Einsatz für Menschenrechte als gelebte Solidarität

Der evangelisch-lutherische Pastor Heinz F. Dressel setzte sich jahrzehntelang für die Menschenrechte in Brasilien, Argentinien und Chile ein, stritt für das Bleiberecht der politischen Flüchtlinge, verschaffte ihnen Stipendien für Deutsch- und Unikurse und wurde für seine gelebte Solidarität mehrfach international geehrt. Am 4. August dieses Jahres ist Heinz F. Dressel im Alter von 87 Jahren in Nürnberg gestorben.
| von Christian Russau
Einsatz für Menschenrechte als gelebte Solidarität
Heinz F. Dressel. Foto: Christian Russau/"Nunca Mais"-Brasilientage 2014

Heinz Dressel, 1929 in Oberfranken geboren, arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in Deutschland in den Jahren von 1952 bis 1967 als Pfarrer in den evangelisch-lutherischen Gemeinden in São Leopoldo und Dois Irmãos im Bundesstaat Rio Grande do Sul. In späteren Interviews berichtete er oft, wie wenig er zu dieser Zeit und in der entlegenen Ländlichkeit von Dois Irmãos von den Realitäten der brutalen Militärdiktatur mitbekommen habe. In Dois Irmãos gab es damals wenige Informationen – und die Zeitungen berichteten darüber gar nicht. Erst 1967, so berichtete Dressel auf den 2014 in Deutschland und Brasilien abgehaltenen „Nunca Mais“-Brasilien-Tagen, die an das 50-jährige Datum des brasilianischen Militärputsches und die Repression erinnerten, habe er beim Gespräch mit einem exilierten Journalisten aus Brasilien erstmals erfahren, welche Gräueltaten die Repression in Brasilien verübte.

Dressel als historischem Zeitzeugen wird von Menschen, die ihn kannten oder seine Vita durch sein Wirken und seine Veröffentlichungen verfolgt haben, immer wieder seine Ehrlichkeit vor allem sich selbst gegenüber hoch angerechnet. Denn in seinem 1995 im ELA-Verlag erschienenen Buch „Brasilien von Getúlio bis Itamar: Vier Jahrzehnte erlebter Geschichte“ berichtete er über die Zeit in Brasilien und scheute sich dabei nicht vor schonungsloser Selbstkritik, wenn er ehrlich darüber berichtet, wie er zu Beginn den Militärputsch von 1964 befürwortete, da er die sogenannte „Revolution“ als Lösung zur Rettung Brasiliens vor dem Chaos ansah. Wie leicht wäre es für ihn gewesen, in seinem Rückblick geschichtsklitternd einige der eigenen, früheren Sichtweisen zu vergessen und unter den Tisch zu kehren, um ein glatteres Bild der eigenen Geschichte zu formen. Aber das tat er nicht, er beschrieb die erlebte Geschichte, eben so wie er sie wahrnahm. Und darin zeigte sich einmal mehr, dass es sein Drang nach Ehrlichkeit und Wahrheit war, was ihn als Persönlichkeit ausmachte und was für ihn wohl Triebkraft seines langjährigen Wirkens später als Leiter des Ökumenischen Studienwerks der EKD in Bochum war.

Die unzähligen LateinamerikanerInnen, die vor Repression und Folter aus den Militärdiktaturen nach Europa geflohen waren oder unter direkter tatkräftiger Unterstützung von Menschen wie eben Pastor Dressel nach Deutschland gelangen konnten und in Bochum erste Unterstützung empfingen, beschreiben Heinz Dressel vielfach als Teil ihrer Familie, eine Beschreibung, die er seinerseits auch erklärte. Heinz Dressel war klar, dass es – um Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten – dazu auch gelebter Solidarität bedarf. So wie es die MenschenrechtsaktivistInnen in der Bundesrepublik taten, die den aus Brasilien Geflohenen mit Rat und Tat zur Seite standen, in einer Zeit als die bundesdeutschen Behörden den aus Brasilien in die Bundesrepublik Geflohenen die Ausweisung androhten, da ihre Einreise „illegal“ erfolgt sei. Nur 2.000 Kontingentflüchtlinge wollte die damalige sozial-liberale Regierung in Bonn – und dies auch nur als Reaktion auf den massiven Druck von der Basis – aus Chile – aufnehmen.1 So wurde schon damals offensichtlich: Brasiliens repressive Polizei und Militärs standen mit westdeutschen Behörden auch während der Militärdiktatur in regem Austausch, nicht losgelöst davon ließ sich die Kooperation der Bundesrepublik Deutschland mit Brasilien in Fragen der 1975 geschlossenen Atompartnerschaft betrachten. Der bundesdeutschen Politik waren zu jener Zeit die guten politischen und Wirtschaftsbeziehungen zu Brasilien wichtiger als Fragen der Menschenrechte.

