Polizeimassaker und Faschopolitik am Zuckerhut
80 Schüsse. 80 Schüsse aus Maschinenpistolen haben den Kleinwagen durchsiebt. Zwölf Militärangehörige standen Patrouille und hatten über Funk gehört, dass gerade ein PKW in der Gegend in Guadalupe, in der Nordzone von Rio de Janeiro, von fünf Männern gestohlen worden war und dass sie Ausschau nach einem weißen VW-Polo halten sollten. Die Militärs sahen ein den Beschreibungen ähnelndes Auto: Es war ein Kleinwagen und der war weiß. Der Fahrer war schwarz. Und es saßen fünf Personen im Wagen. Das reichte als Beleg. Dass es sich bei den Insassen um eine Familie handelte, zählte nicht. Was zählte: ein weißer Wagen, fünf Personen, schwarzer Fahrer. Das reichte als Tätermotiv. Und reichte den Militärs, um 80 Schüsse abzufeuern.
Mit 80 Schüssen haben die Militär das Auto zusammengeschossen. Im Wagen: Der Familienvater und Sambamusiker Evaldo Rosa dos Santos, seine Ehefrau und ihr kleiner Sohn, sieben Jahre alt, sowie sein Schwager und eine Bekannte. Die ersten Schüssen trafen Evaldo, woraufhin er den Wagen so wendete, dass nur seine Frontseite in direkter Schusslinie lag. Seiner Frau Luciana Nogueira gelang es, mit dem Jungen auf den Armen, aus dem Wagen zu springen und unter lautem Rufen „Hier ist eine Familie im Auto!“ auf den dort abgehenden Wahnsinn aufmerksam zu machen. In Unkenntnis der realen Situation wandte sie sich zunächst hilfesuchend an die Militärs, „schützt uns!“
Ehe sie ihren Fehler einsah, war eine weitere Salve von zehn Schüssen auf den Wagen von eben diesen Militärs, bei denen sie eigentlich Hilfe suchte, abgegeben worden. Und die Militärs schossen weiter. Weitere zehn Schüsse. Weitere zwanzig Schüsse. Weitere vierzig Schüsse. 80 Schüsse insgesamt wurden hinterher gezählt. Die in den sozialen Medien kursierenden Videos zeigen die minutenlange Länge des brutalen Verbrechens, dass die Militärs begangen haben.
Eine Tat, die selbst die täglich in Brasilien stattfindende Polizeigewalt in ihren Dimensionen in den Schatten stellt. 80 Schüsse auf eine Kleinfamilie im Wagen, die auf dem Weg zu einer Babyparty war, festlich gekleidet. Ein Verbrechen, weil die Polizei in Rio de Janeiro mal wieder Unschuldige ermordet hat und das Opfer – wie in neun von zehn Fällen bei Polizeitötungen in Rio de Janeiro – ein schwarzer Mann war.
Die Militärs, die die Schüsse abgaben, erklärten zunächst, es handele sich um „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Dann, als die Videos im Internet kursierten und millionenfach angeklickt und kommentiert wurden, ließen die Ermittlungsbehörden mitteilen, es habe eine Verwechslung gegeben. Die Witwe berichtete einen Tag später, als sie die Militärs nach der Exekution ihres Mann anschrie, hätten diese nur gelacht und sich über sie lustig gemacht. Erst zwei Tage später wurden zehn der zwölf beteiligten Militärs vorübergehend vom Dienst suspendiert.
Bolsonaro-Land im brasilianischen Spätsommer 2019. Brasiliens neuer Präsident, der faschistoide Ex-Hauptmann Jair Bolsonaro, hat den Waffenbesitz im Lande gelockert, Justizminister Sérgio Moro hat dem Kongress eine Gesetzesnovelle zur Abstimmung vorgelegt, nach der Polizisten, sollten sie im Dienst töten, sich künftig darauf berufen können, „der Übergriff sei erfolgt aufgrund entschuldbarer Angst, Überraschung oder gewaltiger Emotion“. Sollten die zuständigen Gerichte eines dieser drei Argumente der Militärs oder Polizisten als überzeugend ansehen, sollen die Täter straffrei ausgehen. Sollte diese gesetzesvorlage die zwei Kammern des Kongresses passieren und das Plazet des Präsidenten haben. Letzteres steht außer Frage.
