Indigene - fremd im eigenen Land
Am 15. April 2005 hat Präsident Lula das Dekret zur Anerkennung des Raposa / Serra do Sol Reservats unterzeichnet und damit einen 30 Jahre währenden Landrechtsstreit entschieden. Was ist der Hintergrund der beiden Ereignisse - und welches sind ihre möglichen Auswirkungen auf die Indigenenpolitik Brasiliens?
Gerade ist die "UN-Dekade der indigenen Völker" zu Ende gegangen, ohne dass nennenswerte Ergebnisse auf internationaler Ebene erreicht wurden. Auch in Brasilien hat sich unter der indigenen Bevölkerung der Verdacht erhärtet, dass die Regierung Lula kein Konzept für eine Indigenenpolitik hat und sich ohne Druck von unten die Situation weiter verschlechtern wird. Keine Regierung seit Ende der Militärherrschaft hat weniger Indigenengebiete anerkannt, unter Lula haben Militär ("Sicherung der Grenzgebiete") und Neoliberale ihren Einfluss auf die brasilianische Indigenenpolitik verstärken können und die Indigenenbehörde FUNAI ihr Personal zur Demarkierung von Indigenengebieten weiter reduziert.
Die Öffentlichkeit war geschockt, als im März trotz Null-Hunger-Programm sechs indigene Kinder in einem überfüllten Reservat in Mato Grosso do Sul verhungerten. Die Organisation der amerikanischen Staaten OAS und Amnesty International riefen die brasilianische Regierung auf, sich um die Wahrung der Rechte Indigener zu kümmern und deren Landrechte anzuerkennen. Am 29. März veröffentlichte Amnesty zu dem Thema die ausführliche Studie "Fremde im eigenen Land - Indigene Völker in Brasilien". Insbesondere die ausbleibende Anerkennung des Raposa / Serra do Sol Reservates in Roraima, für welche die Indigenen seit 30 Jahren kämpften, wurde von vielen als Symbol für die fortdauernde Benachteiligung der Indigenen auch unter der jetzigen Regierung gesehen. Zwar war die Anerkennung des Reservates schon für Januar 2004 fest versprochen worden, der Druck der Reisbauern und anderer nichtindigener Gruppen einschließlich des Gouverneurs von Roraima auf die Regierung Lula führten aber immer wieder zu Aufschüben.
Das "Forum zur Verteidigung indigener Rechte" (FDDI), ein Zusammenschluss von sieben indigenen bzw. pro-indigenen Verbänden einschließlich COIAB, CIMI und des "Sozialökologischen Instituts" ISA, fand es an der Zeit, die Proteste gegen Lulas Indigenenpolitik zu intensivieren und rief den April zum "Indigenen Monat" aus. Neben der Veröffentlichung einer gemeinsamen Deklaration sollten verschiedene Protestaktionen organisiert und durchgeführt werden, mit einem Sit-In im Regierungsbezirk gegen Ende des Monats als Höhepunkt. In der Deklaration wird die Regierung angeklagt, die Rechte der Indigenen des Landes zu verletzen, ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten und zu einer Verschlechterung der Situation indigener Völker beigetragen zu haben. Das Raposa-Reservat und die Amnesty Studie werden besonders erwähnt. Als schließlich ein Bundesgericht am 14. April die letzten juristischen Barrieren zur Anerkennung des Raposa-Reservates beseitigte, beugte sich Lula dem öffentlichen Druck und unterschrieb am nächsten Tag das entsprechende Dekret zur Anerkennung. Die Anerkennung ist mit Maßnahmen zur Unterstützung der Indigenen mit Geld und Land und zur Registrierung, Umsiedlung und Entschädigung der nicht-indigenen Siedler aus den Reservatsgrenzen verbunden. Eine Siedlung und verschiedene öffentliche Flächen wie Straßen, Stromleitungen und Kasernen wurden aus den Reservatsgrenzen herausgenommen.
Der Gouverneur kündigte Proteste gegen das Dekret an, es kam zu Demonstrationen und Gewaltandrohungen, die Bundespolizei war vor Ort, um das Schlimmste zu verhindern. Am 19. April kündigte Lula die Anerkennung von fünf weiteren Indigenenreservaten in Amazonien an. Ein paar Tage später entführten indigene Gegner des Reservates vier Polizisten, um durch Erpressung zu erreichen, dass ihre Dörfer sowie die Reisfeldgebiete der Reisbauern aus den Reservatsgrenzen herausgenommen werden. Nach Verhandlungen wurden die Gefangenen wieder freigelassen. Bei den indigenen Gegnern handelt es sich um ca. 1.000 der 16.000 Indigenen in den Reservatsgrenzen.
Der Indigenenrat von Roraima CIR, der die 15.000 Befürworter unter den Indigenen vertritt, unterstützt die Reservatsbildung uneingeschränkt. Auch Umwelt-, Menschenrechts- und Indigenenverbände feiern die Anerkennung als wichtigen und historischen Sieg einer 30-jährigen Kampagne. Unter den deutschen NGOs hat sich Pro REGENWALD seit 13 Jahren, und damit am längsten und intensivsten mit dem Thema beschäftigt. Auf deren Website kann man sich ausführlich zur Geschichte des Konfliktes informieren.
Für Mai kündigte der Justizminister die Bildung eines Nationalen Indigenenrates an, der zu einem Drittel aus Regierungsvertretern, Indigenen und Vertretern der restlichen Zivilgesellschaft zusammengesetzt sein soll. Dies war ein Wahlversprechen Lulas und die Hauptforderung von 700 Indigenen, die sich an der Hauptveranstaltung des "Indigenen Aprils", dem Sit-In in Brasília, beteiligt haben. Der Nationale Indigenenrat soll in gemeinsamen Diskussionen die Richtlinien einer neuen brasilianischen Indigenenpolitik erarbeiten. Der Rat wird sich voraussichtlich auch mit den anderen Forderungen der Indigenen wie weiteren Reservatsanerkennungen, Schutz der indigenen Rechte etc. befassen.
Der "Indigene April" scheint seinem Namen gerecht geworden zu sein und eine Trendwende in Brasiliens Indigenenpolitik eingeläutet zu haben. Die Anerkennung des Raposa Serra do Sol Reservates in nahezu vollem Gebietsumfang ist ein entscheidender Sieg über die Interessen der nicht-indigenen Landbesetzer. Natürlich droht weitere Gewalt gegen Indigene der Region, aber durch die verstärkte Präsenz der Bundespolizei und rasche Umsiedlungs- und Entschädigungsprogramme ist zwar spät - aber nicht zu spät - ein Schritt in die richtige Richtung gemacht. Der Nationale Indigenenrat ist ein von den Beteiligten anerkanntes und aussichtsreiches Instrument, um erstmals eine Indigenenpolitik unter Lula zu definieren und deren Umsetzung zu fördern. Die Aussichten sind gut.