Der staatlichen Folter forensisch-archäologisch auf der Spur
In den Stadtteilen Vila Mariana und Paraíso schlängelt sich von der Avenida Brigadeiro Luís Antônio bis hin zur Avenida 23 de Maio die Rua Tutóia. Kommend von der Avenida Brigadeiro Luís Antônio zeigt sich bald zur linken Seite vor einem unscheinbaren Gebäude ein Parkplatz mit Polizeiwagen der Polícia Civil, denn das Gebäude selbst ist noch immer eine Polizeistation. Dieses Gebäude beherbergte in den Zeiten der sogenannten "bleiernen Jahre" der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) das Folterzentrum Oban, das ab 1970 DOI-CODI hieß. Dort wurden Untersuchungen von Historiker:innen zufolge 66 Menschen ermordet, 39 von diesen starben dort unter den entsetzlichen Qualen der Folter. Von weiteren 19 Menschen stammt ihr letztes Lebenszeichen, dass sie verhaftet und ins DOI-CODI verbracht wurden, von dort. Seither gelten sie als verschwunden. Forscher:innen der Universitäten von Unicamp, Unifesp und UFMG haben ab August forensische und archäologische Untersuchungen gestartet, die darauf abzielen, zusätzliche Belege für gewalttätige Praktiken und Menschenrechtsverletzungen in der Repressionsbehörde aufzudecken. Dabei wird es laut Medienberichten drei Aktionsbereiche geben: Ausgrabungen, forensische Untersuchung sowie eine öffentlich zugängliche Archäologie, wie die Forscher:innen es nennen, wobei letzteres die Durchführung von öffentlichen Führungen, Podiumsdiskussionen und Workshops bedeutet. Dazu wurden als erstes Lehrer:innen des öffentlichen Schulsystem eingeladen, an den Führungen teilzunehmen, um diese kontextsensibel zu schulen.
Die archäologisch-forensische Untersuchung fand zunächst vom 2. und 14. August dieses Jahres statt, dabei wurde nach Spuren gesucht, wie Inschriften an den Wänden, DNA-Proben, Blutflecken und Veränderungen an den Strukturen der DOI-CODI-Gebäude, deren Analyse den Forscher:innen helfen könnte zu verstehen, was dort während der Militärdiktatur genau geschah. Die groben Daten sind bekannt: 66 Ermordete. Aber die Forscher:innen wollen es genauer wissen, in welchem Raum oder noch draußen vor der Tür im Innenhof, oder ob im Keller oder den Sanitäranlagen fanden welche Verbrechen statt, vielleicht gelänge es ja sogar durch DNA-Analysen herauszufinden, wer sich in welchem Raume befand. Die Untersuchung der materiellen Umstände des Gebäudes erklärt, "wie die Unterdrückung in diesem Raum stattfand. Wenn wir sie genauer untersuchen, können wir alles entdecken, was an dem Gebäude verändert oder hinzugefügt wurde, um es zu einem Ort der Unterdrückung zu machen", erklärten die Forscher:innen gegenüber Medien.
Bereits im Jahr 2022 - nach vielen Jahren des zivilgesellschaftlichen Drucks, das Ex-Folterzentrum endlich als Erinnerungs- und Mahnort einzurichten, Jahre, in denen immer wieder von Seiten der Regierenden angeführt wurde, die anhaltende Nutzung des Gebäudes als Polizeistation verhindere eine archäologisch-forensische Analyse des historisch verbürgten Ort des Geschehens - gelang es der Forschungsarbeitsgruppe der drei Universitäten zum ersten Male, ihre Vor-Ort-Analysen durchzuführen. Mit Hilfe eines Geo-Radars konnte das Team der Forensischen Archäologie die Gebäude kartieren, um beispielsweise hinter Mauern versteckte Türen und Fenster zu identifizieren. Die bei dieser Gelegenheit gewonnenen Daten werden derzeit noch ausgewertet.