Das gefällt auch dem erklärt faschistischen neuen Gouverneur von Rio de Janeiro, dem Ex-Richter Wilson Witzel. Dieser will für Rio de Janeiro eine neues Gefängnis à la Gunatanamo oder zumnindest Überseetanker so umbauen, dass sie, vor der Küste der Millionenmetropole im Meer dümpelnd, als Gefängnisschiffe dienen könnten. Wilson Witzel lässt sich auch gerne mit Polizisten ablichten, die zuvor im Dienst getötet haben, so geschehen im Fall der Polizisten, die im Februar dieses Jahres die Polizeimassaker im Morro do Fallet und Morro dos Prazeres in Rio durchgeführt hatten, bei dem 15 Favelabewohner – alle jung, schwarz, männlich – von der Polizei regelrecht hingerichtet wurden. Wilson Witzel lässt sich mit diesen mordenden Militärpolizisten stolz grinsend von den Fotograf*innen ablichten und will Polizisten, die im Dienst töten, einen Freifahrtschein erteilen. Wilson Witzel will Sniper auf Favelabewohner schießen lassen. Laut Presseberichten ist das gezielte Erschießen von Favela-Bewohner*innen bereits Praxis. In der Favela Manguinhos wurde im Januar dieses Jahres bekannt, dass Polizisten im Dienst auf einen Wachturm auf einem angrenzenden Polizeigelände hochsteigen und durch die dort eingelassenen Scharten gezielt Favela-bewohner*innen erschießen. Die Begründung: es seien Kriminelle. Der Beleg: Die Favela-Bewohner*innen trügen Waffen. Dass es sich in etlichen Fällen in der Vergangenheit um Handwerker mit einer Bohrmascine in der hand oder um Bewohner*innen auf dem Weg zur rbeit an einem regnerischen Tag, an dem sie einen regenschirm trugen, das zählt für Wilson Witzel nicht.
Wilson Witzel erklärte wiederholt öffentlich, mutmaßliche Kriminelle „abschlachten“ zu wollen. Das bewußte gewählte Narrativ „Abschlachten“ („abater“", eigentlich „Abschießen", kann aber auch als „Abschlachten" oder „Keulen“ übersetzt werden) ist deutlichste Sprache einer Art Lingua Tertii Imperii (LTI), die ungeschminkt alle, die als „anders“ wahrgenommen werden, erst als „Feind“ definiert, dann als „Feind, den es zu vernichten“ gelte und diesen letztlich gänzlich zu entmenschlichen trachtet - so als wären diese Menschen Schlachtvieh. Es war dies die wenig sublime Botschaft der LTI, wie sie von den Nazis propagiert und angewandt wurde. Und dieser Diskurs greift in Brasiliens extrem Rechter seit ein paar Jahren massiv, wie ein Gehirnwäschevirus, um sich.
Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl des Hauptmanns Jair Bolsonaro war in den Medien die Rede von einem sichtbaren Anstieg der gewalttätigen Übergriffe bis hin zu Mord und Totschlag gegen all jene, die dem Weltbild der Anhänger*innen des nun zum Präsidenten gewählten Hauptmanns nicht entsprachen. Laut Presseberichten wurden viele dieser Fälle begleitet von exaltierten Ausrufen der Täter*innen, nun sei ihr Präsident an der Macht und daher seien die Opfer „nun dran“. Nach Bolsonaros Amtsantritt kann man nun klar konstatieren: Die gewalttätigen Übergriffe auf alle Andersdenken und -lebenden steigen. Der Transvestit*in Quelly da Silva, 35 Jahre alt, wurde in Campinas im Bundessstaat São Paulo die Brust aufgeschlitzt und das Herz herausgerissen. Anstelle des Herzes wurde das Bild der religiösen Ikone positioniert. 2018 wurden in Brasilien im ganzen Jahr 420 Morde an LGTBQI* verübt. Die Befürchtung ist, dass es 2019 deutlich mehr werden könnten.
Die neue faschistische Rechte in Regierungsverantwortung in Brasilien spielt auf dieser Klaviatur ihr übles Spiel. Und Wilson Witzel ist einer der prominentesten Vertreter dieser Riege an Politikern, deren LTI-Sprache faschistische Politik erst fordert und dann selbst direkt mitbefördert.
