Die Rechtsextremen hätten wahrscheinlich mit einem anderen Kandidaten siegen können, so widersprüchlich es auch scheint. Mit anderen Worten: der Bolsonarismus ist stärker als seine eigene Leitfigur aus den Wahlen hervorgegangen. Die umfangreichen Straßenblockaden und die Demonstrationen vor Militärkasernen in der Woche nach der Wahl, mit denen der Sieg Lulas in Trump-Manier angefochten und das Militär zum Eingreifen aufgefordert wurde, war bereits eine ernste Warnung. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich der Bolsonarismus auch künftig auf parlamentarische Aktivitäten beschränken wird. Zusammengefasst kann man sagen: vor der Wahl 2018 wurde der in allen Umfragen aussichtsreiche Lula von politisch motivierten Richtern und Staatsanwälten eindeutig widerrechtlich zu langen Haftstrafen wegen ”Korruption” verurteilt und festgenommen. Man wollte ihn – mit seinen eigenen Worten - ”lebendig begraben” um zu verhindern, dass er gewählt werden konnte. 2022 versuchte Bolsonaro mit allen Mitteln seine Wiederwahl, nicht zuletzt, um nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn er nicht mehr Präsident ist. Seine katastrophale Haltung während der Covid19-Pandemie, die zu hunderttausenden vermeidbaren Toten geführt hat, worüber bereits ein detaillierter Bericht eines Untersuchungsausschusses des Senats vorliegt, seine ständigen putschistischen Attacken auf das oberste Bundesgericht und die manipulative Besetzung von hohen Polizeidienststellen, u.a. um politische Morde zu vertuschen und Verfahren gegen seine ebenfalls korrupten Söhne zu verhindern, bieten Stoff genug. Aber bei dem Versuch zur Wiederwahl scheiterte er ausgerechnet gegen einen Lula, dessen Verurteilungen vom obersten Bundesgericht für null und nichtig erklärt worden waren, weil sie politisch motiviert und von parteiischen Richtern verhängt worden waren, der nun ab Januar 2023 zum dritten Male Präsident wird und auch die PT hat sich wieder deutlich erholt.
- Kann man das an den Wahlerfolgen messen? Wie setzen sich wichtige Parlamentsfraktionen im Kongress zusammen?
Das Parlament und insbesondere der Senat - nach den hier erfolgten Teilwahlen - sind, wie gesagt, noch reaktionärer geworden als bisher. Zum Vergleich: Als Lula 2002 zum ersten Mal gewählt wurde und die PT ihren bisher größten Sieg verbuchte, konnte er mit 91 der 513 Bundesabgeordneten und 13 der insgesamt 81 Senatoren rechnen. Diesmal kann er mit dem gesamten Bündnis aus PT, Grünen (PV) und der Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB) mit maximal 80 Abgeordneten und 9 Senator:innen rechnen (obwohl die PT von 56 auf 69 Abgeordnete und von 6 auf 9 Senatoren stieg – PV und PCdoB haben keinen Senator). Lula kann wahrscheinlich auch noch auf die PSB des Vizepräsidenten Alckmin (14 Abgeordnete und 2 Senatoren) und auf die Föderation PSOL/REDE (14 Abgeordnete und 1 Senator) setzen, sodass maximal mit 108 Abgeordneten (21%) und 12 Senator:innen (14 %) das Regierungslager bilden könnten. Bolsonaro hat andererseits eine klare Mehrheit im Parlament: Allein die Liberale Partei (PL), der Bolsonaro jetzt angehört, kam auf 99 Abgeordnete und 13 Senatoren und stellt somit die größte Fraktion der letzten 24 Jahre im brasilianischen Parlament. Nur die damals aus der Diktatur-Partei ARENA hervorgegangene PFL hatte mit 105 Abgeordneten und 5 Senatoren im Jahr 1998 bei der Wiederwahl von Fernando Henrique Cardoso gegen Lula etwas Ähnliches erreicht. Die drittstärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus ist die neu gegründete União Brasil (aus der vormals bolsonaristischen PSL entstanden im Bündnis mit den Democratas, dem Erbe der PFL) mit 59 Bundestagsabgeordneten und 11 Senatoren, gefolgt von der PP (die auch aus der Militärpartei ARENA entstanden ist; diese ist die Partei des derzeitigen