Opposition und Opportunismus. Die deutsch-brasilianischen Beziehungen während der Diktatur
2014 – 50 Jahre nach dem Militärputsch in Brasilien verweist ein Rückblick auf die deutsch-brasilianischen Beziehungen insbesondere in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auf eindeutige Polarisierungen in der deutschen Öffentlichkeit und Politik:
• auf der einen Seite Verteidiger*innen und Lobbyist*innen der sogenannten ‚Revolution‘ (so hatten die Militärs ihren Coup d’Etat 1964 genannt), insbesondere aus deutschen Wirtschaftskreisen,
• auf der anderen Seite eine bemerkenswert engagierte Solidarität mit den Verfolgten des Regimes und der Opposition.
Und die ‚offizielle Bundesrepublik‘ der in dieser Zeit durchgehend sozialdemokratisch geführten Regierungen? Sie übte Zurückhaltung in Fragen von Menschenrechtsverletzungen und zeigte sich euphorisch angesichts der glänzenden Aussichten von Wirtschafts- und Technologiekooperation mit dem autoritären Regime. Außenminister Genscher lobte beim Besuch in Brasilien 1975 die „Atmosphäre des Vertrauens, die für das deutsch-brasilianische Verhältnis charakteristisch ist“, Wirtschaftsminister Friedrich analysierte ebenfalls 1975 zufrieden: „Unser Handelsvolumen hat sich von 1964 bis 1974 versechsfacht“. Man beachte das von Friedrich gewählte Basisjahr 1964, das Jahr des Militärputsches, für den Vergleich. Der Höhepunkt der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit war der deutsch-brasilianische Atomvertrag, den die deutsche Presse begeistert als den „größten internationalen Technologiepakt nach dem Zweiten Weltkrieg“ zwischen zwei Ländern bezeichnete. Vorbereitet in der Regierung Brandt wurde er unter tatkräftiger Unterstützung von Franz Josef Strauß, zwischen Helmut Schmidt und dem amtierenden deutschstämmigen Diktator Ernesto Geisel abgeschlossen.
Eine besonders nützliche Quelle, um die Argumentationsketten der „Freunde“ des Regimes kennenzulernen, sind die Deutsch-Brasilianischen Hefte, aus denen ich die meisten folgenden Zitate entnommen habe. Herausgegeben von der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft dokumentieren die Hefte den Originalton der etablierten, politischen Freunde der Militärs und insbesondere der davon profitierenden deutschen Unternehmen. Drei Kostproben dazu:
Gustav Stein, stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Bundestags stellt nach einem Besuch in Brasilien 1971, ein besonders durch systematische Folter und Liquidierung brasilianischer Oppositioneller gekennzeichnetes Jahr fest: „Die Bedeutung unserer sozialen Marktwirtschaft für das allgemeine Wohl der Volkswirtschaften ist kaum besser zu bestätigen als durch die Ent-wicklung und Fortschritte in diesem Lande.“ Als Erfolgsfaktoren fügt er hinzu, „dass die Regierung derzeit mit keinerlei Arbeitskämpfen rechnen muss“ und solange „die Wirtschaftsexpansion noch in den Anfängen steckt, sollte die Lohnpolitik die Unternehmen vor einem Kostendruck von der Lohnseite her schützen.“
Der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, Rudolf Leidig, wird in den Deutsch-Brasilianischen Heften 1974 folgendermaßen zitiert: „Ich bin überzeugt, dass Brasilien vom politischen Gesichtspunkt aus sicherlich das stabilste Land in ganz Lateinamerika ist. Die Tatsache, dass hier in Europa gelegentlich Kritik gegenüber dem System laut wird, beruht sicherlich darauf, dass man hier nicht die nötige Einsicht und Kenntnis über das Land besitzt. Ich bin der Auffassung, dass diese Stabilität mit dazu beiträgt, dem Land die unabdingbare und notwendige wirtschaftliche Basis zu verschaffen. Dies ist wohl das vordringliche und vorrangige Ziel.“ Und später fügt er hinzu: „Der Brasilianer besitzt eine andere Mentalität als der Deutsche und Europäer. Er nennt eine glückliche Mentalität sein eigen (…). Er ist nicht neidisch und mit seinem Los zufrieden (…).“
