Plenum 2

Alles unter Kontrolle im städtischen Raum? Öffentliche Sicherheit und deren mediale Darstellung

Itamar Silva (IBASE)
Moderation: Tina Kleiber (Brot für die Welt) | Protokoll: Peter Zorn (KoBra)

Protokoll als PDF

 

Itamar Silva (IBASE) | Moderation: Tina Kleiber (Brot für die Welt)

 

Itamar Silva ist Direktor des Brasilianischen Institut für soziale und wirtschaftliche Analysen (IBASE). Das Institut steht den sozialen Bewegungen Brasiliens nahe. Wer also sollte besser Auskunft geben können über Motive und Hintergründe der Proteste im Sommer diesen Jahres in Brasilien? Und doch räumt Itamar Silva zu Beginn seines Vortrages ein: „Ich gehöre zur Fraktion derjenigen, die sagen, dass wir in Brasilien von den Protesten überrascht wurden.“ Neu sei gewesen, dass sich die etablierte, elitengesteurte Medienlandschaft mit den alternativen Medien einen Wettstreit um die Deutung der Demonstrationen geliefert habe.

Vielfältig und zugleich unübersichtlich erscheint das Spektrum der Ursachen, die die Menschen zu Massenprotesten in ganz Brasilien auf die Straßen getrieben haben. Die Kritik an den immensen Staatsausgaben für die Fußballweltmeisterschaft, an der Verbeugung des Staates vor der FIFA, an Vertreibungen und Selbstbereicherung der Eliten waren ein Aspekt unter anderen, weniger Ursache als Anlass, die zu den Massenprotesten führten. Auch auf die Frage, wer die Proteste getragen habe, kann (→ möchte) Itamar Silva nur mit einer vorläufigen, suchenden Einschätzung antworten. Es sei weniger die neue, in den Jahren der Lula-Regierung gewachsene Mittelschicht gewesen, als Teile der „alten“ Mittelschicht, die auf der Straße Investitionen in Bildung, Gesundheitsversorgung und öffentliche Infrastruktur eingefordert hätten. Und die Favelas? Wären ihre Bewohner in Massen mobilisiert worden, es hätte ein Erbeben gegeben, diagnostiziert Itamar Silva, der selbst in der Favela St. Marta in Rio de Janeiro geboren und aufgewachsen ist. Als Aktivist der Selbstorganisation in den Favelas kann Silva aber auch berichten, dass die Mobilisierung der Mittelschicht auf der Straße die Strukturen in den Favelas selbst weiter verändert und gestärkt habe. Parallel und verzögert hätten die armen, städtischen Bevölkerungsschichten Demonstrationen organisiert, mit dem Ziel, das Leben in den Favelas in die Mitte des urbanen Raumes zu tragen. In diesem Sinne hätten die Favelas und ihre Organisationen bei den Protesten gewonnen.

Zugleich sei die Gewalt auf der Straße von den klassischen Medien in einem typischen, ersten Reflex mit den Menschen in den Favelas in Verbindung gesetzt worden. Es seien jugendliche Krawallmacher, Vandalen und organisierte Verbrecher, die in die Schranken gewiesen gehörten, war zunächst die Botschaft der großen TV-Sender und Printmedien, die in Brasilien in den Händen von rund fünf Familien liegen. Die alternativen Medien hätten gegen dieses etablierte und für die Eliten funktionale Deutungsmuster erstmals erfolgreich einen Kontrapunkt setzen können. Sie haben die Aufmerksamkeit auf Forderungen, Themen und die Hintergründe der Proteste lenken und damit das Medienmonopol zumindest zeitweise aufbrechen können. Kanäle der Social Media, freie Radios und Printmedien hätten erstmals die Chance nutzen können, Druck auf die klassischen, hegemonialen und elitendominierten Medien auszuüben, um diese dazu zu zwingen, selbst für Meinungspluralität zu sorgen. Wenn am Ende die klassischen Medien auch gewonnen hätten und die Demonstranten weitgehend kriminalisieren konnten, so habe es doch einen ersten öffentlichen Wettstreit um Interpretationen und Deutungshoheit gegeben – und das war das eigentlich Neue bei den Protesten im Vergleich etwa zu den Massendemonstrationen aus Anlass des Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten Collor de Mello Anfang der 1990er Jahre.

Und dennoch: Letztlich sei es die Polizeigewalt gegen Journalist*innen etablierter Medienunternehmen gewesen, die diese zu einer differenzierteren Berichterstattung bewegt hätten. Erst durch die eigene Betroffenheit, habe der Druck der alternativen Öffentlichkeit Wirkung zeigen können und Raum für die Forderungen der Demonstranten und sich widerstreitende Narrative zur Definition dessen, was die erfahrene und dokumentierte Gewalt ausmache, eröffnet. Die Gewalt der Polizei und die Gegengewalt des „schwarzen Blocks“ habe damit für die sozialen Bewegungen, die überwiegend auf Gewaltlosigkeit setzten, eine ambivalente Wirkung entfaltet. Die reale und noch mehr die medial vermittelte Gewalt habe die Bevölkerung aufgerüttelt und Forderungen eine breite Öffentlichkeit verschafft, die seit Jahren artikuliert wurden.

Als Itamar Silva weiter über das Vorgehen der sogenannten Befriedungspolizei, den UPPs, in den Favelas spricht, wird deutlich, welches gesellschaftliche Gewaltverhältnis hinter den Einsätzen der Polizei bei den Protesten steht. Die Funktion der Polizei besteht darin die Armen in Schach zu halten. Als der Staat die Herrschaft in den Favelas an die Kommandos der Drogenmafia verlor, wurde mit militärischer Gewalt die Oberhoheit zurückerobert, gefolgt von den neugeschaffenen UPPs. Zwar hat die Etablierung der Polizeiherrschaft mit Blick auf die sportlichen Großereignisse 2014 und 2016 tatsächlich die Waffengewalt aus den von den UPPs kontrollierten Gebieten weitgehend verbannt und mehr Sicherheit im Alltag gebracht. Der Herrschaftsanspruch der UPPs gehe aber, so Silva, weit über die Wahrung öffentlicher Sicherheit hinaus und erstrecke sich auch auf die Kontrolle des sozialen Lebens in den Favelas. Die kommunale Selbstverwaltung stehe damit unter sicherheitspolitischem Vorbehalt. Es gehe eben nicht primär darum, die soziale Infrastruktur aufzubauen, sondern um die Eindämmung der Armut und der aus ihr hervorgehenden Bedrohung für die Eliten – oder eben um den Schutz des Olympischen Dorfes. In der Konsequenz vermischen nun die sogenannten „Sozialen UPPs“ die staatliche Aufgabe, öffentliche Sicherheit herzustellen, mit sozialer Fürsorge zum Zweck der Kontrolle. Das alles erinnert an die Armen- und Arbeitshäuser in Großbritannien Mitte des 19 Jahrhunderts, die Charles Dickens in seinen Romanen kritisierte. Wer arm ist, ist selbst schuld, soll gefälligst keine Unruhe stiften, sich in sein Schicksal fügen und arbeiten. Wer sich daran nicht hält, wird zur Arbeit gezwungen und weggesperrt. Kontrollierte Armut!

Und was geschieht zur Copa 2014? Es werde keine Wiederholung des Sommers 2013 geben, so Itamar Silva abschließend. Sicher werde aber die internationale Aufmerksamkeit der Copa für Demonstrationen genutzt werden, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahlen, die im Herbst 2014 anstehenden.