Forderung nach Aufklärung und Aufarbeitung von Scanias Verstrickung in die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur

Rede von Tilman Massa vom Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre am 13. Juni 2024.
| von Christian.russau@fdcl.org
Forderung nach Aufklärung und Aufarbeitung von Scanias Verstrickung in die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur
Welche mutmaßliche Mitverantwortung trug Scania an den Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur? Das Foto zeigt das Ex-Folterzentrum DOI-CODI in der Rua Tutóia in São Paulo. Foto: Christian Russau

Tilman Massa vom Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre hielt heute, am 13. Juni 2024, auf der virtuellen Hauptversammlung der Volkswagen-Tochter TRATON AG, zu der auch Scania gehört, eine Rede, in der er u.a. die Forderung nach Aufklärung und Aufarbeitung von Scanias Verstrickung in die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur erhob. KoBra dokumentiert den Teil der Rede mit Brasilien-Bezug:

"Wir fordern Sie dazu auf, endlich die Verstrickung von Scania in die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) historisch aufzuarbeiten und sich zu seiner Verantwortung gegenüber der brasilianischen Gesellschaft zu bekennen und um Entschuldigung zu bitten.

Die heutige Traton-Tochter Scania war mutmaßlich ebenso wie Volkswagen do Brasil in die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur verstrickt (siehe u.a. https://brasil.elpais.com/brasil/2014/09/08/politica/1410204895_124898.html ) Die brasilianische Tageszeitung Folha de São Paulo (siehe https://www1.folha.uol.com.br/mercado/2023/06/montadoras-criaram-lista-suja-de-funcionarios-na-ditadura-mostram-documentos.shtml ) erwähnt Scania unter den multinationalen, damals in Brasilien ansässigen Firmen, deren Fabrikleitung begann, mit der Abteilung für politische und soziale Ordnung (DOPS) zusammenzuarbeiten. Dies war die Abteilung der politischen Polizei der Militärdiktatur, welche Arbeiter*innen unterdrückt und bespitzelt hat. Die Unternehmen gaben die Namen und Informationen von Gewerkschaftsaktivist*innen an die Repressionsbehörden weiter. Die Beschäftigten wurden verfolgt, bespitzelt und entlassen. Die wegen ihrer Gewerkschaftsaktivitäten oder ihrer Sympathie für die Bewegung entlassenen Beschäftigten wurden auf die so genannte „schmutzige Liste“ gesetzt, die dazu diente, die künftige Arbeitsvermittlung ihrer Mitglieder zu verhindern.“

Bereits am 25.12.1994 publizierte die Tageszeitung Jornal do Brasil über Akten der Geheimpolizei DOPS, laut denen Scania 223 Streikende im Juli 1978 entließ – um sie sofort anschließend durchleuchten zu lassen und diese Infos – zumindest in einem Fall – direkt an die Geheimpolizei weiterzugeben.

Zudem wurden im Rahmen der Untersuchungen der Nationalen Wahrheitskommission Brasiliens in den Archiven des vormaligen Geheimdienstes Brasilien (Serviço Nacional de Informações – SNI). Dokumente gefunden, die die Zusammenarbeit von Industrie und Unternehmern mit den brasilianischen Repressionsorganen nahelegen. Den als Verschlusssache deklarierten Dokumenten ist zu entnehmen, dass als Mittelsmänner für die Industrie das Forschungsinstitut Ipês (Instituto de Pesquisas e Estudos Sociais) und die Industriemobilisierungsgruppe GPMI des Industrieverbands FIESP in São Paulo (Grupo Permanente de Mobilização Industrial da Federação das Indústrias do Estado de São Paulo) fungierten. Die Industrie- und Unternehmervertreter – unter ihnen bekannte Größen wie Volkswagen und Scania – hätten zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) diese zwei Institutionen finanziell gefördert, damit diese gemeinsam mit der Obersten Heeres Schule (Escola Superior de Guerra) einen „militärisch-industriellen Komplex“ gegen den Widerstand aufbauen.