Da der Sitz des ehemaligen DOI-Codi von den staatlichen und kommunalen Denkmalschutzbehörden - Condephaat und Conpresp - unter Denkmalschutz gestellt wurde, mussten die Forscher:innen bei beiden sowie beim Nationalen Institut für historisches und künstlerisches Erbe - Iphan - eine Genehmigung beantragen, um die für die nächste Phase geplanten Eingriffe durchführen zu können. Die Genehmigungen wurden zwischen Dezember 2022 und Mai dieses Jahres erteilt. "Wir stellen uns vor, dass dies erst der Anfang ist. Da es nur wenige Tage sind, gibt es viel zu tun, und die Ressourcen können nicht mithalten. Wir stellen uns vor, dass wir durch diesen Prozess auch die wissenschaftliche Grundlage erhalten, um eine Ausweitung dieser Forschung zu beantragen", sagte Deborah Neves, die Initiatorin und Koordinatorin der Arbeitsgruppe kurz vor Beginn der Analyse im August dieses Jahres.
Deborah Neves, als Koordinatorin der interinstitutionellen Arbeitsgruppe des DOI-CODI-Memorials, sprach mit der Website Aventuras na História Neves nach der Analyseerhebung im August. Neves berichtet dort, dass im August mehr als 800 Personen während 12 Tagen im ehemaligen DOI-CODI-Hauptquartier an öffentlichen Führungen im Gebäude teilgenommen hätten, was für die Forscherin ein Zeichen ist, dass die Menschen immer noch daran interessiert sind, mehr über die Geschichte des Ortes zu erfahren. Neves ergänzte gegenüber der Website Aventuras na História, dass die durchgeführten Forschungen bahnbrechend auf diesem Gebiet seien. So gäbe es "noch keine Arbeit, die Archäologie und Architektur bei der Untersuchung eines Erinnerungsortes zusammengebracht hat. Wir arbeiten also mit der historischen Archäologie, d. h. mit der Öffnung zur Ausgrabung und Identifizierung von Materialien, die in dem Gebäude vorhanden sind, und mit der forensischen Archäologie, bei der es darum geht, genau diese Spuren der Nutzung des Gebäudes zu identifizieren", sagt sie. "Also die Inschriften und möglichen Blutflecken, die wir untersuchen, um zu sehen, ob es sich um solche handelt".
Die Historikerin stellt fest, dass die im Gebäude durchgeführten Probenahmen bisher erfolgreich waren und dass geplant ist, die Untersuchungen auszuweiten, vor allem um mehr über das Innere des Gebäudes (einschließlich der Zimmer, Flure und Bäder) und auch über das Äußere zu erfahren, da die Folter nach den Berichten, die dem Forschungsteam vorliegen, außerhalb des Gebäudes begann. Ein Hindernis ist jedoch die Beschaffung der finanziellen Mittel für die Durchführung der Untersuchungen. Das Team wartet also immer noch auf eine Finanzierung, um die Studie vor Ort auszubauen.
Dabei gibt es eine Dimension, die vor allem Leser:innen aus Deutschland gewärtig sein sollte: Das DOI-CODI wurde mutmaßlich auch mit Geldern deutscher Unternehmen wie Volkswagen finanziert. Der schlussendliche Beweis dafür konnte allerdings nie erbracht werden - was aber daran liegt, dass die Unterlagen des DOI-CODI vernichtet wurden.
Es geht dabei um die Frage, hat Volkswagen do Brasil – wie andere Firmen auch – dem Folterzentrum Operação Bandeirante (OBAN), ab 1970 berüchtigt unter dem Namen DOI-CODI, finanzielle oder Sachleistungs-Unterstützung zukommen lassen?
Der von Volkswagen 2017 beauftrage Historiker Christopher Kopper schreibt dazu (VW do Brasil in der brasilianischen Militärdiktatur. Eine historische Studie . Wolfsburg: Volkswagen AG. Kopper, Christopher. 2017, Seite 114): „Für die Vermutung, dass VW do Brasil den Betrieb eines Folterzentrums der Streitkräfte (DOI-CODI) materiell unterstützte, fanden sich keine eindeutigen Indizien. Eine indirekte finanzielle Beteiligung durch die Mitgliedsbeiträge an den Industrieverband FIESP ist ebenso möglich wie die kostenlose Gestellung von Fahrzeugen.“ Auf Seite 50 (a.a.O.) schreibt er: „Da keine Akten der OBAN überliefert sind, lässt sich die Frage nach ihrer materiellen Unterstützung durch die Autoindustrie im allgemeinen und durch VW im besonderen nur durch Zeugenaussagen von Angehörigen der OBAN klären. […] Da der Industrieverband FIESP die OBAN aktiv unterstützte und VW zu den größten Mitgliedern des Verbandes gehörte, erscheint eine direkte (durch die Gestellung von Fahrzeugen) oder indirekte materielle Förderung der OBAN (über die Mitgliedsbeiträge an die FIESP) durch VW do Brasil wahrscheinlich.“
Der brasilianische Gutachter Guaracy Mingardi geht da deutlich weiter. In seiner im Auftrag der Bundesstaatsanwaltschaft von São Paulo erstellten Studie (PESQUISA APLICADA A PARTICIPAÇÃO DA INDÚSTRIA PAULISTA NA REPRESSÃO POLÍTICA - O CASO VOLKSWAGEN. Relatório Final, Setembro de 2017) schreibt er auf Seite 63: „So bleiben keine Zweifel, dass es wirklich Unterstützung seitens Volkswagen für das [Folterzentrum] OBAN und vielleicht selbst für das [spätere so genannte Folterzentrum] DOI-CODI gegeben hat“.
