ANTIDEMOKRATISCHE DEMONSTRATIONEN UND PUTSCHREDEN ZUM BRASILIANISCHEN UNABHÄNGIGKEITSTAG

Am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, rief Bolsonaro zu antidemokratischen Demonstrationen auf. Hier eine Stellungnahme zu den aktuellen Ereignissen von PAD (Processo de Articulação e Diálogo), aus Brasilien.
| von tilia.goetze@kooperation-brasilien.org
ANTIDEMOKRATISCHE DEMONSTRATIONEN UND PUTSCHREDEN ZUM BRASILIANISCHEN UNABHÄNGIGKEITSTAG

Letzten März haben Organisationen der brasilianischen und deutschen Zivilgesellschaft ein Manifest verbreitet, welches vor den Auswirkungen der Regierung Bolsonaro gewarnt hat – bezüglich der Rückschritte in sozialen, ökonomischen, kulturellen und Umweltrechten. Auch Rückschritte der Bürger*innenrechte wurden dort beleuchtet: Bedrohungen und Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen, Arbeiter*innen der Kommunikation, Führungspersonen traditioneller Gemeinschaften und indigener Völker und schwarze Jugendliche in Peripherien. Das Manifest verurteilte außerdem die bewusste Ignoranz bezüglich der Pandemie und die Förderung der Entwaldung und der Waldbrände in Amazonien und dem Pantanal.

Am 7. September, dem Tag der 199-jährigen Unabhängigkeit Brasiliens, kam es in 127 Städten in 26 Bundesstaaten zu antidemokratischen Aktionen, zu denen Präsident Bolsonaro aufgerufen hatte.  Der Präsident sprach in Brasilia und in São Paulo. Beide Demonstrationen wurden von Sektoren, die die Regierung unterstützen, wie zum Beispiel der Agrarindustrie, finanziert.

Bei seiner Rede in Brasilia rief der Präsident offen zu einem Putsch auf und bedrohte den Präsidenten des Bundesgerichtshofs (STF), Luiz Fox: „Entweder der Machthabende bringt seine Leute dazu, sich zu benehmen, oder diese Macht könnte erleiden, was wir nicht wollen. Denn wir schätzen und erkennen die Macht jeder Republik. Alle von uns, hier auf dem Platz der „Tres Moderes“ (Drei Mächte) schwören, unsere Verfassung zu respektieren. Wer außerhalb ihrer Grenzen handelt, muss angepasst, oder zum Gehen aufgefordert werden.“

Zudem griff er den STF an: „Wir werden nicht akzeptieren, dass eine Behörde ihre Macht nutzt, um die Verfassung außer Kraft zu setzen. Wir werden keine Maßnahme, keine Aktion und keine Verurteilung mehr akzeptieren, die außerhalb der vier Zeilen der Verfassung steht.“, sagte er. „Wir können auch nicht länger hinnehmen, dass eine bestimmte Person der ‚drei Mächte‘ unsere Bevölkerung ausbeutet. Wir können keine weiteren politischen Verhaftungen in unserem Brasilien akzeptieren.“

Auf der Avenida Paulista in São Paulo erstreckte sich die Demonstration über 11 Häuserblocks, und Bolsonaro sprach zu einer Menschenmenge, welche die Sicherheitsmaßnahmen gegen COVID-19 missachtete. Die Meisten trugen keine Masken und hielten keinen Abstand.

Bei der Rede in der paulistanischen Hauptstadt São Paulo verschärfte Bolsonaro den Putschton, griff den Minister des STF, Alexandre Moraes, an und drohte: "Entweder er benimmt sich, oder er sollte darum bitten, zu gehen."  Außerdem kritisierte er den Vorsitzenden des Obersten Wahlgerichts (TSE), Luís Roberto Barroso, und das Wahlsystem. "Ich kann mich nicht an einem Theater beteiligen, das vom Präsidenten der TSE gesponsert wird", sagte er. Noch schärfer ging Präsident Jair Bolsonaro gegenüber dem Minister Alexandre de Moraes vor: "Dieser Präsident wird keine Entscheidung von Alexandre de Moraes mehr befolgen." Am Ende seiner Rede sagte er, dass er "niemals eingesperrt werden wird" und dass er Brasilia nur "verhaftet, tot oder siegreich" verlassen wird.

Politische Analyst*innen gehen davon aus, dass das Resultat seiner heutigen Reden nicht nur bei erklärten Gegner*innen eine heftige Reaktion hervorrufen werden. Aber was sind die Konsequenzen aus dem Diskurs?

Mit seinen Reden wird Bolsonaro eine starke Reaktion bei denen hervorrufen, die bisher noch nicht auf die Amtsenthebungsanträge reagiert haben. Die politische Presse erfuhr, dass die PSB unter der Leitung von Gilberto Kassab eine Kommission einrichten wird, die einen Antrag auf Amtsenthebung von Präsident Bolsonaro prüfen soll. Das ist völlig neu, aber die Partei signalisierte bereits, dass sie sich dem Aufruf eines Amtsenthebungsverfahren anschließen könnte, wenn Bolsonaro die demokratische Schwelle zu weit überschreitet. Die Verteidigungsstrategie in der MDB besteht darin, dass Parteiführende, die Teil der Regierung Bolsonaro sind, Leitungspersonen in der Regierung und der Senat die Regierung verlassen. Anderenfalls bestünde die Botschaft, dass die Partei mit einer gewaltsamen Machtübernahme einverstanden sei.