Das hatte dann Folgen für diejenigen, die vor der staatlichen Folter aus Brasilien geflohen waren, beispielsweise in die Bundesrepublik. Marijane Lisboa, Mitbegründerin von Greenpeace Brasilien und heute Universitätsprofessorin, war aus Brasilien über Chile, Mexiko und Belgien nach Deutschland geflohen. Die Erfahrungen mit hiesigen Polizei und Behörden waren demonstrativ einschüchternd. „Häufig, wenn wir im Zug fuhren, wurden wir gestoppt und verhört. Pastor Dressel und Amnesty Deutschland haben wiederholt dagegen protestiert, aber es scheint, dass die deutsche Polizei lieber auf die Informationen der brasilianischen Polizei und der deutschen Organisationen, die freundschaftliche Beziehungen mit der brasilianische Diktatur hatten, vertraut hat.“2

Erst durch das Engagement und den unermüdlichen Einsatz von Menschenrechtsaktivisten wie eben des Pastors Heinz F. Dressel gelang es den in die Bundesrepublik geflüchteten Brasilianern, endlich anzukommen, Stipendien zum Deutschunterricht zu erhalten, an den Universitäten zu studieren und eine zweite Heimat zu finden.3 Denn Dressel leitete von 1972 bis 1992 das Ökumenische Studienwerk e. V. in Bochum, das den aus Militärdiktatur und Repression Geflohenen diese Stipendien vergab und den Geflüchteten in gelebter Solidarität zur Seite stand.

Unter den von ihn betreuten Exilierten befand sich unter anderem auch Maria Auxiliadora Lara Barcelos. Dora, wie ihre FreundInnen sie nannten, hatte sich im März 1969 dem bewaffneten Widerstand der Stadtguerrilla VAR-Palmares angeschlossen. In der VAR-Palmares waren neben anderen Carlos Lamarca – als deren damals bekanntestes Mitglied – und der spätere Umweltminister Carlos Minc oder aber die spätere Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, aktiv. Die VAR-Palmares war vor allem durch den Raub eines Geldkoffers mit zweieinhalb Millionen US-Dollar aus dem Haus des als äußerst korrupt verrufenen Ex-Gouverneurs von São Paulo, Adhemar de Barros, bekannt geworden. Carlos Lamarca ließ nach dem erfolgreichen Raub des „Koffers von Adhemar“ über die Agentur Agence France Press verlauten, die Gruppe habe die schwarze Kasse des korrupten Ex-Gouverneurs sichergestellt und werde „das dem Volk über Jahre gestohlene Geld zurückgeben“.

Dora, ihr Freund Antônio Roberto Espinosa und der VAR-Mitkämpfer Chael Charles Schreier lebten zu der Zeit in der Nordzone von Rio de Janeiro, in einem Versteck im Stadtteil Lins de Vasconcelos. Doch der Vermieter denunzierte sie – und die Geheimpolizei der DOPS sowie Einheiten der Heerespolizei Polícia do Exército stellten die UntergrundkämpferInnen am 21. November 1969. Es kam zum Schusswechsel, die Agenten setzten Dora fest, aber Espinosa und Schreier schossen weiter aus dem Haus heraus. Espinosa berichtet hinterher im Film „Retratos de Identificaçao" der Dokumentarfilmerin Anita Leandro, dass die Geheimpolizisten Dora überredeten, sie solle wieder in das Haus gehen und die beiden anderen zur Aufgabe zu überreden. Dora wurde ins Haus zurückgeschickt – ergriff dort die nächstliegende Waffe und schoss erneut auf die PolizistInnen. Nach einem längeren Schusswechsel und dem Einsatz von selbstgebastelten Sprengkörpern wurden die drei verhaftet.

Alle drei wurden ins Foltergefängnis DOPS und dann auf das Militärgelände der 1ª Companhia da Polícia do Exército, in der Vila Militar im Stadtteil Deodoro gebracht. Chael Charles Schreier starb dort unter der Folter. Auch Dora wurde gefoltert. Monatelang. Bis am 7. Dezember 1970 der Botschafter der Schweiz, Enrico Bucher, von einer anderen Stadtguerrillagruppe, der Vanguarda Popular Revolucionária (VPR), in Rio de Janeiro entführt wurde. Im Austausch gegen den Botschafter wurden im Januar 1971 70 Gefangene freigelassen, des Landes verwiesen und nach Chile abgeschoben. Darunter befand sich auch Dora.

