Brasiliens G-20 Präsidentschaft: Ambitionierte Ziele für eine gespaltene internationale Gemeinschaft

2024 und 2025 hat Brasilien die Möglichkeit, sich wieder als aktiver Gestalter internationaler Politik und Diplomatie zu präsentieren. Die erste Gelegenheit dafür ist die Präsidentschaft der G20, des Zusammenschlusses der führenden 19 Industrienationen, der EU und der Afrikanischen Union, die von Dezember 2023 bis November 2024 andauert.
| von Ekrem Eddy Güzeldere
Brasiliens G-20 Präsidentschaft: Ambitionierte Ziele für eine gespaltene internationale Gemeinschaft
C 20 Working Groups / Geas/ Abong

In den ersten zwei Legislaturperioden Präsident Lulas (2003-2010) wurde dessen Außenpolitik, die maßgeblich von seinem Außenminister Celso Amorim konzipiert und umgesetzt wurde, „altiva e ativa“ genannt, vielleicht mit ehrgeizig und aktiv zu übersetzen. Brasilien bemühte sich, als aufstrebende Macht im Konzert der Großen mitzuspielen und zog viele Register, um seinen Status international zu steigern. Dazu gehörten auch die Bewerbungen für internationale Großveranstaltungen wie die Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaft, die dann auch tatsächlich in Brasilien stattfanden. Brasilien schaltete sich zudem in internationale Debatten ein, wie eine Reform des UN-Sicherheitsrats oder eine Vermittlerrolle im iranischen Nuklearprogramm - eher Themen, die bis dahin etablierteren Mächten vorbehalten waren.

Daran versucht Lula 3 jetzt wieder anzuknüpfen. Die vier Bolsonaro-Jahre waren außenpolitisch verlorene Jahre; Brasilien zog sich von der Weltbühne zurück und beteiligte sich nicht mehr an internationalen Debatten. Die Außenminister Bolsonaros waren unter seltsamen Minister*innen oft die seltsamsten. Für seinen ersten Außenminister, Ernesto Araújo, war der Klimawandel eine Verschwörung von „kulturellen Marxisten“, um die Volkswirtschaften zu schwächen.

Die jetzige brasilianische Regierung will sich vorrangig in ihrer G20-Präsidentschaft für die Schaffung einer „gerechten Welt und eines nachhaltigen Planeten“ einsetzen. Lula twitterte zum Ende der indischen G20-Präsidentschaft am 10. September 2023, dass es drei Prioritäten geben werde: soziale Eingliederung und Kampf gegen den Hunger, Energiewende und nachhaltige Entwicklung in ihren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten sowie eine Reform der Institutionen der Weltordnungspolitik.

 

 

(K)eine lateinamerikanische Agenda?

Die G20 hat drei lateinamerikanische Mitgliedsländer, neben Brasilien noch Argentinien und Mexiko. Die brasilianische Präsidentschaft könnte dazu dienen, eine lateinamerikanische Agenda in das Programm aufzunehmen und die in internationalen Debatten unterrepräsentierte Region stärker ins Rampenlicht zu rücken. Der Wunsch dazu besteht, wenigstens teilweise. Zu den Gästen, die nächstes Jahr zum großen Abschlussgipfel im November in Rio de Janeiro eingeladen sein werden, gehören Paraguay und Uruguay, somit wird der gesamte Mercosur vertreten sein. Ein großes Fragezeichen dabei wird aber sein, wie sich Argentiniens neuer Präsident Milei verhalten wird, der die Beziehungen zu Brasilien abbrechen wollte und wenig von diplomatischen Gepflogenheiten hält. Aber auch ohne Milei sollte man von sich von einer lateinamerikanischen Agenda nicht viel versprechen. In der Vergangenheit haben sich die drei Länder wenig abgesprochen und kaum gemeinsam gehandelt. Dafür sind ihre Rollen und Prioritäten zu unterschiedlich.

 