Parlamentspräsidenten Arthur Lira, die bisher auch auf Bolsonaros Seite stand) mit 42 Abgeordneten und 7 Senatoren. Bolsonaro kommt mit PL (99), União Brasil (59), PP (47), PSD (42), Republicanos (42), Podemos (12), Avante (7), PSC (6), Patriota (4), Novo (3), und PTB (1) auf zusammen 322 Abgeordnete, also auf 62 %, ebenso im Senat mit 51 der insgesamt 81 Sitze. Für Lula bleiben die 17 Mandate der PDT von Ciro Gomes, die 42 der MDB von Simone Tebet, die 4 von Solidariedade und die 3 von PROS, um somit zusätzlich auf 66 im Abgeordnetenhaus und 13 im Senat zu kommen. So wäre insgesamt mit allen Zugeständnissen eine breite Koalition von maximal 33% im Abgeordnetenhaus und 30% im Senat möglich. Eine eindeutige Minderheitsregierung, denn das Ergebnis bedeutet eine starke Legitimierung der Bolsonaro-Regierung in ganz Brasilien. Selbst im Nordosten, wo Lula in allen Bundesländern gewann, sieht es in den Landesparlamenten nicht gut aus. In ganz Brasilien gibt es kein Bundesland, in dem die PT mehr Abgeordnete hätte als Bolsonaro. In vier Bundesländern (Acre, Amazonas, Sergipe und Tocantins) gibt es sogar nur Abgeordnete der Parteien, die Bolsonaro unterstützen. Die Mehrheit der Abgeordneten von Bolsonaro kommt aus São Paulo (45), Minas Gerais (36) wo Lula eigentlich gewonnen hat, Rio de Janeiro (29) und Bahia (25), das zweitbeste Ergebnis von Lula. Feststeht, dass Lula viel mehr Stimmen als seine Koalitionsparteien zusammen erhalten hat und Bolsonaro viel weniger Stimmen als seine rechten Parteien. Oder anders gesagt: der Bolsonarismus ist viel stärker ausgeprägt als Bolsonaro und Lula ist viel zugkräftiger als alle Linken zusammen. Von den 27 Gouverneuren kann Lula zunächst mit den 4 der PT (Elmano de Freitas in Ceará, Fátima Bezerra in Rio Grande do Norte, Rafael Fonteles in Piauí und Jerônimo Rodrigues in Bahia), und 3 der PSB (Renato Casagrande in Espírito Santo im Carlos Brandão in Maranhão und João Azevedo in Paraíba) rechnen. Vielleicht kommen aufgrund eines breiten Bündnisses bei der Regierungsbildung noch 3 von der MDB (João Dantas in Alagoas, Ibaneis Rocha in Brasília und Helder Barbalho in Pará), 1 von der Solidariedade (Clécio Vieira in Amapá) und im besten Fall, wenn die PSDB auch an der Regierung teilnehmen wird noch 3 (Raquel Lyra in Pernambuco, Eduardo Riedl in Mato Grosso do Sul und Eduardo Leite in Rio Grande do Sul) dazu. Das wären dann insgesamt 14 gegen 13, was anders als in Parlament und Senat eine knappe Mehrheit für Lula bedeuten würde, auch wenn Bolsonaro auf die 3 Governeure der Bundesländer mit der größten Bevölkerung zählen kann (Romeu Zema Neto in Minas Gerais, Cláudio Castro in Rio de Janeiro und Tarcísio de Freitas in São Paulo).
- Wie sieht es mit der geschlechtermäßigen und auf Ethnien bezogenen Zusammensetzung aus?
Es gibt eine deutliche Zunahme von Schwarzen, Frauen, Indigenen und LGBTQ+ bei den gewählten Kandidat:innen. Von den insgesamt 26.073 registrierten Kandidat:innen waren 9.415 (33,2 %) Frauen, 14.015 Schwarze (53,7 %), 175 Indigene (0,7 %) und 112 asiatischer Herkunft (0,4 %). Es sind 135 schwarze Abgeordnete (26 %) gewählt worden, obwohl 56,1 % der brasilianischen Bevölkerung sich als schwarz bezeichnet. Allerdings gehört die Mehrheit der gewählten 77 Schwarzen Parteien an, die Bolsonaro unterstützen. Bei den LGBTQ+ waren diesmal insgesamt 18 erfolgreich (14 für Landtage und 4 im Bundestag), was die bisherige Zahl verdoppelt. Sie sind alle linken Parteien zuzuordnen. Bei den Frauen sind die Zahlen von aktuell 77 auf 91 gestiegen (18 %) obwohl 52,5 % der brasilianischen Bevölkerung Frauen sind. PT und PL zusammen stellen 40 % der gewählten Frauen. Fünf Indigene wurden diesmal ins Parlament gewählt (2 von der PT, 2 von der PSOL und 1 von der PL) und drei asiatischer Herkunft (alle im rechten politischen Lager).
