DER FALL 4D

Das brasilianische Netzwerk zur Überwachung der Menschenrechte in Brasilien AMDH (ARTICULAÇÃO PARA O MONITORAMENTO DOS DIREITOS HUMANOS NO BRASIL) wird koordiniert von der landesweiten Bewegung für Menschenrechte MNDH (Movimento Nacional de Direitos Humanos), dem Netzwerk PAD (Processo de Articulação e Diálogo), dem ökumenischen Forum FEACT Brasil (Fórum Ecumênico ACT Brasil). AMDH begleitet Situationen von Menschenrechtsverletzungen durch das Projekt Menschenrechte in Aktion (“DH em Ação”) und fördert – in Partnerschaft mit dem CENTRO DE DIREITOS ECONÔMICOS E SOCIAIS (CDES) – Menschenrechtsmonitoring und Advocacy-Prozesse im Fall des 4º Distrikts (4D) von Porto Alegre, Rio Grande do Sul, Brasilien. Vertreter:innen der Netzwerke AMDH und PAD werden gemeinsam mit einem Vertreter der Menschenrechtsorganisation CDES aus Porto Alegre im September für Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit u.a. in Berlin sein.
| von Articulação para o Monitoramento dos Direitos Humanos no Brasil (AMDH)
DER FALL 4D

KONTEXTUALISIERUNG

Im Stadtgebiet von Porto Alegre liegt der 4º Distrikt (4D). Dieser ist eine städtische Region, die hauptsächlich aus ungeregelten Siedlungen/Besetzungen auf öffentlichem oder privatem Land besteht, deren Flächen zuvor nicht genutzt wurden oder untergenutzt waren. Diese Flächen sind nun von unzähligen Familien besetzt, die in Lebenssituationen extremer Vulnerabilität leben. Viele der städtischen Gebiete der 4D, obwohl sie rechtlich als Sondergebiete von sozialem Interesse (AEIS) eingetragen sind, warten seit Jahrzehnten auf eine öffentliche Wohnungsbau-, Boden- und Stadtregulierungspolitik. Diese Situation offenbart Anzeichen einer absichtlichen Prekarisierung, um den Wert des m² in dem Gebiet zu senken, damit der Immobiliensektor einen großen Teil des 4D-Gebiets erwerben kann, und um Gentrifizierungsmaßnahmen in der Region zu ergreifen, mit Programmen, die Vorteile und große Geldbeträge für den Immobilienmarkt mobilisieren.

Neben dem ungeregelten Landbesitz, der unsicheren Besitzverhältnisse und dem Fehlen grundlegender öffentlicher Dienstleistungen leben Tausende von Familien in diesen Siedlungen unter unzureichenden Wohnbedingungen (Außenwände aus nicht haltbarem Material, fehlendes Bad zur alleinigen Nutzung, übermäßige Verdichtung von Wohngemeinschaften) und ohne grundlegende städtische Infrastruktur (begrenzte Wasser- und Energieversorgung, fehlender Zugang zum Abwassersystem, fehlende nachhaltige städtische Regenwasserableitung).

Im Mai 2024 verlor die Mehrzahl der im Gebiet 4D lebenden Familien alles Hab und Gut, wurden obdachlos und zu Vertriebenen infolge des extremen Wetterereignisses, das durch außergewöhnlich starke Regenfälle im Bundesstaat Rio Grande do Sul ausgelöste wurde und welches das größte Hochwasser des Guaíba-Flusses/Sees zur Folge hatte, wodurch ein Teil der Stadt Porto Alegre überflutet wurde, einschließlich der Region 4D.