Es gibt aber noch eine weitere Connection, die Volkswagen do Brasil mit dem DOI-CODI in Verbindung setzt: João Baptista Leopoldo Figueiredo, Cousin des SNI-Geheimdienstchefs (1974–1978) und späteren Militärpräsidenten João Baptista de Oliveira Figueiredo, wird vorgeworfen, in wichtiger Position Gelder für die Folterzentren gesammelt zu haben. Der 1910 in Santos geborene Bankier Figueiredo war 1948 Präsident der 1916 gegründeten Câmara Teuto-Brasileira de Comércio e Indústria de São Paulo, heute besser bekannt unter dem Namen Deutsch-Brasilianische Industrie- und Handelskammer São Paulo, geworden. 1966 hatte er diese verlassen, um Präsident von Saab-Scânia do Brasil zu werden. Von 1963 bis Mitte der 1970er Jahre war Figueiredo zudem Mitglied des Prüfungsrates (Conselho Fiscal) von Volkswagen do Brasil. 1961 gründete Figueiredo zusammen mit Gleichgesinnten das Forschungszentrum Ipês, das im Verdacht steht, zwischen 1961 und 1964 gezielt bei der Unternehmerschaft São Paulos Mittel für einen Umsturz gegen die Regierung von João Goulart gesammelt zu haben. Die US-amerikanische unternehmerfreundliche Zeitschrift Fortune berichtete bereits ein halbes Jahr nach dem Militärputsch im September 1964 ausführlich unter dem Titel "When Executives turns Revolutionaries" über die konspirative Arbeit des Ipês unter maßgeblicher Führung Figueiredos. Die Putschisten von 1964 nannten sich selbst "Revolutionäre".
Die beiden Globo-Journalisten José Casado und Chico Otavio urteilten, es gebe zwar "keine genauen Zahlen", aber es sei "bekannt, dass der Geldfluss für die Repression bedeutend war" und von Sammlungen unter der Unternehmerschaft von São Paulo vor allem für das DOI-CODI ausging. Diese Sammlungen erfolgten bei den donnerstaglichen Treffen der Unternehmerschaft São Paulo im Clube Paulistano, wo im Anschluss an das Treffen der Spendenhut ("a vaquinha") für die Finanzierung der Repressions- und Folterstrukturen des Staates herumging. Die Journalisten nennen eine Handvoll Personen, und einer derjenigen, die diese Sammlungen organisiert hätte, sei eben João Baptista Leopoldo Figueiredo, Prüfungsratsmitglied bei VW do Brasil, gewesen. Den 1989 Verstorbenen kann man heute nicht mehr zu seinen damaligen Tätigkeiten befragen. VW hat Ende 2020 zwar Entschädigungen an die vormals vom Konzern systematisch an die staatliche Repression der brasilianischen Militärdiktatur Ausgelieferten gezahlt, aber immer auf eine Einzeltäterthese verwiesen und die außergerichtlichen, da durch die Bundesstaatsanwaltschaft vermittelten Entschädigungen nicht als Schuldeingeständnis, sondern als eine Art good will versucht darzustellen. Die Unterstützung Volskwagen an das Folterzentrum DOI-CODI hat VW immer bestritten und tut dies noch heute. Gleiches gilt im Übrigen für die Übernahme historischer Verantwortung für die ehemaligen Sklavenarbeiter:innen der VW-Fazenda Rio Cristalino in Amazonien.