- Auch die Linke links von der PT, wie die PSOL, war erfolgreich ...
Ja, die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) hat mit 12 Abgeordneten den bisher größten Wahlerfolg erzielt. Dabei muss mensch auch sagen, dass von den 12 gewählten Abgeordneten (im Senat ist sie bisher nicht vertreten) 5 aus São Paulo, 5 aus Rio de Janeiro, 1 aus Minas Gerais und 1 aus Rio Grande do Sul sind, also alle aus Hauptstädten des Südens oder Südostens. Die Wahl von Guilherme Boulos als der Kandidat mit der besten Stimmenzahl in São Paulo hat entscheidend dazu beigetragen. In Rio de Janeiro erreichte die PSOL dieselbe Anzahl von Abgeordneten wie die PT. Ihr Bündnispartner REDE hat jetzt zwei Abgeordnete (1 in Pernambuco und 1 in São Paulo).
- Warum sind einige prominente Gewerkschafter:innen bei der Wahl gescheitert (z. B. Vicentinho)?
Vicentinho hat diesmal lediglich 82.912 Stimmen erhalten, immerhin etwas mehr als die 70.645, die ihm 2018 noch knapp für die Wiederwahl reichten. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass generell die früheren Prominenten nicht gewählt wurden, wenn sie nicht eine klare Kontinuität bei ihrer traditionellen Wählerschaft sicherstellen konnten und bei vielen Menschen einfach nicht mehr bekannt sind. Schauen wir uns beispielsweise das Scheitern von José Serra an, des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Gegners von Lula 2002; in São Paulo ist er nicht als Bundestagsabgeordneter gewählt worden. Oder das Scheitern von Heloísa Helena, inzwischen eine Sprecherin von REDE Sustentabilidade, in Rio de Janeiro oder die wenigen Stimmen für die ehemalige Bürgermeisterin von São Paulo, Luiza Erundina, (obwohl die PSOL diesmal als Partei gut zulegte) oder selbst von Marina Silva, der bekanntesten Umweltpolitikerin Brasiliens, die bei der Wahl zur Bundesabgeordneten mit 237.526 Stimmen lediglich ein Drittel des ehemaligen Umweltministers von Bolsonaro, Ricardo Salles, erreichte, obwohl dieser sich nachdrücklich für die Zerstörung des Regenwalds im Amazonas und die Holzmafia eingesetzt hatte. Das betrifft aber eigentlich nicht die Gewerkschafter:innen, denn diese sind nicht durchweg gescheitert. Die Metallarbeiter:innen im Bundesland São Paulo haben sowohl einen Bundesabgeordneten wie einen Landesabgeordneten gewählt: Luiz Marinho, der ehemalige Arbeitsminister von Lula, ehemaliger Präsident des Gewerkschaftsdachverbands CUT und ehemaliger Oberbürgermeister von São Bernardo do Campo, bekam 156.202 Stimmen; Teonílio Monteiro da Costa (Spitzname Barba, auch von der Leitung der Metall-Gewerkschaften der ABC-Region) bekam 108.071 Stimmen für den Landtag. Diese Kandidat:innen-Paare, also ein:e Kandidat:in für den Bundestag und ein:e Kandidat:in für den Landtag, waren eine übliche Strategie im Wahlkampf für bestimmte Kategorien von Lohnabhängigen und Gewerkschaften und hat auch bei dieser Wahl gut funktioniert.
- Wohin steuern früher so dominierende, gemäßigte bürgerliche Parteien wie PSDB und MDB?