Außerdem wollen sie, dass sich im Nationalkongress nichts bewegt, bis der Präsident seine Putsch-Haltung aufgibt. Die PSDB wird eine Sitzung abhalten, um zu klären, ob sie ebenfalls einen Antrag auf Amtsenthebung stellen wird.

Wichtige Themen für das Land standen nicht auf der Tagesordnung der Aktionen, die in Bolsonaros Netzwerken seit über zwei Monaten angekündigt werden. Der Hunger zum Beispiel, der nach Angaben des brasilianischen Forschungsnetzwerks für Lebensmittel- und Ernährungssouveränität und -sicherheit im Jahr 2020 19 Millionen Brasilianer betrifft – das sind 9 Millionen mehr Menschen als im Jahr 2018 (10,3 Millionen).

Am Abend des 7. September gab der Präsident des Senats, Rodrigo Pacheco (DEM-MG), bekannt, dass er beschlossen habe, alle für den 8. und 9. September angesetzten Beratungen und Ausschusssitzungen im Parlament abzusagen. Dies wäre eine erste Reaktion auf die Angriffe von Präsident Jair Bolsonaro auf das Oberste Bundesgericht (STF). Nach Einschätzung des STF besteht kein politisches Klima für Abstimmungen, unabhängig davon, ob sie für den Präsidentenpalast von Interesse sind oder nicht.

Die „Schrei der Ausgeschlossenen“- Demonstrationen protestierten gegen den Autoritarismus. Die Gruppe demonstrierte bisher 27mal und beleuchtet normalerweise Themen, welche die Regierung ausklammert. Dieses Jahr hatten die Aktionen einen politischen Ton, der mehrere linke Parteien miteinschloss. 300 Tausend Personen nahmen an den #ForaBolsonaro Demos in 200 Städten teil. Die landesweiten Proteste im Namen des „Schrei der Ausgeschlossenen“ fanden alle friedlich statt.

Auf der Tagesordnung standen die Verteidigung von sozialer Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, Arbeitsplätzen und Einkommen. "Es war sehr wichtig, die Verteidigung der Souveränität, der Institutionen und vor allem der Demokratie auf die Straße zu bringen", sagte der Koordinator der „Frente Brasil Popular“ (Brasilianische Volksfront), Raimundo Bonfim.

Für Juristen, die von der Presse angehört wurden, stellen die von Präsident Jair Bolsonaro angestifteten Handlungen und die Drohungen gegen die Minister des STF und des Obersten Wahlgerichts einen direkten Verstoß gegen die brasilianische Verfassung dar. Die Juristen sehen in Bolsonaros Rede über die Nichtbefolgung der Entscheidungen des STF-Ministers einen Verantwortungsdelikt.

Am Vorabend der antidemokratischen Demonstrationen, dem vergangenen Montag (06.09.), unterzeichnete Präsident Jair Bolsonaro eine vorläufige Maßnahme, um die Entfernung von Konten und Profilen aus sozialen Netzwerken zu begrenzen. Am Unabhängigkeitstag reichten die Parteien beim Obersten Gerichtshof eine Klage gegen diese vorläufige Maßnahme ein, die den zivilrechtlichen Rahmen für das Internet ändert. Die PSDB, die PT und Solidarität sind der Ansicht, dass die von Bolsonaro unterzeichnete Maßnahme es unmöglich macht, die Verbreitung von Fake News in sozialen Netzwerken zu bekämpfen und den Weg für Angriffe auf die Demokratie ebnet.

Bislang wurden die Räume für soziales und ökologisches Regieren nicht wiederhergestellt. Im Gegenteil, die Zivilgesellschaft wird nach wie vor nicht über sozial- und umweltpolitische Programme, Pläne und öffentliche Maßnahmen informiert. Bolsonaro regiert mit provisorischen Maßnahmen, ohne jegliche Diskussion mit der Gesellschaft. Auch Debatten zur Kooperationspolitik sind nicht öffentlich.  Bislang gibt es keine Informationen oder Dokumente zu den Kooperationsabkommen, die zwischen Brasilien und Deutschland geschlossen werden sollen.

Das politische, wirtschaftliche und soziale Szenario in Brasilien ist chaotisch und muss in der neuen Runde der Gespräche mit der brasilianischen Regierung über die Kooperationspolitik berücksichtigt werden. Einige Fragen müssen geklärt werden: Auf welchen Grundsätzen, Kriterien, Instrumenten und Methoden wird diese Politik der Zusammenarbeit beruhen? Welches sind die Prioritäten? Welche öffentlichen Einrichtungen werden an den Vereinbarungen beteiligt sein? Wie wird die Politik der Transparenz, der Überwachung und der sozialen Beteiligung aussehen? Welche Ergebnisse werden erwartet? Welche territorialen, sozialen und ökologischen Auswirkungen sind zu erwarten? Welche Rolle werden die Organisationen der Zivilgesellschaft, die mit den Menschenrechten verbunden sind, die Organisationen der indigenen Völker, die traditionellen Völker und Gemeinschaften und die Familienbauern spielen?

In diesem Moment ist die Aufrechterhaltung der demokratischen Rechtsstaatlichkeit von grundlegender Bedeutung, damit die drei Staatsgewalten - Legislative, Exekutive und Judikative – nicht getrennt werden, was die Souveränität des Volkes gefährden würde. 

Brasilien, 08. September 2021

Processo de Articulação e Diálogo (Artikulations- und Dialogprozess) - PAD

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