Grundrechte der Indigenen – oder der Fazendeiros?
Eigentlich hatte sich Brasiliens Oberster Gerichtshof STF im September vergangenen Jahres klar und deutlich ausgedrückt: mit neun zu zwei Stimmen wurde die sogenannte Stichtagsregelung „Marco Temporal“ für verfassungswidrig erklärt. Beim „Marco Temporal“ geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse nachweisen, dass sie an besagtem Stichtag auf genau diesem Land gelebt hat oder sich zu diesem Stichtag in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden habe. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, auf die Absurdität der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ in Medien und Öffentlichkeit hinzuweisen.
Doch wenige Tage nach dem Urteilsspruch des STF verabschiedete der Nationalkongress mit seinen zwei Kammern in einem offenkundigen Hauruckverfahren als Reaktion auf das STF-Urteil das Gesetz 14.701/2023 (siehe hierzu ausführlich das KoBra-Dossier vom Januar 2024), das die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zum Gesetz erhob. Präsident Lula belegte einige Artikel dieses Gesetzes mit Vetos, die der Nationalkongress prompt wieder aufhob. Aktuell gilt dieses Gesetz in Brasilien – allerdings gibt es derzeit vier Verfassungsbeschwerden (und einen Antrag auf Verfassungsprüfung, die die Rechtmässigkeit des Gesetzes belegen soll) vor dem STF. Doch der zuständige Oberste Richter, Gilmar Mendes, entschied sich für die Variante der „Versöhnungskommission“, also einer Art Prozessklärung in einer Schlichtungskammer, an der eben auch „Betroffene“ teilnehmen sollten, um die Schlichtung durch gesellschaftlich gestützten Dialog juristisch dingfest zu entschärfen und zu klären. Es sitzen sich also auch Indigene und das Agrobusiness in der Schlichtungskammer direkt gegenüber.
Ende August aber der erklärte der Dachverband der Indigenen Völker Brasilien – die Articulacao dos Povos Indigenas do Brasil APIB – ihren Austritt aus dieser Schlichtungskammer und forderte deren Auflösung. In einem öffentlichen Brief prangerte APIB „die Gewalt seitens des brasilianischen Staates“ und „den Versuch einer erzwungenen Schlichtung“ an. Es fehle an Rahmenbedingungen für eine Einigung. Denn die Grundannahme der Schlichtungskammer sei falsch, so die Indigenen: die Territorialrechte der Indigenen sind Grundrechte, die sich aus den Artikeln 231 und 232 der brasilianischen Verfassung ergeben. Folgerichtig könne über Grundrechte nicht verhandelt werden, um einen Kompromiss zu erzielen, der diese Grundrechte beschneide, beschränke. So weit, so klar und so logisch. Denn was wäre beispielsweise das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wenn es in einer Schlichtungskammer besprochen und verhandelt werde, ob es bei dem Grundrecht körperlicher Unversehrtheit nicht einen Kompromiss geben könnte.
Dies sieht auch der Indigenenmissionsrat CIMI so: und zwar, dass diese „Schlichtungskammer ein ungeeignetes Instrument ist, um über Grundrechte wie die Rechte der indigenen Völker zu entscheiden. Die Schlichtung mag zwar für die Lösung anderer Angelegenheiten geeignet sein, ist aber weder kompetent noch effizient, wenn es um die grundlegenden Menschenrechte geht, denn jede Modulation dieser Rechte ist bereits ein Rückschritt, und jeder Tisch, der Opfer und Täter zusammenbringt, ist eine Form von Zwangsverhandlung. In Menschenrechtsangelegenheiten ist kein Platz für eine Schlichtung.“ Und weiter: „Die Entscheidung der indigenen Bewegung muss als klare Manifestation der Nichtzustimmung zu dem Verfahren verstanden werden. Wenn die Schlichtungskammer nicht mehr legitim war, um über unverfügbare Rechte zu diskutieren, wird sie ohne die Anwesenheit der indigenen Völker noch illegitimer. Das Ansehen Brasiliens wäre international gefährdet, und der Staat weiß das.“ Doch die „Versöhnungskomission“ tagt trotz des Austritts des Indigenendachverbands APIB weiter, nachdem das unter der Lula-Regierung neu geschaffene Ministerium für Indigene Völker neue indigene Vertreter:innen benannte, die an den Sitzungen der Schlichtungskammer teilnehmen.
Und das Agrobusiness weiß die Situation geschickt für sich zu nutzen: indem das Stichwort „Grundrechte“ aufgegriffen wird und umgemünzt wird in „Grundrechte der Fazendeiros auf ihr Recht auf Eigentum an Grund und Boden“. Die Agrarlobbyfraktion der ruralistas im Abgeordnetenhaus hat vor Kurzem den Gesetzentwurf PL 4039/2024 vorgelegt. Dieser Vorschlag beinhaltet die Absicht, dass die Regierung „den nicht-indigenen Eigentümer oder Besitzer des entzogenen Landes“ entschädigen muss, wenn das Gebiet das Ziel einer „Invasion“ durch indigene Völker ist. Hier wird das Grundrecht der Fazendeiros ins Spiel gebracht, um das Grundrecht der Indigenen auszuhebeln. So soll der Landraub durch grileiros, die in indigene Gebiete, die seit Jahrzehnten um ihre Demarkation als Indigene Territorien kämpfen, illegal eingedrungen sind und sich das Land illegal angeeignet haben, wissend, dass es indigene Gebiete sind, einmal mehr legalisiert und entsprechend horrend hoch finanziell belohnt werden.