Die MDB war seit der Demokratisierung an allen bisherigen Bundesregierungen beteiligt und sie wird es wahrscheinlich auch diesmal wieder versuchen, besonders, nachdem ihre Kandidatin Simone Tebet sich entschied, in der Stichwahl auf Lulas Seite im Wahlkampf aktiv mitzuwirken. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die MDB ausgerechnet die Partei von Michel Temer ist, also des damaligen Vize-Präsidenten von Dilma Rousseff, der die größte Verantwortung für den Putsch zusammen mit dem MDB-Kongresspräsidenten Eduardo Cunha trägt. Es wurden 2022 von der MDB 42 Bundesabgeordnete (immerhin 8 mehr als 2018), 10 Senatoren und 3 Gouverneure gewählt. Obwohl die MDB sich in der Stichwahl nicht in Gänze für Lula entschied, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit einer der wichtigsten Koalitionspartner für die nächste Regierung sein. Die PSDB war historisch gesehen die wichtigste Gegenpartei der PT. Gegen sie hat Lula 2 Mal (1994 und 1998) verloren und zwei Mal gesiegt (2002 und 2006). Auch Dilma Rousseff hat gegen die PSDB zweimal gewonnen (2010 und 2014). Und als der damalige Verlierer der Wahl 2014, Aécio Neves, damit drohte, das knappe Wahlergebnis nicht anzuerkennen, begann eigentlich schon der Putsch von 2016, an dem die PSDB zusammen mit der MDB führend mitwirkte und diese auch gemeinsam die Regierung Temer bildeten. Aber nach der Niederlage von Geraldo Alckmin (der 2006 die Wahl gegen Lula verlor und 2018 auf dem vierten Platz mit nur 5% der Stimmen zurückblieb), war die PSDB auf Bundesebene gescheitert, was größtenteils mit dem durch den Putsch gegen Rousseff entstandenen Bolsonarismus begünstigt wurde. Bei dieser Wahl erreichte die PSDB lediglich 18 Bundestagsabgeordnete (11 weniger als 2018), 4 Senatoren und 3 Gouverneure. Im Bundesland São Paulo (ihre historische Hochburg) erreichte die PSDB noch nicht mal die Stichwahl zum Gouverneur und konnte in Rio Grande Sul nur mit einer klaren Unterstützung der PT die Wiederwahl ihres Gouverneurs Eduardo Leite erreichen. Diesmal hatten sowohl der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso, als auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat José Serra Lula unterstützt. Ebenfalls Geraldo Alckmin, der Präsidentschaftskandidat von 2006, der zur PSB übergewechselt war und sich im Bündnis mit Lula als Kandidat zum Vize-Präsidenten auf dessen Seite stellte. Selbst im Bundesland São Paulo hatte die Leitung der PSDB sich erstmals dafür entschieden, Lula in der Stichwahl zu unterstützen, obwohl der aktuelle Gouverneur, Rodrigo Garcia, ihr Kandidat zur Wiederwahl, nicht den Kandidaten der PT, Fernando Haddad, sondern den früheren Bolsonaro-Minister Tarcísio de Freitas unterstützte. Obwohl Lula wahrscheinlich nicht mit der gesamten Unterstützung von der MDB und der PSDB rechnen kann, spricht jetzt doch alles dafür, dass beide Parteien sich mehrheitlich in Richtung eines breiten Bündnisses bei der Regierungsbildung bewegen werden. Es blieben ihnen allerdings auch wenige Alternativen, denn obwohl beide Parteien sich noch vor kurzer Zeit gegen die PT ausrichteten, ist die neuerliche Entwicklung nach extrem rechts auch für sie eher negativ zu bewerten.
- Welche Handlungsmöglichkeiten bleiben einer Regierung Lula für fortschrittliche Politik?