Die Wege des Erfolgs der „Revolutionsregierungen“ werden in einem anonym verfassten Artikel 1973 so beschrieben: Sie wurden „in kurzer Zeit“ erreicht „durch nüchterne und energische Maßnahmen, die zu Beginn natürlich wenig populär waren, z.B. Währungskorrekturen, Einfrieren der Löhne, (…), Erziehung des Volkes für Entwicklungsaufgaben. (…) In den großen Linien scheint es eine völlige Übereinstimmung der Meinungen von beiden Sektoren (Regierung und Unternehmen, LR) über die wünschenswerten Wirtschaftsziele zu geben. Die wirtschaftlichen Entscheidungen der Regierung gründen sich heute im Einklang mit dem Privatbereich auf technische Kriterien. (…).Es (ist) in Brasilien gelungen, ein Modell wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ordnung zu schaffen, das den brasilianischen Problemen angepasst ist (…) und zweifelsohne für die brasilianischen Verhältnisse und die Phase, die das Land und die Welt erleben, das beste ist.“
Diese Aussagen aus den 70er Jahren und die Analysen dazu werden von den Autoren selbst durchgehend als objektiv, wissenschaftlich, technisch und rational bezeichnet, während die Wahrnehmung der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland eben dort als „verzerrend, emotional, und die Tatsachen nicht berücksichtigend“ beschrieben wird. Sie bilanzieren aus der Sicht deutscher Wirtschaftsinteressen eine besonders harte Periode der brasilianischen Diktatur. Die gepriesene „Stabilität“ stützt sich auf das Verbot der politischen Parteien, Intervention in die Gewerkschaften, die Einführung der Pressezensur, die Schließung des Parlaments und nicht zuletzt auf die systematischen Folterungen und Verfolgung der Opposition auf Grund der Einführung eines zum Teil durch Unternehmen finanzierten Repressionssystems wie z.B. dem Geheim-dienst DOI-CODI in São Paulo. Der verminderte „Kostendruck durch die Löhne“ wurde durch die Politik der Lohnknebelung, dem arrocho salarial, und der völligen Ausschaltung der Gewerkschaften erreicht. Die völlige „Übereinstimmung zwischen Privatwirtschaft und Regierung“ führte zu einem gigantischen System von Steueranreizen für Privatinvestitionen, zu einem wirtschaftsfreundlichen „Investitionsklima“ und einem häufigen Wechsel von Militärs in die Vorstandsetagen der Unternehmen. Dass deutsche Lobbyist*innen und Unternehmensvertreter*innen damals mit Lobeshymnen aufwarteten, ist nicht verwunderlich. Besonders gemein ist es dann, wenn „der brasilianische Volkscharakter“ für die Rechtfertigung des Regimes heran-gezogen wird, wie etwa bei Erik von Kuehnelt-Leddihn, ein „österreichischer Gelehrter“, der im Auftrag der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft 1970 versucht, „das Brasilienbild Europas zurecht zu rücken“. Am Ende seines Artikels über „Brasilien-Klischee und Wirklichkeit“ fasst er zusammen: „Das Volk will essen, singen, tanzen, gut verdienen und sich bei Fußballspielen unterhalten. Der politische Streit ist für kleine Minderheiten da.“
Das Kapitel der Beziehung deutscher Unternehmen und Wirtschaftskreise zum Militärregime ist im Übrigen keineswegs aufgearbeitet. Der Wahrheitskommission in São Paulo liegt eine Liste einzelner Vertreter*innen deutscher Unternehmen vor, denen besondere Nähe zu Repressionsorganen nachgesagt wird und die Kommission wird voraussichtlich in ihrem Endbericht dazu Stellung nehmen.
Nachdem 1970 insgesamt 17 Mitglieder der katholischen Arbeiterjugend in Rio verhaftet wurden (ihnen wurde der Betrieb eines illegalen Radiosenders vorgeworfen), kam es in 60 Städten Europas – darunter zahlreiche deutsche Städte wie Köln, Düsseldorf, Bonn, Frankfurt, Berlin – zu Protestkundgebungen gegen die brasilianische Regierung. Das waren typische Solidaritätsaktionen im Deutschland der 70er Jahre. Eine zentrale Rolle spielten dabei katholische (und evangelische) Einrichtungen. Der Erzbischof von Recife, Dom Helder Camara, wichtigste Symbolfigur in Europa für den Widerstand gegen die brasilianischen Militärs, reiste mehrfach nach Deutschland und prangerte nicht nur das autoritäre Regime, sondern auch den wilden, ungerechten Kapitalismus an und trat für eine entschiedene Opposition ein. Ein Spendenaufruf für die Unterstützung Dom Hélder Câmaras trug damals auch die Unterschrift von Abgeordneten aus allen im Bundestag vertretenen Parteien, auch aus der Jungen Union und der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), dem Arbeitnehmer*innenflügel der CDU. In einer anderen Aktion, von der katholischen Zeitschrift PUBLIK organisiert, wurden 350.000 Deutsche Mark für die Unterstützung kirchlicher Gruppen in Brasilien gesammelt, heute äquivalent mit etwa 180.000 Euro.
