Der Atomdeal und die Ungehorsamen
Am 27. Juni 1975 wurde das „Abkommen zwischen der Föderativen Republik Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie” unterzeichnet, es trat am 18. November 1975 in Kraft. Seit nunmehr knapp 39 Jahren kooperieren also Deutschland und Brasilien in der Nukleartechnologie. Während Gruppen aus Brasilien und Deutschland erneut die Kündigung des Abkommens fordern und die Bundestagsabgeordneten der Grünen in einer Kleinen Anfrage nach den Hintergründen des deutsch-brasilianischen Atomvertrags sowie nach der Positionierung der Bundesregierung zu diesem Sachverhalt fragen, dokumentieren wir hier den Hintergrundtext des Journalisten Frederico Füllgraf, der dem “deutsch-brasilianischen Bombengeschäft” seit Mitte der 1970er Jahre investigativ auf der Spur ist.
Der Atomdeal und die Ungehorsamen
Von Frederico Füllgraf
Die atomare Umarmung zwischen Deutschland und Brasilien prägte zwanzig Jahre lang mein Leben, beruflich und politisch. Sie bedeutete umfassende publizistische Tätigkeit und intensive politische Aktivität, zunächst in Westeuropa, später am AKW-Standort Angra dos Reis, in Brasilien, und von dort aus nach Hiroshima, Nagasaki, Washington und New York.
Dies bedeutete aber auch Belästigungen durch Geheimdienste. Der „Sicherheits-Beauftragte“ an der Deutschen Botschaft in Brasília beispielsweise wollte den Nachweis, brasilianische Militärs seien in deutschen Atomforschungsanlagen eingesickert. Ein Mann in ähnlicher Funktion im Generalkonsulat der USA in São Paulo wollte wissen, ob ich helfen könne, verschwundene russische Atomsprengköpfe im Irak ausfindig zu machen. Beim Kaffee konterte ich, die CIA arbeite schlampig, und prinzipiell reagiere ich als investigativer Journalist eben ungehorsam – no deal, sir!
Die Unterzeichnung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags vom Juni 1975 – der mittels deutscher Technologie den Bau von acht Atomkraftwerken, einer Anreicherungs- und einer Wiederaufbereitungsanlage in Brasilien vorsah – habe ich in Erinnerung als publizistischen „Vergeltungsschlag“: Die „Bombe“ wurde synchron gezündet mit dem aus Wyhl auf die gesamte Bundesrepublik überschwappenden Protest gegen die Atomenergie. Umso vehementer stellte sich die Regierung hinter die Atomindustrie für die Ausbreitung der gefürchteten Technologie in den damaligen, zumeist autoritären und diktatorischen „Schwellenländern“ Südafrika, Iran, Argentinien und Brasilien.
Fast vierzig Jahre danach, sehe ich die Schlagzeilen und Presse-Meldungen lebendig vor Augen, die Wochen lang das Auftragsvolumen von zwölf Milliarden DM als „Jahrhundert-Geschäft“ feierten. Es feierte die Atomindustrie, angeführt vom Kernkraftbauer Siemens-KWU – doch die Medien feierten mit. Auch der Staat, damals regiert vom sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt.
Das „Jahrhundertgeschäft“ war zur „Staatssache“ erklärt worden – von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa der damaligen Frankfurter Rundschau – setzte es den geheiligten Pluralismus-Begriff außer Kraft, verordnete die Gleichschaltung der Presse und reduzierte Westdeutschland zur Republik der atomaren Einhelligkeit; die IG-Metall mit im strahlenden Boot. Über die Gleichschaltung der Medien bei der Verteidigung des Atomgeschäfts schrieb ich 1980 schließlich meine Magister-Arbeit am IfP-Institut für Publizistik der FU Berlin.
Was mir – als wenige Jahre zuvor aus Brasilien eingereister und nach Demokratie lechzender junger Mensch – nicht in den Schädel passen wollte war: Wie konnte nur die deutsche SPD ein solches Geschäft mit der Diktatur in Brasília unterzeichnen?
Vage erinnerte ich mich, dass Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition Kurt G. Kiesingers bereits 1968 die Unterzeichnung eines Abkommens zur wissenschaftlich-technischen Kooperation in Brasilien mit dem Ziel vorbereitet hatte, Nukleartechnologie dorthin zu liefern. Auf der Grundlage des „Lei de Segurança Nacional“ (Gesetz der Nationalen Sicherheit) regierte Junta-General Artur da Costa e Silva das Land im Ausnahmezustand auf Dauer. Willy Brandt, ehemaliger Widerstandskämpfer gegen Hitler, schenkte ihm eine goldene Uhr.