Seit dem Putsch von 2016 gegen die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff rutschte Brasilien immer tiefer in die Krise. Zur Wirtschaftskrise kam die rückläufige Investitionsfähigkeit des Staates, worauf die beiden nächstfolgenden Präsidenten (Michel Temer, der größtenteils für den Putsch verantwortliche Vize-Präsident der gestürzten Dilma Rousseff und der 2018 gewählte Jair Bolsonaro) stark auf Privatisierung, den Abbau von Sozialprogrammen und die Erweiterung von Agrarexporten setzten. Die Ergebnisse dieser Regierungspolitik sind zusammengefasst: Deindustrialisierung, steigende Inflation, zunehmende Arbeitslosigkeit, weitere Landkonzentration, Armut und nicht zuletzt die Rückkehr des Landes in die Hungertabelle der UNO. Die größten Katastrophen sind die Umwelt- und Indigenenpolitik, denn mit Unterstützung der weiter zunehmenden Macht von Großgrundbesitzern im Parlament sahen die beiden Regierungen in den reichlichen Naturressourcen des Landes eine Chance zur Anziehung von Investitionen und der Ausweitung von zerstörerischen Projekten. Das erklärt auch die überwältige Zustimmung der Großgrundbesitzer für Bolsonaro und macht die Umsetzung einer Agrarreform besonders schwierig. Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen sind die beide Merkmale einer Periode des gezielten Abbaus von Demokratie und Rechtsstaat sowie der politischen Unfähigkeit der Regierung, mit der Wirtschaftskrise, der politischen und Gesundheitskrise im Kontext der Pandemie von COVID-19 umzugehen. Vor diesem Hintergrund hat Lula jetzt mit ganz anderen Herausforderungen zu tun als in seinen vorherigen Mandatsperioden. Und das noch angesichts der politischen Spaltung in der Gesellschaft und zunehmender Macht der überwiegenden Opposition. Das kann sich aber ändern, denn viele Parlamentarier tendieren in Brasilien eher dazu, sich den jeweiligen Präsidialregierungen anzupassen. Lula könnte als erstes versuchen, die durch Dekrete herbeigeführten Entscheidungen der letzten Jahre rückgängig zu machen. Auch die Diskussion über den Haushalt 2023 sollte so schnell wie möglich beginnen, ansonsten werden wichtige Versprechen im Wahlkampf (wie die Sozialleistungen für die Ärmsten, die Erhöhung des Mindestlohns und die Lohnsteuerbefreiung für Kleinverdiener) nicht umgesetzt werden können. Solche Verhandlungen, die sehr dringend sind, aber auch auf eine Zustimmung in der Mehrheit der Gesellschaft stoßen dürften, können der Regierung ihre aktuellen Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Es geht einer neuen Regierung zunächst auch um die Erlangung von Handlungsfähigkeit, um der durch Bolsonaro verursachten Diskreditierung etwas entgegenzusetzen. Danach wäre es wichtig, mit dem neuen politischen Bündnis aus der Regierungsbildung zu versuchen, das Parlament zu wichtigen Themen wie z. B. Arbeitsreform und Rentenreform anzusprechen, die für die Mehrheit der Bevölkerung wichtig sind und zu einer sozialen Mobilisierung beitragen können. Und gleichzeitig gilt es, zu den vorherigen Sozialprogrammen wie die Hunger- und Armutsbekämpfung zurückzukehren, die nicht länger warten können. Um dann schrittweise auf die schwierigsten Themen wie die Agrarreform, Steuerreform und die Entprivatisierung und Stärkung staatlicher Unternehmen zu kommen. Es wird natürlich viel mehr von dieser Regierung erwartet, wie z. B. keine Wiederholung der umwelt- und indigenenpolitischen Fehler vorheriger PT-Regierungen; mehr Investitionen in Bildung, Gesundheit und Wissenschaft; die Förderung der Agrarökologie und der Solidarwirtschaft, der Entwicklungskredite sowie eine multilaterale Außenpolitik. Aber das hängt davon ab, inwieweit es gelingt, auf eine größere Beteiligung der Gesellschaft bei den Entscheidungen und bei der Umsetzung der vorgesehenen Programme setzen zu können. Mehr politische Partizipation und mehr Demokratie ist gerade das, was den Unterschied zur gegenwärtigen Situation ausmachen kann, um aus der autoritären Ära herauszukommen. Und damit hat die PT traditionell gute Erfahrungen gemacht, sei es durch den weltweit bekannten Beteiligungshaushalt oder auch durch die vielen Foren, Räte und Entscheidungskommissionen, die bereits im Wahlkampf angesprochen wurden und auf große Zustimmung in der Gesellschaft stoßen. Die PT hatte niemals eine Mehrheit in Parlamenten und es ist wieder an der Zeit, aus der eigenen Parteigeschichte zu lernen, was sie so erfolgreich machte und nicht die Fehler zu wiederholen, die sie eigentlich schwächte, nämlich die Reduzierung auf parlamentarische Bündnisse ohne eine entsprechende Mobilisierung der Gesellschaft.
- Werden PT, Linke und Sozialbewegungen diesmal mobilisieren, um die Kräfteverhältnisse weiter zu ändern, anstatt auf die Regierung zu starren und passiv zu bleiben?