Laut von der Präfektur von Porto Alegre zusammengestellten Daten über die Auswirkungen des Hochwassers vom Mai 2024 waren im gesamten Stadtgebiet 160.210 Personen und 39.422 Gebäude betroffen. In den Stadtvierteln von 4D (Farrapos, Floresta, Humaitá, Navegantes und São Geraldo) waren 47.391 Personen betroffen,was 29,6% der Gesamtbetroffenen entspricht. [*]

Aber die Verwüstung war nicht nur auf die starken Regenfälle zurückzuführen. Das Regenwasser überschwemmte, drang in die Häuser tausender Familien ein und zerstörte diese, weil der Staat und insbesondere die Stadtverwaltung es versäumt hatten, das Hochwasserschutzsystem ordnungsgemäß instand zu halten (Defekte und unzureichende Abdichtung der Fluttore) und bereits bestehende Mängel in der Entwässerungsinfrastruktur zu ignorieren (nur vier der 23 Regenwasserpumpstationen waren in Betrieb, als die Überschwemmungen begannen). Selbst Wochen später, nachdem das Wasser in den meisten Gebieten der Stadt zurückgegangen war, hielten die Überschwemmungen in verschiedenen Teilen der 4D an, ohne dass dringende Maßnahmen ergriffen wurden, um das Wasser aus dem Gebiet abzuleiten, wie es mit der Installation mobiler Pumpen zur Beseitigung des Wassers in anderen Teilen der Stadt geschehen war. All dies und das Fehlen eines Präventions- und Aktionsplans zur Begrenzung der durch die Überschwemmungen verursachten Schäden verschlimmerte die ohnehin schon extrem gefährdete Situation noch weiter und führte zu unermesslichen und in vielen Fällen unumkehrbaren sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf das Leben der Menschen.

MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN

Die in den ungeregelten Siedlungen des 4D lebenden Familien werden weiterhin systematisch in ihren Rechten verletzt, u. a. weil es keine wirksamen Maßnahmen gibt, die die volle Entfaltung der sozialen Funktionen der Stadt ermöglichen, d. h. weil ihnen das Recht auf eine angemessene Stadt und eine gesunde Umwelt nicht garantiert wird, also das Recht auf städtische Grundstücke, auf Wohnraum, auf Umwelthygiene, auf städtische Infrastrukturen, auf Verkehr und auf öffentliche Dienstleistungen ebenso wie auf Arbeit und auf Freizeit.

Die Tatsache, dass die Bewohner:innen nicht mittels öffentlichen Maßnahmen unterstützt werden, die das Menschenrecht auf Stadt garantieren, und dass ihr Leben durch die Überschwemmung beeinträchtigt oder zerstört wurde, verdeutlicht die zahllosen sozio-ökologischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, unter denen diese armen, peripheren und gefährdeten Bevölkerungsgruppen der 4D leiden, für die der so genannte „Wiederaufbau“ äußerst schwierig sein wird, da viele von ihnen keinen Ort haben, an dem sie neu anfangen könnten, da ihre Häuser, ihr Hab und Gut, alles von den Fluten zerstört worden ist.

EMPFEHLUNGEN

(I) Dass der brasilianische Staat die umfassende Beteiligung der Gemeinschaften am Entscheidungsprozess und an der Umsetzung von Lösungen garantiere. Dies reicht von der Festlegung der Wiederaufbau-Investitionen bis hin zur Überwachung der Mittelverwendung im Rahmen des Programms für den Wiederaufbau der von den extremen Wetterereignissen (Überschwemmungen im Mai 2024) betroffenen Gebiete in Porto Alegre und im Bundesstaat Rio Grande do Sul.

(II) Dass der brasilianische Staat das Recht auf Teilhabe sowie das Recht auf freie, vorherigen und informierte Konsultation in Bezug auf Politiken und Programme der öffentlichen Hand zur ine Wiederansiedlung der Bewohner:innen der gemeinschaften von 4D garantiere.

(III) Dass der brasilianische Staat die Territorialität in den Wiederansiedlungsprogrammen für die von den Fluten im Mai 2024 betroffenen Bewohner:innen garantiere und diese dort vor Ort verbleiben.