Waren Brandt und waren 1975 seinem Parteifreund und Nachfolger, Helmut Schmidt, die Ausschaltung des ihnen so teuren demokratischen Rechtsstaats, die drakonische Medienzensur, die Unterdrückung der Gewerkschaften, die geheimen paramilitärischen Todeskommandos, die Folterzentren, die Folter-Opfer, das Schicksal hunderter politischer Häftlinge etwa nicht bekannt? Oder nichts wert?
Bei der Verteidigung seines atomaren „Jahrhundertgeschäfts“ schaute zumindest das offizielle Deutschland von den Verbrechen seines Geschäftspartners weg.
Die ersten Warnungen vor den unfriedlichen Absichten des Atomgeschäfts stammten vom in Köln exilierten deutschbrasilianischen Biologen und Freund, Clemens Schrage, der 1968 als Mitglied der linkskatholischen Organisation Ação Popular in São Paulo verhaftet und Monate brutal gefoltert worden war. Als er 1969 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, weckte sein Fall sofort das Interesse der deutschen Sektion von Amnesty International und Verbänden der Katholischen Kirche.
Als erste Ungehorsame der Helmut-Schmidt-Republik protestierten folglich die Arbeitsgemeinschaft Katholischer Studenten- und Hochschulgemeinden (AGG) und die Brasilien-Koordinationsgruppe von Amnesty International (AI) gegen das Atomgeschäft. Ihr Offener Brief an die Bundesregierung und die brasilianische Botschaft in Bonn verwies auf die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, und warnten bereits 1976 vor der Möglichkeit des militärischen Missbrauchs der deutschen Technologie. Auch widersprach sie der von den deutschen Medien kolportierten Darstellung, der Atomvertrag solle „Brasiliens Energiebedarf decken“. Dieser war Mitte der 1970er durch ein breites Angebot an Wasserkraftwerken gedeckt, außerdem beeilte sich die Diktatur, den Bau des nach Assuan weltgrößten Itaipu-Staudamms vorzubereiten.
Der Kampagne schlossen sich auch Verbände der Jusos in der SPD an, Ende 1976 dann der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), womit Menschenrechtsverteidiger_innen, progressive Kirchenmitglieder und Umweltaktivist_innen zum ersten Mal an einem politischen Strang zogen.
In Köln und Düsseldorf kam es zu Demonstrationen, doch SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn und seinen Polizeieinheiten gefielen Parolen wie „Völkermorde und KZ findet der Herr Geisel nett“ gar nicht , also wurden die Demonstrant_innen protokollmäßig niedergeknüppelt.
Spätestens zwei Jahre nach der Vertragsunterzeichnung flammte auch in Brasilien der Widerstand auf. Die Front reichte vom Berufsverband der Physiker (SBF) über Umweltschützer_innen bis zum Parlament in Brasilia.
Aufgeschreckt durch Gutachten der SBF über die die Auslandsverschuldung belastenden Kosten und – nicht zu fassen! – die Erdbeben-Gefahren am Standort Angra dos Reis (wo der US-amerikanische Westinghouse-Konzern bereits das AKW Angra 1 baute), nutzte der brasilianische Senat 1978 seinen extrem engen Spielraum und berief eine Parlamentarische Untersuchungskommision unter Führung des späteren Staatspräsidenten Itamar Franco (1992-1995) ein, die den Anfang vom Ende des Atomgeschäfts einläutete.
Im zufälligen Zusammenwirken der brasilianischen Widerstände und US-Präsident Jimmy Carters lautstarker Kampane gegen die Weiterverbreitung von Wiederaufbereitungsanlagen, erblickten die Schmidt-Regierung und die Atomindustrie eine „konzertierte Störungsaktion“. Was nicht stimmte, denn „die Feinde deiner Feinde sind nicht unbedingt deine Freunde“, sagt ein geflügeltes Sprichwort.