In Brasilien hat man, wie gesagt, ein Parlament gewählt, das mehrheitlich im Gegensatz zur kommenden Präsidialregierung steht. Und gerade deshalb ist die soziale Mobilisierung entscheidend. Das haben anscheinend jetzt sowohl die PT, die Linke allgemein und die Sozialbewegungen verstanden, nachdem sie mit einer zunehmend rechten Mobilisierung auf den Straßen konfrontiert waren. Es geht jetzt also auch darum, in der Zivilgesellschaft eine Hegemonie zurückzuholen, denn obwohl mit der Wahl Lulas ein großer Wahlerfolg erreicht wurde, so kann der Bolsonarismus trotz der Wahlniederlage einen politischen Sieg feiern. Es geht dem Bolsonarismus ja nicht nur darum, Wahlen zu gewinnen, sondern die Gesellschaft zu verändern. Und das müssen selbst die Linken wieder lernen, nachdem sie sich jahrzehntelang zu sehr auf Wahlen und Regierungen verlassen haben. Andersherum werden jetzt die politischen Bedingungen unter einer demokratischen Regierung besser, um durch soziale Mobilisierung zu progressiven Veränderungen beizutragen. Denn sowohl die Regierung als auch die sozialen Bewegungen müssen daraufsetzen, durch politische Errungenschaften fortschrittliches politisches Bewusstsein zu fördern. Auch das wird nur durch eine größere Beteiligung der Bevölkerung bei den Entscheidungen der Regierung begünstigt. Man sollte eigentlich auch aus der früheren Geschichte des Landes gelernt haben, dass das Versagen zu einer weiteren Entpolitisierung führen kann, die eine Stärkung der protofaschistischen Bewegungen auch in der Zivilgesellschaft fördert.
- Welche Rolle spielen die Millionen von Evangelikalen, die ja gewissermaßen offensiv als de facto-Partei für den Bolsonarismus aufgetreten sind? Warum sind die so erfolgreich und politisch einseitig festgelegt?
Seit Jahrzehnten haben die neuen Pfingstkirchen Zuwachs in Brasilien. Sie besitzen sehr viel Geld, haben eigene Fernseh- und Radiosender und schaffen es sogar, als eine der stärksten Strömungen im Parlament aufzutreten. Von den letzten Regierungen (besonders von Bolsonaro, mit dem sie im Rahmen ihrer sogenannten konservativen Sittenkultur angaben, eine gemeinsame Weltanschauung zu teilen) erhielten sie mehrmals Schuldenerlasse, viele Steuervergünstigungen und sogar Kredite. Sie sind besonders in den ärmsten Stadteilen erfolgreich und propagieren unter demselben Publikum genau das Gegenteil von dem, was in den 1970er und 1980er Jahren von der Befreiungstheologie vertreten wurde. Also statt auf Aufklärung, politische Bildung und Mobilisierung zur Befreiung der Ärmsten von Armut und Not zu setzen, basiert ihr theologisches Konzept auf Prosperität. Erfolg hänge davon ab, wie stark an Gott geglaubt wird. Es ist aber auch ein Problem, das sie eigentlich dort stark sind, wo der Staat versagt und die Menschen sich deshalb dermaßen von den Anführern dieser Kirchen manipulieren lassen. Sie agieren ähnlich wie das in der katholischen Kirche zu Zeiten der Militärdiktatur in mehreren Ländern Lateinamerikas aktive Opus Dei. Es handelt sich um eine Bewegung, die nicht nur in Brasilien, sondern auch in den USA sehr stark ist, woher sie letztlich ihren Ursprung hat. Es ist ein sehr verbreitetes und zunehmendes Phänomen in Brasilien und diese eher sektierischen Bewegungen wirken de facto wie eine politische Partei.
- Der Amazonas ist eine „grüne Lunge“ unseres Planeten und klimatisch von erstrangiger Bedeutung. Welche Politik muss Lula einleiten, um die weitere Vernichtung des Regenwaldes wirksam zu verhindern?
