Proteste in Brasilien: Eine Einschätzung
Brasilien steht seit einigen Jahren nicht mehr im Fokus der internationalen Solidarität - sicherlich eine Konsequenz erfolgreicher Armutsbekämpfung. Dennoch bleibt die strukturelle soziale Ungleichheit als gesellschaftliches Problem bestehen und manifestiert sich im Bau gigantischer Fußballstadien für die WM. Die Stadien in Fortaleza und São Paulo gelten als Symbol dieser Ungleichheit: Modernste Sportkomplexe, die direkt neben Favelas stehen. Die Protestwelle ist auch eine Empörung über die Prioritäten bei der Vergabe öffentlicher Investitionen. Es wird deutlich, dass die soziale Frage in Brasilien noch längst nicht gelöst ist.
Die brasilianische Jugend erhebt ihre Stimme und drückt ihre Empörung aus. Die letzten brasilianischen Regierungen hatten diese breite Unzufriedenheit nicht wahrgenommen. Es gibt ein Netz lokaler Komitees zur Fußball-WM, das seit Monaten auf die Risiken der WM aufmerksam macht. Von ihm ging der Protest allerdings nicht aus. Vielmehr war es eine Initiative, die sich gegen die Erhöhung der Tarife im Nahverkehr zu wehren begann, allerdings sehr schnell die Kontrolle über die Protestwelle verlor. Die brasilianische Jugend ist zwar mobilisiert, doch fehlt es an Strukturen, um klare Forderungen zu formulieren und Gespräche mit der Regierung zu führen. Die Nichtregierungsorganisationen im Land sind bisher nicht in der Lage, die spontanen Protestaktionen zu kanalisieren.
Ein wichtiger Aspekt sind die sozialen Netzwerke, über die alle Proteste initiiert wurden. Es besteht die Gefahr, dass die Protestwelle instrumentalisiert wird. Derzeit sind aus dem Umfeld der Proteste konservative Forderungen wie die Abschaffung des nationalen Sozialprogramms und die Senkung des Strafrechtsalter zu hören. Rechtsextreme Gruppen versuchen, die anfänglich gewaltlosen Protestaktionen in gewaltsame umschlagen zu lassen.
Gleichzeitig wird die Inkompetenz der öffentlichen Sicherheitskräfte deutlich. Sie sind nach vor stark von der bis 1985 dauernden Militärdiktatur geprägt und nicht in der Lage, angemessen auf die Protestaktionen zu reagieren. Die Polizeieinsätze schwanken zwischen unverhältnismäßiger Gewalt und »Laissez-faire«. Auch gibt es große Unterschiede zwischen dem Umgang mit den Protesten im Stadtzentrum und denen am Stadtrand. Als die Medien begannen, für die Proteste Partei zu ergreifen, zogen sich die Sicherheitskräfte in den Innenstädten größtenteils zurück. In der Peripherie werden die Proteste nach wie vor systematisch unterdrückt, dabei kommen sogar Schusswaffen zum Einsatz.
Das Ausmaß der Protestwelle hat die Präsidentin Brasiliens Dilma Rousseff zu einer Stellungnahme veranlasst. Dabei stellte sie klar, dass die sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung und nicht die Interessen der Wirtschaft im Fokus staatlicher Maßnahmen stehen müssten. Sie hat angekündigt, dass die Regierung gemeinsam mit Vertretern der sozialen Organisationen Lösungsansätze für die Vielzahl der sozialen Forderungen entwickeln wird. Die brasilianische Regierung beginnt, die Risiken von Großprojekten wie der Fußball-WM ernst zu nehmen. Die sozialen Bewegungen Brasiliens ihrerseits stehen vor der großen Herausforderung, die spontanen Proteste der brasilianischen Jugend zu bündeln, die soziale Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung zum Thema zu machen, die Manipulation der Proteste durch konservative Gruppen zu verhindern und Intoleranz und Gewaltexzesse zu verhindern. Die soziale Frage Brasiliens kann nur durch konsequente Sozialpolitik und strukturelle Reformen in Gesundheit und Erziehung überwunden werden. Die Kinderrechte haben gemäß Verfassung eine absolute Priorität. Diese muss nicht nur im Kontext der Fußball-WM, sondern auch im Rahmen der Olympischen Spiele von 2016 umgesetzt werden. Ohne konsequente Mobilisierung der brasilianischen Zivilgesellschaft wird dies kaum geschehen.
Djalma Costa, Vertreter der Vereinigung der brasilianischen Kinderrechtszentren im nationalen Kinderrechtsrat