EU-Mercosur Abkommen - ein Überblick
Nach gut zwanzig Jahren Verhandlungen kam letzten Sommer die Nachricht, an die viele schon gar nicht mehr glaubten: Am Rande des G20-Gipfels in Osaka haben sich die EU und die vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay auf das größte Freihandelsabkommen der EU-Geschichte geeinigt. Die EU verkaufte dies als großen Erfolg für die Menschen sowohl in Europa als auch in Südamerika. Unternehmen, Arbeitnehmer:innen, die Wirtschaft, ja sogar die Umwelt, würden von dem Abkommen profitieren, denn es fördere “nachhaltige Entwicklung”. Ganz schön schwer sich das vorzustellen, wenn man täglich Bilder von Waldbränden in der Amazonasregion sieht, ausgelöst von Rodungen für Viehwirtschaft und Sojaanbau, deren Produkte nun ohne Barrieren in die EU exportiert werden sollen. Auch die brasilianische Regierung lobte die Einigung und versprach der Bevölkerung eine höhere Diversität an Produkten zu kompetitiven Preisen. Doch wie groß ist der Teil der brasilianischen Gesellschaft, der Konsument:innen von besagten europäischen Produkten ausmacht? Und was ist der Preis, den Brasilien und die anderen Mercosur-Staaten dafür zahlen müssen?
Trotz der vermeintlich historischen Nachricht der Einigung letztes Jahr sieht es aktuell nicht nach einem schnellen In-Kraft-Treten des Deals in seiner jetzigen Form aus. Abgesehen davon, dass es ein langer und komplizierter Prozess ist, muss am Ende jedes EU-Mitgliedsland für die Ratifizierung stimmen. Hauptsächlich aufgrund der Brände im Amazonas, deren Bilder letztes Jahr für Schlagzeilen und Proteste gegen die Bolsonaro-Regierung rund um die Welt sorgten, haben Länder wie Österreich, die Niederlande und Belgien jedoch angekündigt, nicht dafür zu stimmen. Selbst die deutsche Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner äußerte zuletzt Zweifel und sagte, dass die Corona-Krise gezeigt hätte, wie wichtig es sei, stärker auf eine regionale Versorgung hinzuarbeiten. Die Bundesregierung um Angela Merkel und das Auswärtige Amt wollen das Abkommen jedoch scheinbar um jeden Preis durchsetzen und hoffen dies durch die deutsche Ratspräsidentschaft in der EU zu beschleunigen. Die Umweltorganisation Greenpeace warnt, dass der Handelsteil aus dem umfassenden Abkommen herausgelöst und einzeln über ihn abgestimmt werden könnte, wofür keine Einstimmigkeit im Rat mehr erforderlich ist. Alternativ könnte man sich am CETA-Abkommen von 2016 orientieren und einen sogenannten „Beipackzettel“ zum Schutz des Amazonas einfügen, um die Kritiker auf dieser Ebene zu beruhigen. Ob dies ausreicht, um Gegner des free trade deals wie Österreichs Kanzler Sebastian Kurz umzustimmen, bleibt abzuwarten. In jedem Fall ist es notwendig, aufzuzeigen, was das Freihandelsabkommen für Auswirkungen vor allem in Brasilien haben würde und wie es ungleiche globale Strukturen verfestigen würde.
Der brasilianische Investigativjournalist Adriano Martins schreibt in einem Artikel für das Nachrichtenportal nodal von drei klar vorhersehbaren Auswirkungen: Die vier Mercosur-Länder werden ihren Status als Produktoren von Primärgütern zementieren und das in immer prekäreren sozialen und umweltlichen Konditionen. Zudem werden auch in Europa die Arbeitnehmer:innenrechte, die Kleinproduzent:innen und die Umwelt leiden. Auf der Seite der Gewinner:innen werden lediglich die Mega-Konzerne sowie die Wirtschaftssektoren stehen, die für ihre Raubgier bekannt sind, wie zum Beispiel die ruralistas (mächtige Agrarkonzerne) in Brasilien. Vor allem die Liberalisierung des Handels zwischen Konzernen wird transnationals mit Sitz auf beiden Seiten des Atlantiks erlauben, den Wettbewerb zwischen ihren Arbeitnehmer:innen auszuweiten und die Produktion dorthin zu verlegen, wo die Löhne sowie die Arbeitnehmer:innenrechte am niedrigsten sind. Wenn Volkswagen zum Beispiel entscheidet, dass die Arbeitskraft für die Produktion von Reifen in Brasilien zu teuer oder geschützt sei, könnte der Konzern entscheiden, sie stattdessen aus der Slowakei oder Ungarn zu importieren. Alternativ könnte er auch die brasilianischen Arbeiter:innen vor die „Wahl“ stellen, für niedrigere Löhne zu arbeiten oder ihre Anstellung zu verlieren.