Das erste ist, die Deregulierungen, die in den letzten fünf, sechs Jahren stattgefunden haben, rückgängig zu machen. Das heißt, es ist mehr staatliche Kontrolle im Amazonasgebiet notwendig, wo sowohl die Holzmafia aber auch wilder Bergbau Naturschutzgebiete und indigene Reservate zerstören. Das muss aufhören. Die Regierung von Bolsonaro hatte hier einen Freisfahrtschein für die Umweltzerstörung gegeben. Sie hat nicht nur aufgegeben, aktiv zu kontrollieren, sondern sie wirkte sogar aktiv bei der Zerstörung mit! So steht sie stark unter Verdacht, durch Teile ihrer für den Amazonas zuständigen Behörden die organisierte Kriminalität in der Amazonasregion unterstützt zu haben. Für die neue Regierung heißt es jetzt, Schritt für Schritt zu versuchen, die Deregulierung der Kontrollen rueckgängig zu machen und die sinnvollen Maßnahmen und politischen Aktionen, die es vorher gegeben hat, wiederherzustellen. Das Land braucht natürlich auch eine andere Wirtschaftspolitik, die nicht mehr auf Agrarexporten basiert, denn die Ausweitung der Monokulturen wie der Sojaproduktion aber auch der extensiven Rinderzucht setzt die anhaltende Regenwaldvernichtung in den Amazonas-Gebieten voraus. Es ist eine nachhaltige und postwachstumsorientierte Wirtschaftspolitik notwendig, die nicht mehr darauf hinausläuft, die noch reichlich vorhandenen Naturressourcen zu zerstören!
- Die Zahl der hungernden Menschen ist in Brasilien zuletzt auf über 30 Millionen Menschen gewachsen. Welche Sozialprogramme müssen jetzt kommen?
Wir hoffen sehr auf einen Neustart der Agrarreform, die seit 1964 gesetzlich vorgesehen ist, die Rückkehr zu wichtigen sozialen Programme zur Armuts- und Hungerbekämpfung. Insbesondere sollte das Ministerium für Agrarentwicklung, das abgeschafft und in das Landwirtschaftsministerium integriert wurde, wieder seine Arbeit aufnehmen und die kleinbäuerliche Landwirtschaft für die Nahrungsmittelproduktion des Landes als Priorität fördern. Es kann, wie gesagt, auch mit der Umweltzerstörung in Brasilien nicht mehr so weitergehen. Ernährungssicherung muss mit Naturschutz verbunden werden und dabei sind die Kleinbauern und Indigenen entscheidend. Und gerade sie wurden von der derzeitigen Agrarpolitik Brasiliens am meisten geschädigt. Es gab unter den vorherigen Amtsperioden der PT so wichtige Erfahrungen wie z.B. das Fome Zero (Null-Hunger-Projekt), das Schulspeisungsprogramm, den Ankauf von Lebensmitten direkt von den Kleinbauernorganisationen vor Ort, eine Vermarktungsgarantie und Mindestpreise für die bäuerliche Produktion, staatliche Investitionen in Infrastruktur auf dem Land, mehr und sozial angepasste Agrarberatung, die Unterstützung bei der Verarbeitung und Vermarktung regional und genossenschaftlich erzeugter Produkte, die Umschuldungsverhandlungen für Kleinbauern, eine Versicherung gegenüber Ernteverlusten und die Kreditbereitstellung für spezielle Gruppen wie Landfrauen, Landjugendliche und die ökologische Landwirtschaft. Diese Erfahrungen zeigen, dass es möglich ist, die Situation zu ändern. Brasilien war ab 2014 nicht mehr in der Welthungertabelle der UNO vertreten, aber nur bis 2018. Die meisten der von Hunger betroffenen Menschen leben auf dem Land, wo sie nicht mehr in der Lage sind, Nahrungsmittel zu produzieren und sich selbst zu ernähren. Wir wünschen uns sehr, dass sich das ab dem nächsten Jahr wieder ändert: Dass die neue Regierung aus der Geschichte lernt, damit wir unsere wichtigen Naturressourcen nicht einfach weiter verschwenden und zerstören und das riesige Potential des Landes für eine umweltfreundliche und gesunde Lebensmittelproduktion nutzen können.
- Kann eine Regierung Lula zur Festigung neuer Kräfteverhältnisse in ganz Lateinamerika beitragen?