(IV) Dass der brasilianische Staat das Klimanotstandsprogramm Programa de Frentes de Trabalho para a Emergência Climática umsetze, im Rahmen dessen Personen beschäftigt werden, die von den Klimaereignissen betroffen sind und deren Einkommenserwerb unterbrochen wurde. Diese könnten als Promotor:innen für solidarische Bürgerschaft agieren, mit Arbeitsstunden im Sozialbereich, die mit Mitteln der Bundesregierung (Ministerium für Arbeit und Beschäftigung) bezahlt würden und mit Hilfe und Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft, die im Bereich Arbeit, Beschäftigung, Einkommen und berufliche Qualifikation tätig sind, unterstützt werden.

(V) Dass der brasilianische Staat alle Gesetzgebungsverfahren zur Flexibilisierung der Umwelt- und Stadtgesetzgebung stoppt, die das brasilianische Forstgesetzbuch, das Umweltgesetzbuch des Bundesstaates Rio Grande do Sul und den städtischen Umweltentwicklungsplan von Porto Alegre (PDDUA) verändern würden.

(VI) Dem brasilianischen Staat wird empfohlen, konkrete und spezifische Maßnahmen – auf allen Ebenen der nationalen, bundesstaatlichen und kommunalen Regierung – zu ergreifen, die auf die Familien der ungeregelten Siedlungen der 4D abzielen, um:

(a) eine bundesstaatsübergreifende Stadtplanungspolitik zu entwickeln, um eine nachhaltige Stadtentwässerung zu implementieren, die sowohl nicht-strukturelle als auch strukturelle Maßnahmen gegen öffentliche Katastrophen (Überschwemmung, Überflutung, Überschwemmung) vorsieht,

(b) die Entwicklung und Umsetzung einer soliden föderalen Wohnungspolitik für die Bevölkerung mit geringem Einkommen voranzutreiben, um den Wohnungsbedarf zu decken, wobei sowohl das quantitative Defizit (neue Wohnungen als Ersatz für unbewohnbare Wohnungen) als auch das qualitative Defizit (unzureichende und sanierungsbedürftige Wohnungen) angegangen werden sollte, mit allgemeinem Zugang zu einer sicheren und erschwinglichen Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung. Außerdem soll eine Stadtpolitik gefördert werden, die in der Lage ist, die sozialen Funktionen der Stadt in vollem Umfang zu erfüllen und das Recht auf eine nachhaltige Stadt zu gewährleisten, also das Recht auf städtische Grundstücke, auf Wohnraum, auf Umwelthygiene, auf städtische Infrastrukturen, auf Verkehr und auf öffentliche Dienstleistungen, auf Arbeit und auf Freizeit für die heutigen und künftigen Generationen,

(c) eine öffentliche Stellungnahme zur Förderung einer interföderativen Wohnungspolitik sowie einer Boden- und Stadtplanungsregelung abzugeben, die die vollständige Verwirklichung des Rechts auf angemessenen Wohnraum als Bestandteil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard zugunsten aller Familien in irregulären Siedlungen im Gebiet der 4D, der Stadt Porto Alegre/Rio Grande do Sul, in der die Beteiligung verschiedener Gruppen (wie Schwarze, Menschen mit Behinderungen, Frauen, Jugendliche, Indigene, LGBTQIAPN+) an der Stadtplanung und an allen Phasen der Entwicklung von Wohnungspolitiken, -programmen und -projekten gefordert wird, damit die spezifischen Bedürfnisse jeder Gruppe angemessen berücksichtigt werden,

(d) alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die internationalen Ziel der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu erfüllen und den Zugangs zu angemessenem Wohnraum, zu grundlegenden Dienstleistungen und zur Urbanisierung zu garantieren,

(e) alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Zwangsräumungen aller gefährdeten Gemeinden in der 4D zu stoppen, die von der Räumung bedroht sind, und dass die Regionalkommission für Landlösungen des Gerichtshofs von Rio Grande do Sul (CRSF/TJRS) angerufen werde, um zu vermitteln und alternative Wohnmöglichkeiten in dem Gebiet zu garantieren.

// ARTICULAÇÃO PARA O MONITORAMENTO DOS DIREITOS HUMANOS NO BRASIL (AMDH)

// Übersetzung: christian russau