Das kleinere Übel
Zwei Wochen lang machen gut 100 Landlose aus verschiedenen Teilen des südbrasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul in der Industriestadt nördlich von Porto Alegre Wahlkampf für Luiz Inácio Lula da Silva.
Zum Beispiel Jurema Soares. Die 40-jährige wohnt mit Mann und zwei kleinen Töchtern in einem nahe gelegenen Camp der Landlosenbewegung MST. Als Müllsammlerin in Canoas sah sie keine Perspektive mehr, "weil die Konkurrenz zugenommen hat und wir immer weniger Geld bekommen haben". Nun wohnt die Familie unter schwarzen Plastikplanen an einer Autobahn und wartet auf ein eigenes Stück Land. Was sie sich von Lula erhofft? "Er ist besser als der andere", sagt die hagere Frau etwas verlegen.
Gesprächiger sind die zwei Koordinatoren des Wahlkampfteams. Im ganzen Bundesstaat engagieren sich jetzt 2.000 MST-Aktive für die Arbeiterpartei PT, berichtet der junge Paulo Mioranza, der selbst aus einer, wie er sagt, "bürgerlichen" Bauernfamilie stammt. In Canoas sorgt die Gewerkschaft für das Essen und den Transport, an anderen Orten die PT. Motiviert sind die Landlosen mit ihren "ganz unterschiedlichen Bewusstseinsniveaus" vor allem durch den linken Gouverneurskandidaten Olívio Dutra, der als Landesvater zwischen 1999 und 2002 immerhin 4.800 Familien angesiedelt hat. Der 65-jährige Schnauzbart, ein Weggefährte des Präsidenten seit den späten Siebzigerjahren, gilt als integre, gradlinige Integrationsfigur – ganz anders als jene Lula–Vertrauten, die sich in den vergangenen Jahren in diverse Korruptionsskandale verstrickt haben.
Wenigstens keine Repression
Doch die Landlosen kreiden Lula vor allem an, dass er ihre hoch gesteckten Erwartungen auf eine Agrarreform enttäuscht hat. Statt der 470.000 Familien, die während seiner ersten Amtszeit ein eigenes Stück Land bekommen sollten, seien es im ganzen Land bislang nur 150.000 Familien gewesen, sagt Mioranza. In Rio Grande do Sul waren es nicht einmal 400 – sechsmal so viele sind noch in Zeltlagern untergebracht. "Natürlich haben die Großgrundbesitzer in der Justiz und den Medien mächtige Verbündete", räumt der Aktivist ein. "Aber für Lula bleiben das Agrobusiness oder die Zelluloseindustrie wichtiger als die Kleinbauern." Warum er dennoch für den früheren Metallarbeiter stimmt? "Die Rechte versucht, die sozialen Bewegungen zu zerschlagen", sagt er bestimmt. "Lula verzichtet wenigstens auf Repression."
Am Vormittag schwärmen die Landlosen mit ihren roten PT-Fahnen und Wahlkampfmaterial in den Bezirk Guajuviras aus. 70.000 Menschen wohnen hier, ein Fünftel der Bevölkerung von Canoas. Tausende haben weder fließendes Trinkwasser noch Abwasserkanäle, in der Nachbarschaft zapfen sie die Stromleitungen an. Die Arbeitsmöglichkeiten sind minimal.
Die Wahlhelfer laden zum gemeinsamen Auftritt von Lula und Olívio Dutra am Nachmittag ein. Den Erwachsenen drücken sie bunte Flugblätter in die Hand, den Kindern Plastikfahnen, auf denen steht: "Ich tausche nicht das Sichere gegen das Zweifelhafte ein – ich will wieder Lula."
Für Eliane Souza ist schon jetzt klar: "Meine Stimme bekommt er." Umringt von ihren vier Kindern steht die alleinerziehende dunkelhäutige Frau vor ihrer Holzhütte. Wie elf Millionen arme Brasilianerinnen bezieht sie das staatliche "Familienstipendium" von umgerechnet 35 Euro im Monat, als Müllsammlerin verdient sie noch einmal 75 Euro dazu.
Mioranzas Kollege João Carlos Amaral beurteilt Lulas Hilfsprogramm, das sich jetzt in Millionen Wählerstimmen niederschlägt, kritisch. "Sicher, das ist besser als nichts – einerseits. Aber was haben die Leute aus den Elendsvierteln langfristig davon? Sie werden bequem, sie bleiben abhängig und unpolitisch." Auch deswegen werde es für die MST immer schwieriger, Nachwuchs in den Städten zu rekrutieren, so seine Erfahrung.
Auch Amaral setzt sich vor allem für Olívio Dutra ein, der Anfang der Neuzigerjahre als Bürgermeister von Porto Alegre den hoch gelobten Beteiligungshaushalt eingeführt hat – gerade die Einwohner der Armenviertel konnten dadurch zum ersten Mal bei der Vergabe der kommunalen Haushaltsmittel mitbestimmen. Am Präsidenten kritisiert der gelernte Lehrer und Journalist den "Messianismus und Populismus, die ständige Verklärung seiner Herkunft und seines sozialen Aufstiegs. Die Leute werden durch diese übertriebene Fixierung auf eine Führungsfigur entmündigt."