In Sachen Umwelt ist der wohl offensichtlichste Effekt die weitere und beschleunigte Zerstörung des Amazonasregenwalds. Obwohl die Vereinbarung eine Klausel enthält, die Brasilien dazu auffordert, die Entwaldung des Amazonas zu bekämpfen, sind die geplanten Handelsverträge kontraproduktiv. Die Exportsteigerungen von Rindfleisch, Soja und Zuckerrohr wirken außerdem den „Bemühungen“ der EU entgegen, entwaldungsfreie Lieferketten für importierte Agrarprodukte sicherzustellen. Die Konsequenzen für unsere Ökosysteme sind aber noch viel weitreichender und struktureller als die Abholzung des Amazonas. Das Abkommen verfestigt ein Agrarmodell, das auf Monokulturen und massivem Pestizideinsatz basiert. In einem Artikel der letzten Ausgabe unserer Zeitschrift Brasilicum schreibt Autorin Lena Luig darüber, wie die Großkonzerne Bayer und BASF im Globalen Süden Milliardengeschäfte mit Pestiziden machen, die in der EU längst verboten sind. Dies hat dramatische Folgen für Umwelt und Gesundheit der Menschen vor Ort.
Wie oben schon erwähnt, werden die südamerikanischen Länder in ihren Wirtschaftsmodellen, die zum überwiegenden Teil auf dem Export von Rohstoffen basieren, festgefahren. Durch die Abschaffung von Zöllen auf Industrie-Produkte aus Europa werden jegliche Versuche, lokale Industrien aufzubauen, in ihren Grundansätzen zerstört. Auch der regionale Handel unter den Mercosur-Ländern wird deutlich geschwächt durch billigere Produkte aus Europa. Abgesehen davon werden durch unnötige Handelsströme mit Produkten, die bereits im Überfluss vorhanden sind, wie Hühner-und Rindfleisch in der EU, die transportbedingten CO₂-Emissionen weiter in die Höhe getrieben. Doch dies wird Brasilien nicht einmal eine nennenswerte Beteiligung an der Fleischversorgung in Europa garantieren. Die EU hat ausreichend Schutzklauseln für ihre eigenen Industrien eingebaut, zum Beispiel Quoten für Fleisch, Zucker und Ethanol. Für Rindfleisch zum Beispiel werden es 99.000 Tonnen pro Jahr sein - oder 1,2 Prozent des jährlichen Verbrauchs in der EU. Es lässt sich also kein großer Anstieg der Rindfleischproduktion erwarten, dafür eine Zunahme der Exporte in Form von qualitativ hochwertigen Fleischstücken, was sich negativ auf deren Preis für die Verbraucher:innen im Mercosur auswirken könnte.
Das Abkommen bietet also viel Raum für Kritik. Neben den oben genannten europäischen Ländern, deren Staatsoberhäupter schon ihre Kooperation verneint haben, hat sich auch der im November angetretene argentinische Präsident Alberto Fernández deutlich negativ geäußert und vertritt die Stellung, dass das Abkommen eine Unterwerfung Argentiniens den europäischen Ländern und vor allem Großunternehmen bedeuten würde. Es war schließlich erst den Wahlen seines Vorgängers Macri und später Bolsonaro, die die Peronistas und die PT in den zwei großen Ländern des Mercosur abgelöst hatten, zu verdanken, dass eine Einigung überhaupt erreicht werden konnte. Auch aus der Zivilgesellschaft regt sich bestimmter Widerstand, sowohl im Mercosur als auch in der EU. Noch am 28. Juni, der Tag an dem die Einigung verkündet wurde, ließ die Koordinatorin der Gewerkschaftszentren des Cono Sur in einer Erklärung ihre "absolute Ablehnung des vorliegenden Abkommens, sowohl was seine Form als auch was seinen Inhalt betrifft", bekennen. Während die Kritik in Südamerika weitestgehend in antikolonialen Bewegungen verankert ist, liegt in Europa der Fokus auf der Zerstörung sozialer Rechte und solidarischer Produktionsweisen zugunsten von Konzernen und kapitalistischen Logiken. Auf beiden Seiten zeigen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen entschiedenen Widerstand. Sie fürchten um die Zukunft ihres Landwirtschaftsmodells, das auf biologischer, lokaler und solidarischer Produktion beruht, während das EU-Mercosur Abkommen Latifundien, den Einsatz von Agrotoxinen, die Vertreibung der Landarbeiter:innen und die Verwüstung der Natur vertritt.
Die aktuellen Dynamiken deuten darauf hin, dass sich ein politisches Szenario, wie es schon um die Jahrhundertwende gegeben hat, wiederholen könnte. Genau wie in den Kampagnen gegen den "freien" Handel würde es zwei Zukunftsprojekte gegenüberstellen. Auf der einen Seite, zugunsten des Abkommens, die großen Unternehmen, die Medien, die zunehmend an sie gebunden sind, sowie die meisten Regierungen - sowohl in der Europäischen Union als auch im Mercosur. Auf der anderen Seite gegen die Rekolonisierung und die Logik der wirtschaftlichen Großmacht, eine riesige Galaxie von Bewegungen und politischen Akteur:innen, die auf beiden Seiten des Atlantiks Widerstand leisten - und Alternativen auf der Grundlage neuer produktiver und sozialer Logiken suchen.
Autorin: Hannah Dora