Der Fall Ilha de Maré

Das brasilianische Netzwerk zur Überwachung der Menschenrechte in Brasilien AMDH (ARTICULAÇÃO PARA O MONITORAMENTO DOS DIREITOS HUMANOS NO BRASIL) wird koordiniert von der landesweiten Bewegung für Menschenrechte MNDH (Movimento Nacional de Direitos Humanos), dem Netzwerk PAD (Processo de Articulação e Diálogo), dem ökumenischen Forum FEACT Brasil (Fórum Ecumênico ACT Brasil). AMDH begleitet Situationen von Menschenrechtsverletzungen durch das Projekt Menschenrechte in Aktion (“DH em Ação”) und fördert – in Partnerschaft mit der Quilombola-Vereinigung der Fischerinnen und Fischer von Bananeiras (ASSOCIAÇÃO QUILOMBOLA DE PESCADORAS E PESCADORES DE BANANEIRAS) – Menschenrechtsmonitoring und Advocacy-Prozesse im Fall der Ilha de Maré, Salvador, Brasilien. Vertreter:innen der Netzwerke AMDH und PAD werden gemeinsam mit Führungspersonen der betroffenen Gemeinschaft im September für Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit u.a. in Berlin sein.
| von Articulação para o Monitoramento dos Direitos Humanos no Brasil (AMDH)
Der Fall Ilha de Maré

KONTEXTUALISIERUNG

Die Ilha de Maré befindet sich im Munizip von Salvador, im Bundesstaat Bahia, in der Bucht Baía de Todos os Santos und in der Nähe der Bucht von Aratu. Sie umfasst ein Territorium von 11 Km². Laut dem Zensus des IBGE von 2010 lebt dort eine Bevölkerung von 4.236 Bewohner:innen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch Fischerei, Tourismus und Kunsthandwerk bestreiten. Dieses Gebiet ist das Viertel mit dem höchsten Anteil an Menschen, die sich in Salvador als Schwarz bezeichnen (93%).

Das Territorium der Ilha de Maré teilt sich gegenwärtig in 11 Quilombola- und Fischerei-Gemeinschaften auf: Neves, Itamoabo, Santana, Botelho, Porto dos Cavalos, Praia Grande, Maracanã, Bananeiras, Caquende, Ponta Grossa und Martelo. Von diesen sehen und auto-deklarieren sich sechs als Quilombola-Gemeinschaften, vier von diesen sind durch die Fundação Cultural Palmares (FCP) anerkannt und durchlaufen gerade die Phase der territorialen Anerkennung durch die Agrarreformbehörde Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária (INCRA). Die Landtitulierung ihrer Territorien ist einer der zentralen Aspekte der Forderungen dieser Gemeinschaften, denn die fehlende formale Anerkennung ihrer Gebiete macht sie anfällig für Enteignungen und das Vorantreiben von Industrie- und Immobilienprojekten.

Des Weiteren sind das Ökosystem des Einzugsgebiet der Ilha de Maré sowie das Territorium derselben und deren Bewohner:innen – obwohl das Gebiet vom Munizip als Ökologisches Schutzgebiet anerkannt wurde und zum Umweltschutzgebiet der Baía de Todos os Santos gehört – , seit Jahrzehnten dem Vormarsch großer Hafen-, Industrie-, Öl- und Petrochemiekomplexe ausgesetzt und davon betroffen, ebenso wie von der entsprechenden Konzentration umweltverschmutzender und kontaminierender Aktivitäten, die verschiedene sozio-ökologische Auswirkungen und Menschenrechtsverletzungen verursachen.

In diesem Zusammenhang sind die Quilombola- und Fischereigemeinschaften der Ilha de Maré Schadstoffen und chronischer chemischer Verschmutzung ausgesetzt, was ihre traditionelle Lebensweise und ihre Gesundheit irreparabel beeinträchtigt. Dies ist auf Ereignisse wie die Stilllegung stillgelegter Bohrlöcher auf der Insel, die Aufschüttung und Zerstörung von Mangroven, die für die Fortpflanzung verschiedener Meerestierarten wichtig sind, und das Ausbaggern des Meeresbodens zurückzuführen; die Anhäufung von Giftstoffen (Emission von Staub, Ruß und giftigen Partikeln und Gasen in die Luft, Verklappung von giftigen Abfällen im Meer und im Boden, Leckagen oder Auslaufen von Öl und verschiedenen Stoffen aus Schiffen, Vergiftung von Fischen); der Schiffsbetrieb von Ladekähnen unter prekären Betriebs- und Sicherheitsbestimmungen; die Invasion von Meerestierarten, die von großen Schiffen aus anderen Regionen der Erde eingebracht werden.

AUSWIRKUNGEN AUF DAS SOZIALE UMFELD, DIE UMWELT UND AUF DIE MENSCHLICHE GESUNDHEIT

> UMWELTUNSICHERHEIT UND VERSCHMUTZUNGSRISIKO: Die Hafen-, Industrie-, Erdöl- und Petrochemieunternehmungen, die im Einflussbereich und auf diesem Inselgebiet durchgeführt werden, verursachen nicht nur verschiedene Arten von Verschmutzung (Luft, Wasser, Boden), sondern auch giftige Abfälle, die ein großes Potenzial haben, erhebliche sozio-ökologische Auswirkungen zu verursachen, wie z. B. den Verlust der biologischen Vielfalt, die Verseuchung und die Verschlechterung des gesamten Ökosystems.