20 Prozent Vorsprung
Am 1. Oktober hat der 39-Jährige erstmals seit der ersten Direktwahl 1989 nicht für Lula, sondern für die Sozialistin Heloísa Helena gestimmt, die 2003 auf Betreiben von Lulas Mehrheitsströmung aus der PT ausgeschlossen wurde. Von den Regierungsrealos wurde die Senatorin, die der "bärtigen Majestät" Verrat an den Idealen der Arbeiterpartei vorhielt, lange als Moralistin belächelt. Doch solange sie im Rennen war, mied der Präsident die Fernsehdebatten – auch, weil er die Attacken Helenas mehr fürchtete als die seines Hauptrivalen, des rechtsliberalen Geraldo Alckmin.
Nun macht Amaral für Lula Wahlkampf, das "kleinere Übel". "Im Unterschied zu den letzten Monaten ist jetzt die Klassenfrage deutlich geworden", sagt er. Alckmin, dem Beziehungen zum katholischen Geheimbund Opus Dei nachgesagt werden, sei der "Kandidat der Reichen", sagt er. Ihre Distanz zu Lula demonstrieren die Landlosen gezielt, indem sie anders als noch vor vier Jahren auf ihre eigenen T-Shirts und Fahnen verzichten.
Neuesten Umfragen zufolge liegt der Amtsinhaber gut 20 Prozentpunkte vor dem ehemaligen Gouverneur von São Paulo. Besonders groß ist sein Vorsprung bei den Brasilianern mit niedrigem Einkommen, bei der schwarzen Bevölkerung und in den Bundesstaaten des armen Nordostens, doch zugelegt hat er in ganz Brasillien. Im Zweikampf mit dem trockenen Technokraten Alckmin konnte sich der frühere Metallarbeiter als "Mann des Volkes" profilieren – und als erfolgreicher Staatschef. 53 Prozent aller BrasilianerInnen findet die Arbeit seiner Regierung "optimal" oder "gut", hat das linken Sympathien unverdächtige Meinungsforschungsinstitut Datafolha soeben ermittelt – ein Rekordwert.
Polarisierende Rhetorik
In drei Fernsehdebatten parierte Lula, der an diesem Freitag 61 Jahre alt wird, die Angriffe seines Rivalen zunehmend souveräner. Keiner seiner Vorgänger habe sich im Kampf gegen die Korruption so engagiert wie er, behauptet der Staatschef. Und obwohl er in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kaum neue Akzente gesetzt hatte, gelang es ihm jetzt, Alckmin in die Defensive zu drängen. Der Parteifreund des früheren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) wolle die letzten lukrativen Staatsbetriebe privatisieren, warnte Lula immer wieder. In der Tat fiel die Hochzeit der Privatisierungspolitik in Brasilien in Cardosos Amtszeit, zugleich endete sie mit einer Rekordverschuldung der öffentlichen Hand.
Mit dieser polarisierenden Rhetorik dürfte Lula Millionen enttäuschter WählerInnen zurückgewinnen, die im ersten Wahlgang für Heloísa Helena, den ehemaligen PT-Bildungsminister Cristovam Buarque und selbst den Rechtskandidaten Alckmin votiert hatten. In Wirklichkeit jedoch sind die Gemeinsamkeiten bei den Programmen Lulas und denen seines Rivalen größer als die Unterschiede.
Diese Unterschiede hat die Linke in den vergangenen Wochen deutlicher hervorgehoben als je zuvor. "Ein Sieg Alckmins wäre ein Sieg der bürgerlichen Klasse, die mit den Interessen der internationalen Kapitals verbunden ist und das neoliberale Projekt in Brasilien festigen möchte", warnte etwa João Pedro Stedile, der Chefkoordinator und ideologische Kopf der MST. "Brasilien würde wieder stärker in den Einflussbereich der US-Regierung gerückt."
Nun steht fest: Die Offensive des rechtsliberalen Bürgerblocks, der praktisch von der gesamten Presse massiv unterstützt wurde, ist ins Leere gegangen. Nach einem regelrechten Triumphzug durch die Hauptstraße von Guajuviras kann es sich der siegessichere Präsident leisten, fast seine ganze Rede der Lage in Rio Grande do Sul zu widmen, wo eine Parteifreundin Alckmins gegen Olívio Dutra in Front liegt.
"Wir haben haben gezeigt, dass wir mit Liebe und Respekt für das Volk sorgen können", ruft Lula zum Abschluss seiner 20-Minuten-Rede, "für Schwarze, Weiße, Japaner, Indianer, Frauen, Männer, Kinder und Rentner." Die Inflation habe man im Griff, für Lebensmittel müssten die Menschen weniger Geld ausgeben als früher. "Nun müssen wir mehr Einkommen verteilen und mehr in die Bildung investieren."
Jurema Soares ist begeistert. "Jetzt weiß ich, was ich den Leuten erzählen werde", sagt die Frau aus dem MST-Camp. Auch João Carlos Amaral lächelt zufrieden. An der Wiederwahl des Präsidenten sei nicht mehr zu rütteln, meint er: "Unter Lula können wir besser an unserem eigenen Projekt arbeiten. Echte Reformen, die über Almosen hinausgehen, gibt es nur, wenn wir von unten Druck auf die Regierung machen." Im Bus, der sie zur Turnhalle in der Stadtmitte zurückbringt, singen die Wahlhelfer ausgelassen: "Wir werden dieses Land bekommen, unser Motto ist: besetzen, widerstehen, produzieren."