Auch wenn es derzeit in Lateinamerika Regierungen gibt, die anders oder besser als vorher sind, fehlt, wie eben gesagt, die notwendige permanente Mobilisierung zur Veränderung. Es kann schon frustrieren, wenn mensch sieht, wie konservativ diese Gesellschaften oft noch sind. Wahrscheinlich wird es weiter vorwärts gehen, aber auf geringerem Niveau wie in der jüngeren Vergangenheit. Es wurden neue Regierungen gewählt wie in Argentinien, Bolivien, Chile und Kolumbien, aber es fehlt die permanente soziale Mobilisierung. Gerade die Regierungen, die jetzt für eine bessere Gesellschaft gewählt wurden, müssen auf die Mobilisierung setzen und diese fördern. Die Wahl von Lula hat sicher einen großen Einfluss auf Nachbarländer wie Argentinien und Uruguay, aber auch auf die anderen Länder dieser Welt, die ähnliche Entwicklungen und das Anwachsen von rechtsextremen Parteien und Bewegungen durchmachen.
- Was erwartest Du von einer Regierung Lula gegenüber der US-Regierung und der EU? Was erwartest Du von der EU?
Was Brasilien jetzt am meisten braucht, ist Demokratie. Und Wahlen sind nur ein Teil davon, auch wenn sie deutlich zeigen, dass immer noch viele Menschen hinter dem heutigen Präsidenten stehen, trotz seiner absurden Missachtung von Menschenrechten und von Mindeststandards an Demokratie. Von der EU und von der US-Regierung ist zu erwarten, dass sie keine Putschversuche dulden und entschieden zur Anerkennung des gewählten Präsidenten sowie zur Stärkung von Demokratie und praktizierten Menschenrechten beitragen. Dazu gehört aber auch die deutliche Ablehnung eines Freihandelsabkommens zwischen EU und Mercosur, in der Form, wie es bisher vorgesehen ist. Denn es geht dabei um die Wiederholung und Vertiefung der asymmetrischen, ungerechten und umwelt- und klimaschädlichen Handelsbeziehungen zu Lateinamerika, die auf Deindustrialisierung, wirtschaftlicher Abhängigkeit und einer jahrhundertelangen Ausplünderung von Naturressourcen basiert. Hätte man nicht auch mehr und härtere Sanktionen gegen die Regierung Bolsonaro beschließen können, wo sie doch so offensichtlich für eine gravierende Umweltzerstörung verantwortlich war und sich ausdrücklich gegen Demokratie und Menschenrechte stellte? Hätte man nicht auch entschiedener eingreifen können, anstatt weiterhin billige Rohstoffe zu importiert? Ist das nicht wieder typisch fuer die verbreitete Doppelmoral der sogenannten Industrieländer? Wir können davon ausgehen, dass nicht nur die Mehrheit der brasilianischen, sondern auch die meisten US-amerikanischen, europäischen und deutschen Großunternehmen und Banken aus kurzsichtigen Profitinteressen die Regierung Bolsonaro unterstützt haben. Immerhin wurde schon auf EU-Ebene diskutiert, dass Soja aus Brasilien teurer oder wenigstens abgelehnt werden soll, wenn sie aus Regionen kommt, wo Entwaldung, Menschenrechtsverletzungen, Sklavenarbeit und Kinderarbeit stattfinden, ganz abgesehen vom riesigen Gentechnik- und Pestizideinsatz, dessen Rückstände auch wieder nach Europa zurückkommen und Schaden verursachen. Da bei der Wahl 2022 die Großgrundbesitzer ihre Macht im brasilianischen Parlament noch weiter ausweiten konnten, ist mit noch größerem Druck auf die neu gewählte Regierung zu rechnen, als es bei den vorherigen Amtsperioden der PT schon der Fall war. Und auch wenn besonders in Europa aufgrund von Bolsonaros Entwaldungspolitik am Amazonas eine kritischere Haltung bei etlichen Regierungen festzustellen war, so sollte die Macht der weltweiten Agrarindustrie nicht unterschätzt werden. Wir brauchen jetzt umso mehr die Stärkung einer regionalen und nachhaltigen Wirtschaftspolitik weltweit. Dazu wäre u.a. eine sozial gerechte und ökologische EU-Agrarreform notwendig, die darauf basiert, kleine Bauernhöfe zu fördern, die Insektenwelt zu schützen und das Klima zu retten, ein wichtiges Signal für die neue brasilianische Regierung. In Deutschland könnten wir z. B. mithilfe des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft den agrarpolitischen Dialog zwischen beiden Ländern mit mehr Beteiligung der Zivilgesellschaft gemeinsam durchführen. Die nächste Regierung Lula sollte keineswegs von den USA und der EU gedrängt werden, sich mit kriegsbedingten und sonstigen Argumenten für umweltschädliche und menschenverachtende Interessen von Agrarkonzernen einzusetzen!