Der Besuch hochrangiger Vertreter*innen der brasilianischen Diktatur wurde zwar von der deutschen Regierung freundlich empfangen, aber in der Öffentlichkeit auch von heftigen Protestaktionen begleitet, so z.B. 1970 gegen den brasilianischen Justizminister Alfredo Buzaid: jener furchtbare Jurist, der ausführlich in den Deutsch-Brasilianischen Heften über die demokratische Verfassung Brasiliens dozieren durfte. Bemerkenswert war dabei seine Definition des „subversiven Kriegs“, der auch in „einer sublimen Beeinflussung der Massenkommunikationsmittel sowie der Verbreitung von Drogen (existiert). Das Ziel dieser Art von Krieg ist es, Panik zu verbreiten, der Jugend ihren Enthusiasmus zu nehmen, die christliche Familie und die Bevölkerung mit Obszönität und Pornographie vertraut zu machen“ (Deutsch-Brasilianischen Hefte, Nr.1/74). Nachdem Buzaid zwei Strafanstalten in Nordrhein-Westfalen besucht hatte, veranlasste ihn der Enthusiasmus der gegen seinen Besuch protestierenden deutschen Jugend dazu, seinen Besuch frühzeitig abzubrechen und nach London weiter zu fliegen. Auch der von der Bundeswehr betreute Besuch einer 60-köpfigen Delegation der Escola Superior de Guerra (Kriegshochschule) im September 1972 wurde durch Proteste begleitet.
Das Dominikanerkloster Walberg bei Köln und die Kölner Gruppe von Amnesty International um den Volkswirt Peter Klein waren zentrale Schaltstellen der Solidaritätsbewegung mit Brasilien zu Beginn der 70er Jahre. Am 8.12.1972 fand das Brasilientribunal mit Zeitzeugen und Verfolgten des Regimes wie Clemens Schrage statt, moderiert vom WDR-Journalisten und Monitormoderator Casdorff. Ein „Verteidiger Brasiliens“ war der Gründer der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft H. Goergen. In einem mir vorliegenden Bericht des brasilianischen Geheimdienstes SNI (der in Deutschland über die brasilianische Botschaft ab 1970 tätig war) zu dieser Veranstaltung wird unter der Rubrik „Kommunismus“ die mangelnde Objektivität deut-scher Medien beklagt.
Auch die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialist*innen in der SPD (Jusos) engagierte sich in der Solidaritätsbewegung mit Brasilien, insbesondere Michael Müller, stellvertretender Jusovorsitzender, zuletzt Staatssekretär im Umweltministerium bei Sigmar Gabriel.
Militante Aktionen, wie die teilweise Besetzung der brasilianischen Botschaft am 16.1.1970 in Bonn, von Schüler*innen und der Bonner Kommune I aus Roleben waren eher selten. Der Revolutionäre Kampf (RK), die Gruppe in der in den 70er Jahren Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit agierten, plante 1971 im Vorfeld des Unabhängigkeitstags am 7.09.1971 die Besetzung des brasilianischen Generalkonsulats in Frankfurt. Die Aktion wurde aus Angst um die Gefährdung von Menschen abgeblasen, man beließ es beim Sprühen eines Abaixo a ditadura! (Nieder mit der Diktatur!) im Vorraum des Konsulats.
Ich selbst kam, nachdem ich 1968 bei der Sexta-Feira Sangrenta (Blutiger Freitag) eine Schussverletzung erlitten hatte, 1969 nach Deutschland und geriet wegen verschiedener Vorträge in Deutschland gegen die Militärs ins Visier der deutschen „Freunde der Militärs“. Von Angehörigen der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft als einer der „schlechten Brasilianer“ identifiziert, die im Ausland das Image Brasiliens beschädigen und verzerren wurde ich an die brasilianische Botschaft „gemeldet“, woraufhin mir der brasilianische Pass entzogen und ich als Papierloser in die Illegalität gedrängt wurde. Zugleich aber bekam ich von der evangelischen Kirche und von Politikern, wie beispielsweise dem SPD-Abgeordneten Karl Heinz Hansen aus Düsseldorf (später in der Zeit von Helmut Schmidt aus der SPD ausgeschlossen) Unterstützung und wurde jahrelang in Deutschland geduldet.
Während in Brasilien durch die Wahrheitskommissionen die Vergangenheit aufgearbeitet wird, führte die Frage nach der Auseinandersetzung mit der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft zur Initiative Nuncamais Brasilientage. Dabei geht es uns auch um die Aktualität, denn auch heute werden Menschenrechte hinter harte Wirtschaftsinteressen gestellt, Waffengeschäfte mit autoritären Regimen wie Saudi Arabien betrieben und nicht zuletzt im heute demokratischen Brasilien selbst sind die Einhaltung von Menschenrechten, die Bekämpfung von Folter und unmenschlichen Bedingungen in Gefängnissen nach wie vor aktuell. Solidarität und ein solidarisches Verhältnis zwischen Deutschland und Brasilien bleibt wichtig. ∎
Der Text erschien im Brasilicum Nr. 232. Nunca Mais - Brasiliens vergessene Militärdiktatur