Wer der Präsident dieses oben erwähnten Ipês war? Der damailige Präsident von Scania Brasil: João Baptista Leopoldo Figueiredo. Der 1910 in Santos geborene Bankier war Cousin des späteren SNI-Geheimdienstchefs und Militärpräsidenten João Baptista de Oliveira Figueiredo. Er wurde 1948 Präsident der 1916 gegründeten Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer São Paulo. Nach seinem Abschied 1967 wurde er Präsident von Saab-Scânia do Brasil und war zudem 1963 bis Mitte der 1970er Jahre Mitglied des Prüfungsrates (Conselho Fiscal) von Volkswagen do Brasil.

1961 gründete Figueiredo zusammen mit Gleichgesinnten das Forschungszentrum Ipês, das im Verdacht steht, zwischen 1961 und 1964 gezielt bei der Unternehmerschaft São Paulos Mittel für einen Umsturz gegen die Regierung von João Goulart gesammelt zu haben. Die US-amerikanische, unternehmerfreundliche Zeitschrift Fortune berichtete bereits ein halbes Jahr nach dem Militärputsch im September 1964 ausführlich unter dem Titel „When Executives turns Revolutionaries“ über die konspirative Arbeit des Ipês unter maßgeblicher Führung Figueiredos. Die Putschisten von 1964 nannten sich selbst „Revolutionäre“.

Figueiredos Verstrickungen in die Militärdiktatur gehen aber noch tiefer. So berichtet selbst die konservative Tageszeitung Globo im Jahr 2013 (siehe https://oglobo.globo.com/politica/o-elo-da-fiesp-com-porao-da-ditadura-7794152) in der historischen Rückschau über den Scania do Brasil-Präsidenten und das VW do Brasil-Prüfungsratsmitglied João Baptista Leopoldo Figueiredo, dass dieser in wichtiger Position persönlich Gelder für die Folterzentren von São Paulo gesammelt habe. Die beiden Globo-Journalisten José Casado und Chico Otavio urteilten in ihrem Bericht, es gebe zwar „keine genauen Zahlen“, aber es sei „bekannt, dass der Geldfluss für die Repression bedeutend war“. Die Journalisten nennen eine Handvoll Personen, die diese Sammlungen in der Unternehmerschaft von São Paulo organisiert hätten, darunter Figueiredo, langjähriges „Ehrenmitglied“ der AHK São Paulo, die auch vom bundesdeutschen Wirtschaftsministerium mit Geldern gefördert wird.

Bei den privaten Geldsammlungen ging es um die Finanzierung des Folterzentrums Oban, das ab 1970 DOI-CODI hieß. Dort wurden Untersuchungen von Historiker*innen zufolge 66 Menschen ermordet, 39 von diesen starben dort unter den entsetzlichen Qualen der Folter. Von weiteren 19 Menschen stammt ihr letztes Lebenszeichen, dass sie verhaftet und ins DOI-CODI verbracht wurden, von dort. Seither gelten sie als verschwunden.

Die Volkswagen AG hatte Professor Christopher Kopper beauftragt, die Verstrickungen von VW do Brasil in die Repressionsstrukturen der brasilianischen Militärdiktatur historisch aufzuarbeiten. Ende 2017 legte Christopher Kopper die Studie vor, 2020 einigte sich VW do Brasil vermittelt über die brasilianische Staatsanwaltschaft auf individuellen und kollektive Entschädigungszahlungen. Dies muss Scania nun auch umgehend in die Wege leiten. Dazu folgende Fragen:

  • Wann werden Sie sich zu Ihrer Verantwortung gegenüber der brasilianischen Gesellschaft bekennen und um Entschuldigung bitten?
  • Werden Sie eine unabhängige, wissenschaftlichen Untersuchung der Verstrickung von Scania in die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur in die Wege leiten? Wenn ja, wie genau? Wenn nicht, aus welchen Gründen?
  • Halten Sie etwa die bisherige Aufarbeitung als ausreichend? Wenn ja, aus welchen Gründen?
  • Werden Sie Entschädigungszahlungen prüfen? Wenn ja, wie sähe das Verfahren dazu aus? Wenn nicht, aus welchen Gründen?"

Die Antwort des Traton-Verantwortlichen (mündlich, hier Mitschrift): Wir sind uns dessen nicht bewußt und haben keine Kenntnisse darüber. Wir werden dies aber prüfen.