Makroökonomie und Makrogesellschaft
Zwei Perspektiven prallen aufeinander - jede mit ihrer eigenen Logik und entsprechender Argumentation. Die erste Perspektive fixiert auf die Wirtschaft. Sie fußt auf folgender Idee: Eine massiv stringente Finanzpolitik führe zu mehr Wirtschaftswachstum, das sei unleugbar. Die Inflation und der Wert des Dollars seien unter Kontrolle. Das Verhältnis zwischen Bruttoinlandsprodukt und (rückzuzahlenden) Auslandsschulden verbessere sich, und es gäbe mehr Beschäftigung. Die zweite Perspektive stellt die Gesellschaft als Ganzes in den Mittelpunkt. Sie verweist auf wahrhaft erschreckendes Datenmaterial - etwa den brasilianischen Menschenrechtsreport 2002. Fast alle negativen Indikatoren sind gleich geblieben.
Manches hat sich sogar verschlechtert: Die Löhne sanken. Die Gewalt in den Großstädten und andernorts nahm zu. Noch immer gibt es Sklavenarbeit. Bei den Verhandlungen mit den einheimischen Völkern wurden keine Fortschritte erzielt. Die Agrarreform stagniert, die politischen Bewegungen stagnieren, und die Menschen fühlen sich auf ganzer Linie entrechtet. Eine kritische Analyse zeigt, die soziale Krise ist - zumindest teilweise - der wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet. Stellt sich die Frage: Was nützt ein Wirtschaftswachstum ohne soziale Entwicklung? Das Wenige, was wir an Wirtschaftswachstum erzielen konnten, bringt der großen Mehrheit - ausgeschlossen und verarmt - keinerlei soziale Vorteile. Wer zuvor viel verdiente, verdient heute viel, viel mehr. Wer vorher nichts verdiente, verdient immer noch nichts.
Der versprochene Wandel ist nirgends in Sicht. Was haben wir von Lula nicht alles erwartet. Lula - Sohn des sozialen Chaos, Überlebender jener historischen Drangsal gegen die Gedemütigten. Wir glaubten, Lula würde uns endlich den Freiheitspfad eröffnen... Unter dieser Flagge wurde er gewählt. Aber einmal an der Macht änderte er sein Programm. Es gelang den nationalen und internationalen Eliten, ihm ihre Logik aufzudrängen: das vorherrschende neoliberale Modell. Wer durch diese Tür geht, ist verloren. Über ihr könnte der Satz aus Dantes 'Inferno' hängen: "Die ihr hier eintretet, laßt alles Hoffnung fahren!" Hinter dieser Tür zählen nur noch Kapitalinteressen. Wenn man bedenkt, daß Lula einst die Arbeiter repräsentierte...
Aber ehrlich gesagt, was erwarteten wir eigentlich? Wir haben uns gewünscht, Lula - mit seiner bewegten Vergangenheit bzw. die Arbeiterpartei (PT), die eine Novität bei den Wahlen war -, seien der Anfang vom Ende des Neoliberalismus, es käme zu neuen Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über die Rückzahlung der brasilianischen Schulden. Von Lula wurde erwartet, daß er die herrschenden ultrareichen Eliten der Realität und Logik einer sozialen Politik unterwirft. Die Eliten sollten endlich anfangen, ihre in Jahren angehäufte Sozialschuld gegenüber dem Volk abzutragen. All dies ist nicht geschehen. Lula fiel der ranzigen Elitenpolitik zum Opfer. Der Historiker Jose Honorio Rodrigues bringt es auf den Punkt: "Die Eliten werden immer zunächst versuchen, sich untereinander zu einigen, bevor sie dem Volk etwas zukommen lassen".
Selbstmitleid hat uns ergriffen. Entweder waren wir zu naiv oder zu kraftlos, unser Land auf den neuen Weg zu bringen. Aber vielleicht ist es uns bisher nur nicht gelungen, eine Führung aufzubauen, die genug Mut für echten, innovativen Wandel hat. Ich glaube noch immer an Lula - als Person. Er ist ehrlich und würde seine Träume nie verraten. Er ist charismatisch und zum Wandel fähig. Zuerst muß Lula jedoch selbst begreifen, was er stets predigt - daß der Kapitalismus nur gut ist für Kapitalisten, aber nie für die Arbeiter. Die Arbeiter brauchen eine andere Wirtschaft - eine Wirtschaft, bei der sie nicht Almosenempfänger, sondern Hauptakteure sind.
Anmerkung d. Übersetzerin:
Ein sehr interessantes Interview mit dem vom Vatikan geschaßten brasilianischen Befreiungstheologen und Ex-Franziskanerpriester L. Boff unter: www.kirchenbote.ch/zuerich/aktuell/boffinterview.htm
Originalartikel: "Macroeconomy and Macrosociety"