Dora lebte in Chile und nahm ihr zuvor wegen des Eintritts in die Illegalität abgebrochenes Medizinstudium wieder auf. Dann kam der 11. September 1973. Der Putsch in Chile gegen die Allende-Regierung. Dora flüchtete sich mit anderen in die mexikanische Botschaft. Dora, Marijane und andere konnten nach Mexiko ausreisen, aber Asyl gewährte ihr das Land nicht – so dass Dora und eine Gruppe von BrasilianerInnen, versehen mit einem Visum für Jugoslawien, den Weg über Belgien in ein Land antraten, das das politische Asyl uneingeschränkt in sein Grundgesetz geschrieben hatte, die Bundesrepublik Deutschland. Die Odyssee der Zwei-Mal-Geflohenen sollte in Köln vorerst ein Ende finden. Amnesty International und Pastor Dressel unterstützten Dora, Marijane und die anderen. Die Stipendien, die Heinz Dressel über das Ökumenische Studienwerk den Geflüchteten zukommen ließ, vergab er laut Erinnerungen von Marijane Lisboa bevorzugt an Frauen, wohl weil Dressel ahnte, dass die Frauen eifriger studieren würden und es besser sei, wenn sie über den Hauptteil des in den exilierten Familien verfügbaren Haushaltseinkommens bestimmen konnten, anstatt dies den Männern zu überlassen.

Pastor Dressel unterstützte sie bei den Asylanträgen, dennoch zog sich die Behördenbürokratie über mehrere Jahre hin. Schneller waren da die bundesdeutschen Polizeibehörden.

„Im Juni 1974 wurde ich zusammen mit zwei Genossen zur Ausländerpolizei in Bochum zitiert, wo man uns mitteilte, dass wir uns dreimal täglich beim nächstgelegenen Polizeirevier zu Kontrollzwecken zu melden hätten, und zwar während der 21 Tage der Fußball-Weltmeisterschaft, die in Deutschland stattfand. Nichterscheinen sollte zur Ausweisung aus dem deutschen Territorium führen. Wir fragten, woher diese Maßnahme käme, aber wir erhielten keine weiteren Erklärungen. Wir legten Widerspruch gegen diese Maßnahme ein (wobei die Anwaltskosten von der Kirche übernommen wurden) und verloren. Wir waren durch diese Maßnahme in unserem Studium ernsthaft beeinträchtigt, weil die Durchführung genau in die Zeit der Deutschprüfungen fiel. Außerdem konnten wir uns kein Spiel ansehen, wir mussten täglich drei Stunden laufen, um uns zu melden, einmal vor und zweimal nach dem Mittagessen.“ So steht es im Bericht4 von Maria Auxiliadora Lara Barcelos, der im Archiv des Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika dem Staub der Geschichte trotzt.

Die deutsche Ausländerbehörde schikanierte die Exilierten weiter. Zu suspekt waren den westdeutschen Behörden diese „Ex-Guerilleros“ aus Südamerika. Die Anfang der 1970er Jahre auch in der Bundesrepublik aufkommenden Debatten um Stadtguerrilla-Konzepte hatten die Behörden ja so alarmiert, dass das Standardwerk von Carlos Marighella, das „Handbuch des Stadtguerilleros“, in Deutschland zwar nicht wie in anderen europäischen Staaten verboten wurde, es aber für Polizei, LKA und BKA oft genug Anlass für Hausdurchsuchungen und Festnahmen war.5

Im Oktober 1974 bewarb sich Dora an der Freien Universität Berlin für das Studium der Medizin, das sie in Brasilien begonnen hatte. Sie zog mit Unterstützung von FreundInnen nach West-Berlin, aber die Behörde teilte ihr mit, sie sei illegal nach Deutschland eingereist und es werde jetzt ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Ab Mai 1975 wurde ihr das Verlassen West-Berlins untersagt, ihr in Chile zuletzt ausgestellter Pass lief im Juli 1975 ab – und die deutschen Behörden weigerten sich, ihr einen Pass auszustellen. Dora war damit praktisch staatenlos, wie viele BrasilianerInnen im bundesdeutschen Exil zu dieser Zeit. Hannah Arendt sah in dem Besitz einer Staatsbürgerschaft „das Recht, Rechte zu haben“. Staatenlos ist demnach gleichbedeutend mit rechtlos. Und Dora war laut Berichten von FreundInnen aus ihrer West-Berliner Zeit gezeichnet von der in Brasilien erlittenen Folter. Depressionen und psychische Probleme bewogen sie, sich in Behandlung zu geben.