Wilson Witzel ist zudem jener Politiker, der wenige Tage vor den Gouverneurswahlen 2018 in Petropolis bei Rio de Janeiro auf einer Wahlkampfkundgebung neben zwei Kandidaten seiner Partei auf der Bühne stand, damals lag er noch bei den Wahlprognosen noch bei nur vier Prozent. Als einer beiden Parteikollegen von Witzel das Gedächtnis-Straßenschild von Marielle Franco, das an die Ermordung der linken, schwarzen, lesbischen aus der Favela Maré stammenden Stadtverordneten Franco am 14. März 2018 erinnerte und gemahnen sollte, demonstrativ zerriss, stand Wilson Witzel mit zum Sieg erhobener Faust daneben und applaudierte feixend. Unter lautem Gejohle riefen die Polit-Faschos, alle Linken sollten geköpft werden. Nach dem millionenfach geteilten Video sprang Wilson Witzel in der Wähler*innengunst an die erste Stelle und gewann auch prompt den entscheidenden zweiten Wahlgang.
Angesichts dieses im Lande rasch ansteigenden Klimas der Enschüchterung, der Übergriffe verwundert es nicht, dass die ersten Prominenten das Land verlassen. Nachdem der offen schwule Kongressabgeordente Jean Wyllys von der linken Partei PSOL erklärte, sein Parlamentsmandat in Brasília wegen der anhaltenden Morddrohungen gegen ihn nicht anzutreten, da der Staat, so Wyllys im gespräch mit ak, „weder Willens noch in der Lage“ sei, sein Leben zu schützen und er deshalb stattdessen im Ausland im Exil bleiben werde, twitterte Brasiliens Fascho-Präsident Bolsonaro: „Ein großartiger Tag!“, in unausgesprochener, aber für alle verständlichen Anspielung auf Wyllys‘ Exilentscheidung. Mehrere Minister und Präsidentensöhne twitterten weitere fröhlich-zynische Kommentare hinterher.
Und die Justiz, der Rechtsstaat? Marília Castro Neves ist Richterin am Landgericht von Rio de Janeiro. Auf facebook erklärte sie, „wer dem prophylaktischen Erschießen nicht entrinnen würde, denke ich, das wäre Jean Wyllys.“ Davor hatte sie bereits öffentliche Aufmerksamkeit erregt, als sie unter ein Foto des linken Guilherme Boulos von der Obdachlosenbewegung MTST schrieb, „nach dem Dekret von Bolsonaro“ werde dieser „mit Kugeln empfangen werden“. Es gingen mehrere Wochen ins Land, bevor der öffentliche Protest bewirkte, dass die Justiz eine Untersuchung der Aussagen von Marília Castro Neves einleitete. Eine auch nur vorläufige Suspendierung von ihrem Amt ist dabei nicht vorgesehen.
Debora Diniz ist Universitätsprofessorin für Anthropologie in Brasília. Diniz steht seit Jahren in der hasserfüllten Kritik der sozialen Medien,da sie sich für das Recht auf Abtreibung einsetzt. Deswegen hat sie sehr viele Morddrohungen erhalten. Kurz nach der Wahl Bolsonaros erklärte sie, angesichts der Unfähigkeit (oder des Unwillens) des brasilianischen Staates, sie zu schützen, werde sie das Land verlassen.
Während soziale Bewegungen wie die Landlosenbewegung MST, die Bewegung wohnungsloser Arbeiter*innen MTST, der Indigenenmissionsrat CIMI und die katholische Landpastorale CPT von Ministern öffentlich als „kriminell“ und als „Unterstützer von Kriminellen“ diffamiert werden und die verschiedenen Minister sich in Forderung nach Inhaftierung „aller linken Banditen“ überbieten, sehen deutsche Firmen in Brasilien viel Potential für ihre Geschäfte am Zuckerhut. Das deutsche Bundeswirtschaftsministerium seinerseits setzt in Brasilien auf „erleichterte Investitions- und Handelsbedingungen für ausländische Unternehmen“ und rät daher in einem Schreiben, man solle „jetzt auf Brasilien setzen“. Profit geht den deutschen Konzernvertreter*innen doch schon wie immer über Menschenrechte. Bolsonaro-Land im brasilianischen Spätsommer 2019.