Über diese Untersuchungskommission drehte ich 1979 eine Reportage für Hanns Werner Schwarzes ZDF-Magazin „Kennzeichen D“. Zum ersten Mal erfuhren die deutschen Fernseh-Zuschauer_innen, deren Steuergelder die Hermes-Bürgschaft des Atomgeschäfts finanzierten, dass das Parlament, die Wissenschaftler_innen – geschweige denn die ahnungslose Bevölkerung – im fernen Brasilien nicht gefragt worden waren, ob sie die Atommeiler haben wollten.
Es kam aber noch dicker in der Sendung. Jahrelang hatte der deutschbrasilianische Unternehmer Kurt Rudolf Mirow der Vertragskonstruktion Kartellabsprachen unterstellt und mir die Kopie einer Bestätigung aus dem Bundeskartellamt zugespielt. Als der darauf angesprochene Inspekteur stur behauptete, sein Amt habe solche Absprachen „niemals beweisen können“, zog ich vor laufender Kamera den von ihm selbst unterzeichneten Beweis aus meinem Notizbuch. Der kreidebleiche Beamte stotterte nur – die Reportage war damit beendet. Der für die Sendung zuständige Redakteur Hanns Werner Schwarze befürchtete Ärger mit der Atomindustrie und nannte mich einen „provozierenden Rotzlöffel“ – das Interview ging jedoch auf Sendung.
Zwei Jahre zuvor hatte mir die kritische WDR-Redakteurin Brigitte Granzow die Produktion eines Radio-Features angeboten, das in Nordrhein-Westfalen und anschließend von der Kultur-Redaktion Hanspeter Krügers im damaligen SFB (heute RBB) mit dem Titel „Das deutsch-brasilianische Bombengeschäft“ ausgestrahlt wurde. Den Sendern ging eine Flut von Hörer_innenbriefen mit Manuskript-Anfragen, aber auch zornige „Gegendarstellungen“ der Atomindustrie zu.
Mein Hauptinteresse am „Atomgeschäft“ galt aber von Anbeginn den Spuren einer Höllenmaschine: Die deutsche Zentrifuge für die Urananreicherung. Aus längst vergilbten brasilianischen Quellen in der Bibliothek des alten Iberoamerikanischen Instituts in Lankwitz hatte ich erfahren, dass Paul Harteck und Wilhelm Groth, Physiker aus Hitlers Uranverein, 1952 mit einer chiffrierten Überweisung der Dresdner Bank von 80.000 Dollar (heutiger Wert rund 0,51 Mio. Euro) im Geheimauftrag des brasilianischen Admirals Álvaro Alberto zwei Ultrazentrifugen für die Urananreicherung bauten. Die wurden zwar von den Alliierten beschlagnahmt und erst 1954 verschifft – und wurden dann jahrelang als „obsolete Teigmixer“ belächelt. Aber dennoch waren sie als Kernstück des in den 1970er Jahren in Brasilien wiedererwachten militärischen Interesses an der Atomenergie zu verstehen. Warum? Weil das von Professor Erwin Becker im Kernforschungszentrum Karlsruhe entwickelte, sogenannte Trenndüsenverfahren nur mäßig getestet vor allem für Anreicherungsstufen über 20 Prozent (Stufengrenze für AKW-Brennstoff) völlig ungeeignet war. Spätestens seit den 1950er Jahren waren sich deshalb Physiker_innen weltweit darüber einig, dass die im Auftrag Hitlers Reichwaffenamtes von Harteck und Groth entwickelte Ultrazentrifugen-Technologie der effektivste und schnellste Weg zu hoch angereichertem und damit Bomben reifen U-235 war.
Die Militärs wurden hellhörig. Der Admiral a.D. Othon Pinheiro begann mit dem Aufbau des sog. „parallelen“ – neben dem „Atomgeschäft“ – insgeheim entwickelten militärischen Atomforschungsprogramm. Gegenüber TV-Globo gab er unlängst zu, die „alten (Harteck/Groth-, Anm.d.Red.) Zentrifugen betriebstauglich“ gemacht und den Atomwaffensperrvertrag mit „meias verdades“ (halben Wahrheiten) unterlaufen zu haben.
Diese Tauglichkeit war bereits 1979 Gegenstand einer unvergesslichen Begegnung mit Professor Alfred R. Boettcher, den ich während eines Wissenschaftler_innen-Kongresses in Berlin zum Abendessen in einer Szenekneipe am Charlottenburger Savignyplatz überreden und bei laufendem Tonband über seine Rolle als Direktor des Internationalen Büros des Kernforschungszentrums Jülich im BMT-Bundesforschungsministerium – interviewen durfte.