Am 1. Juni 1976 starb Maria Auxiliadora Lara Barcelos auf dem Charlottenburger U-Bahnhof von Neu-Westend. „Für die Polizei war der Tod Doras ein klarer Fall von Selbstmord. In Wahrheit wurde Maria Auxiliadora von denen umgebracht, die sie sieben Jahre zuvor in brasilianischen Gefängnissen barbarisch gefoltert hatten“, schrieb Pastor Heinz F. Dressel späer, der im Juni 1976 in der Evangelischen Gemeinde von Neu-Westend die Trauerfeier für Dora hielt. „Die psychische Erkrankung war ohne Zweifel eine Folge der physischen und psychischen Qualen, welche die damals 25-jährige im Laufe ihrer Haft zu erdulden gehabt hatte,“ so Dressel im Rückblick.

Da Dora von der brasilianischen Militärdiktatur „auf Lebenszeit“ die Staatsbürgerschaft aberkannt worden und sie als Person „lebenslänglich aus Brasilien verbannt“ war, weigerte sich die Militärdiktatur, dem Wunsch der Familie von Dora zu entsprechen, ihren Leichnam zur Beerdigung nach Brasilien überführen zu lassen. Es war Pastor Dressel, der gegenüber der Botschaft insistierte und argumentierte, „auf Lebenszeit“ sei im Falle von Dora ja nun nicht mehr gegeben. Dieser überzeugenden Logik konnte sich dann selbst die Brasilianische Botschaft nicht mehr entziehen, so dass die Überführung dann doch erfolgen konnte.

Heinz F. Dressel wurde 2007 in Buenos Aires mit dem Orden de Mayo ausgezeichnet, im gleichen Jahr wurde er in Chile mit dem nach dem chilenischen Unabhängigkeitskämpfer Bernardo O'Higgins benannten Orden für seinen aktiven Menschenrechtseinsatz geehrt. Im Jahr 2008 wurde er vom Bundesstaat São Paulo auf Initiative des damaligen Gouverneurs, José Serra, mit dem Dressel bekannt war, da dieser ihn bei dessen Flucht ins Exil unterstützt hatte, mit dem Ipiranga-Orden ausgezeichnet. Ebenfalls 2008 wurde Dressel in Brasília mit dem Ehrenorden Rio Branco im brasilianischen Außenministerium Itamaraty geehrt. Der Zeremonie wohnte auch der damalige Präsident Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, bei.

All die Menschen, denen er in gelebter Solidarität in Bochum jahrelang zur Seite stand, vergaßen ihn nicht, hielten weiter Kontakt mit ihm. „Das war wie eine Familie“, wie Pastor Dressel es wiederholt nannte. Seit seiner Pensionierung hatte Heinz Dressel weiter zu Brasilien gearbeitet, geschrieben und veröffentlicht – und dabei immer sein Hauptthema, den Kampf für die Wahrung der Menschenrechte, verfolgt. So ist Heinz Dressel sich immer selbst treu geblieben, und war in seinem Leben und Werk, „auf meiner Wanderung an der Seite des brasilianischen Volkes, das ich vor über vierzig Jahren zuerst achten und bald auch lieben lernte“, wie es Dressel in seinem Buch „Brasilien von Getúlio bis Itamar“ selbst beschreibt, ein prominenter Zeitzeuge und wichtiger Akteur gelebter deutsch-brasilianischer Freundschaft. Dass er nun gegangen ist, ist ein großer Verlust.

 

1Fuchs, Jochen: „Ändere die Welt, denn sie braucht es“, in: Lateinamerika Nachrichten, Nummer 473 - November 2013, siehe http://lateinamerika-nachrichten.de/?aaartikel=aendere-die-welt-denn-sie-braucht-es

2https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/menschenrechte-gesellschaft/50-jahre-militaerputsch/marijane-lisboa-berichtet

3Siehe Russau, Christian: Putsch, Folter, Flucht – und dann Schikane. In den 1970er Jahren flüchteten Brasilianer_innen auch in die Bundesrepublik Deutschland. Hier trafen sie auf Behördenschikane – aber auch auf Solidarität, in: Lateinamerika Nachrichten, Ausgabe 478, April 2014, unter http://lateinamerika-nachrichten.de/?aaartikel=putsch-folter-flucht-und-dann-schikane

4FDCL-Archiv, Ordner Brasilien II (1972-1976).

5http://www.lai.fu-berlin.de/forschung/lehrforschung/1968_in_Lateinamerika/Marighella.html