Klimaschutz mit angezogener Handbremse

Schon bevor Lula zum Präsidenten ernannt wurde, reiste er im November 2022 zur COP27 (jährliche UN-Klimakonferenz) nach Ägypten. Seitdem sind die Erwartungen hoch, dass Brasilien eine Führungsrolle beim internationalen Klimaschutz übernehmen wird. Es wurde allgemein begrüßt, dass sich Brasilien bereit erklärt hat, die COP30 im nächsten Jahr in Belém zu organisieren. Somit hat Brasilien die Möglichkeit, bei zwei großen internationalen Veranstaltungen das Klimathema voran zu treiben. Die Erwartungen für mutige Schritte sollten aber nicht zu hoch sein. Die Ergebnisse des Gipfels der Amazonas-Anrainerstaaten im August 2023 in Belém waren doch eher ernüchternd. Bei zentralen Themen konnte man sich bei diesem Gipfel der neun Amazonas-Länder nicht einigen und es war auch Brasilien, das eher auf der Bremse stand. So gab es keine Einigung beim Thema Abholzungsstopp, das jedem Land überlassen bleibt und keine Einigung, was die weitere Förderung von Kohle, Öl und Gas im Amazonasgebiet angeht. Bei diesem Thema wollte vor allem Kolumbiens Präsident Gustavo Petro eine Reduzierung erreichen. Für Lula sind diese Themen sensible Balanceakte, da innerhalb seiner Koalition zahlreiche Befürworter*innen sowohl von weitergehender Abholzung, als auch von der Förderung fossiler Energien sind. Mit diesen kann es sich Lula auf Grund der fragilen Mehrheitsverhältnisse im brasilianischen Parlament nicht verscherzen, weshalb Brasilien hier eher vorsichtig auftreten wird, was konkrete Maßnahmen anbetrifft.

 

Viele Debatten mit wenig Geld?  

Präsident Lula sagte beim G20 Treffen in Indien im September 2023, dass man während der Präsidentschaft „viele Debatten“ führen möchte. „Wir werden wahrscheinlich mehr Debatten führen als hier in Indien. Wir wollen mehrere brasilianische Städte nutzen, damit wir so viele G20-Veranstaltungen wie möglich abhalten können.“ Brasilien kalkuliert mit 300 Mio. RS (56,5 Mio. Euro) für die Organisation von Veranstaltungen in 15 Städten und dem Gipfel in Rio de Janeiro im November 2024. Die brasilianische Regierung spricht deshalb von einem bescheidenen und sparsamen G20. Indien hatte da ganz andere Geschütze aufgefahren. Alleine für das Treffen in Neu-Delhi wurde das Doppelte des gesamten brasilianischen G20 Budgets verbraucht, die Gesamtausgaben mit über 200 Veranstaltungen in 60 Städten beliefen sich auf gut 450 Mio. Euro, das Achtfache des brasilianischen Budgets. Wie man mehr Debatten mit viel weniger Geld führen möchte, hat die brasilianische Regierung bisher nicht erklärt.

 

Explosive Internationale Gemengelage

Neben den Schwerpunktthemen Brasiliens wird sich die brasilianische Präsidentschaft notgedrungen auch mit den internationalen Kriegen und Konflikten auseinandersetzen müssen, die die Weltgemeinschaft seit der russischen Invasion in die Ukraine vom Februar 2022 weiter entzweit. Plakativ gesprochen, der Westen gegen den globalen Süden. Die Situation in Israel und Gaza seit dem 7. Oktober 2023 hat diese Trennlinie noch verschärft, teilweise aber auch durcheinander gebracht. Der Westen mehrheitlich an der Seite Israels, der globale Süden mehrheitlich auf der Seite der Palästinenser*innen, wobei z.B. Indiens Modi seine Unterstützung Israels bekundet hat, wohingegen einige EU-Staaten sich nicht so eindeutig auf die Seite Israels gestellt haben.

Lula hat sich beim Krieg gegen die Ukraine öfter Ukraine-kritisch geäußert, was seine außenpolitischen Berater dann wieder geraderücken mussten. Beim Konflikt in Israel/Gaza äußerte er sich anfangs ausgewogener und diplomatischer, auch, weil brasilianische Staatsbürger*innen entführt wurden und in Israel in Gefahr schwebten. Um dieser explosiven internationalen Gemengelage Rechnung zu tragen, wird die brasilianische G20-Präsidentschaft zwei Treffen der Außenminister*innen organisieren. Eine im Februar 2024, die zweite im Juli 2024. Die brasilianische Positionierung kann wenigstens helfen, die Atmosphäre zu verbessern, was in der jetzigen Situation schon ein Gewinn wäre.

Normalerweise generieren diese Vorbereitungstreffen wenig Aufmerksamkeit. Alle Augen werden erst im November 2024 auf Brasilien liegen, wenn auf dem G20-Gipfel die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen. Schöne Bilder vor atemberaubender Kulisse wird es sicher geben. Ob bei den Schwerpunktthemen konkrete Schritte und Maßnahmen erreicht werden können, ist weniger sicher.

 

*Ekrem Eddy Güzeldere ist Politikwissenschaftler, der seine Doktorarbeit zu den Brasilien-Türkei Beziehungen an der Universität Hamburg geschrieben hat (2017). Seit 2011 reist er regelmäßig nach Brasilien.

> Der Artikel erschien erstmals im Brasilicum 272 - Von Roraima bis zum G20 Gipfel

Mehr Infos zu C20: https://c20brasil.org/