Während der Professor ein Lob auf unsere dritte Flasche Edelzwicker sprach (Boettcher war Badener), provozierte ich seine Eitelkeit: „Die Amerikaner haben die Zentrifugen als minderwertige Schokoladen-Mixer abqualifiziert – stimmt das?“. „So ein Quatsch!“, konterte der Atom-Mann und sagte mit feurigen Augen: „Die reicherten nicht nur gut, sondern sehr hoch an – über 70 Prozent!“.
Also bombenträchtige Zentrifugen – da hatte ich endlich das Bekenntnis! Die alte Tonkassette ist ein Relikt und würde unter Historiker_innen wohl als Devotionalie gehandelt.
Der Harteck/Groth-Deal von 1952 verkörperte gewissermaßen den Beginn der geheimen Zusammenarbeit und Prof. Boettcher deren historische Kontinuität.
Doch was hatte Prof. Boettcher damit zu tun? Als ausgebildeter Physiker und Hauptsturmführer SS hatte Boettcher 1944 den Auftrag, in den kriegsbesetzten Niederlanden die Labore der Universität Leiden zu plündern und dort Kollaborateur_innen für Hitlers Atombomben-Forschung zu rekrutieren. Daraus entwickelte sich seine enge Beziehung zum niederländischen Atomwissenschaftler Jakob Kistemaker, den Boettcher und Wilhelm Groth – in den frühen Nachkriegsjahren nun in der Firma Degussa – zum Strohmann des späteren europäischen Urananreicherungs-Unternehmens Urenco aufbauten und damit die verdächtige Zentrifugen-Entwicklung in ein „Drittland“ auslagerten.
Mit dieser Vita trat Professor Boettcher als wissenschaftlicher Leiter der Werbemission Willy Brandts 1968 in Brasilien auf und koordinierte ab 1969 die Ausbildung brasilianischer Atomtechniker_innen in Jülich und Karsruhe.
Als wir uns 1979 trafen, war der Professor längst respektierlicher Agent jener abseits des Atomwaffen-Sperrvertrags im weltweiten nuklearen Untergrund agierenden, gespenstischen Bruderschaft der Omega-Men, wie in Richard Mathesons Endzeit-Roman Ich bin die Legende.
Vor dem Hintergrund des technologisch rundum autonomen brasilianischen Atomprogramms könnte die Forderung nach „Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomgeschäfts“ – das längst auf die „proaktive“ Schiene der Kooperation auf dem Gebiet erneuerbaren Energien hinübergerettet wurde – in Brasíla eventuell ein sardonisches Lächeln zur Folge haben: Strategische Interessen Brasiliens werden davon mittlerweile nicht mehr berührt.
Frederico Füllgraf ist Gründungsmitglied des FDCL und Autor des bisher in Deutschland unveröffentlichten Buches A bomba „pacífica“ – O Brasil e outros cenários da corrida nuclear (Die ´friedliche´Bombe – Brasilien und andere Szenarien des atomaren Wettlaufs – São Paulo, 1988). Von 1990-1991 koordinierte er als Stipendiat der Stiftung Ashoka am AKW-Standort Angra dos Reis ein Bildungsprojekt über AKW-Sicherheit und Strahlungsgefahren. Als Gast-Referent des japanischen Gensuikin-Japanese Peace Movement besuchte er 1986 Atombomben-Überlebende in Hiroshima und Nagasaki. Er gehört zu den Mitbegründer_innen des Netzwerkes International Radiation Victims, das 1987 in New York seine erste weltweite Konferenz nach dem Tschernobyl-Supergau abhielt.
Hinweis: Brasilien 2014 – 50 Jahre nach dem Militärputsch: Am 31. März 2014 jährt sich der Militärputsch in Brasilien zum fünfzigsten Mal. In den über 20 Jahren Diktatur waren Repression, Folter und das „Verschwindenlassen“ von Gegner_innen der Militärregierung an der Tagesordnung. Die Initiative Nunca Mais – Nie Wieder organisiert in diesem Rahmen eine mehrmonatige Veranstaltungsreihe: die „Nunca Mais Brasilientage“. Von März bis Juni 2014 wird es Filmreihen, Ausstellungen, Veranstaltungen, Workshops und Gesprächsrunden mit namhaften Expert_innen und Zeitzeug_innen geben.