> ERNÄHRUNGSUNSICHERHEIT UND VERRINGERUNG DES WIRTSCHAFTLICHEN EINKOMMENS: Die Aktivitäten des Hafen-Industrie-Erdöl-Petrochemie-Komplexes führen zu einer Verkleinerung des Territoriums und der Fischerei-fähigen Umgebung oder sogar zu einem Verbot des Zugangs zu bestimmten Gebieten, die traditionell von der Bevölkerung genutzt werden, wie den Fischereizonen der Fischer:innen und Muschelsammler:innen auf der Ilha de Maré. Hinzu kommt die Umweltverschmutzung von Böden, Gewässern, Mangroven, Fischereizonen und den Reusen der Muschelsammler:innen, was eine Reihe negativer Auswirkungen auf die lokale biologische Vielfalt hat und sich direkt auf die Verringerung der Fischereiressourcen auswirkt, die die Hauptnahrungs- und Einkommensquelle für die große Mehrheit der Familien in den Gemeinschaften darstellen. Hinzu kommt eine Reihe von räumlichen Veränderungen in dem traditionellen Gebiet durch das Wachstum des Tourismus- und Immobiliensektors mit dem Bau von Hotels, Gasthöfen, Restaurants und ähnlichem.

> RISIKEN FÜR DIE GESUNDHEIT DES MENSCHEN: Neben der Zunahme von Emissionen in die Luft, die zu Geruchsbelästigung und Erstickungsgefahr führen und die Lebensqualität der Bevölkerung beeinträchtigen, indem sie Stress und Schlaflosigkeit verursachen, besteht die Gefahr von Gesundheitsschäden für die örtliche Bevölkerung, vor allem durch den Verzehr von Fischen und Muscheln, die mit hohen Schwermetallkonzentrationen kontaminiert sind, die die zulässigen Höchstwerte für anorganische Schadstoffe in Lebensmitteln überschreiten und zu einer Bioakkumulation mit hohem krebserregenden Potenzial führen.

UMWELTRASSISMUS

Auf der Ilha de Maré sind die Quilombola- und Fischerei-Gemeinschaften historisch sozialem Ausschluss und rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, was verstärkt wird durch den Umweltrassismus, den diese ausgesetzt sind. Denn obwohl diese Gemeinschaften historisch, kulturell und produktiv eng mit dem Inselgebiet verbunden sind und ihr Lebensunterhalt von den sie umgebenden natürlichen Ressourcen abhängt, werden deren Gebiete in Beschlag genommen und die Bewohner:innen daran gehindert, die natürlichen Ressourcen voll zu nutzen. Sie werden in ihrer Lebensweise permanent verunglimpft, in ihrem Wohlbefinden und ihrer Gesundheit durch die Belastung mit verschiedenen Schadstoffen beeinträchtigt, in ihren Bedürfnissen und Forderungen vernachlässigt und werden bei den Umweltgenehmigungsverfahren für Projekte, die ihr Leben betreffen, nicht konsultiert und mithin ignoriert werden. Sie werden auch nicht zu den Schäden befragt, die ihnen durch die Aktivitäten des Hafen-Industrie-Erdöl-Petrochemie-Komplexes zugefügt werden. Dieser Umweltrassismus wird durch die Unterlassung oder Duldung der Regierungen angesichts der Unregelmäßigkeiten und illegalen Handlungen dieser Großunternehmen sowie durch die Schwäche der Umweltgesetzgebung und -kontrolle noch verstärkt. Verschärft wird diese Situation noch durch die Untätigkeit oder Unzulänglichkeit des Staates, der es versäumt hat, den Bedarf an Infrastrukturen und grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen auf der Ilha de Maré zu decken, so dass sich die Bevölkerung – im Vergleich zu den wohlhabenden Weißen, die auf angrenzenden Inseln leben in der Baía de Todos os Santos und der Baía de Aratu in Salvador/Bahia – in einer strukturell minderwertigen und äußerst verletzlichen Situation befindet.

MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN

Die Quilombola- und Fischerei-Gemeinschaften sind dem Vormarsch der Großvorhaben des Hafen-Industrie-Erdöl-Petrochemie-Komplexes und der damit verbundenen Konzentration von verschmutzenden und verseuchenden Aktivitäten ausgesetzt und leiden unter einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen:

RECHT AUF GESUNDHEIT (die Exposition gegenüber chemischen Schadstoffen und der fehlende Zugang zu angemessenen Gesundheitsdiensten beeinträchtigen das Wohlbefinden und erhöhen das Auftreten von Krankheiten wie Atemwegserkrankungen, Hautkrankheiten und Krebs). RECHT AUF GESUNDE ERNÄHRUNG (die Verunreinigung von Fisch gefährdet die Ernährungssicherheit dieser Gemeinschaften und erhöht das Auftreten von ernährungsbedingten Krankheiten). RECHT AUF ARBEIT (die Gefahr der Verunreinigung natürlicher Ressourcen wie Fisch schränkt die Ausübung der handwerklichen Fischerei, der Haupteinnahmequelle dieser Gemeinschaften, ein und wirkt sich direkt auf ihren Lebensunterhalt aus). RECHT AUF KULTUR (die Zerstörung von Ökosystemen, die für die Kultur und Identität dieser Gemeinschaften wichtig sind, wie z. B. Mangroven, führt zum Verlust des traditionellen Wissens und zur Störung ihrer Lebensweise). RECHT AUF TEILHABE UND KOSTENLOSE, VORHERIGE UND INFORMIERTE KONSULTATION (sie werden nicht nur nicht beteiligt, sondern auch nicht angehört oder berücksichtigt, wenn es um Umweltgenehmigungen und Entscheidungen geht, die ihr Leben und ihre Gebiete betreffen). RECHT AUF SICHERHEIT (Konflikte, die durch den Streit um natürliche Ressourcen ausgelöst werden, bringen diese Gemeinschaften in unsichere Zustände und lösen physische und psychische Gewaltvorkommnisse aus, und die Bewohner:innen sind Risiken ausgesetzt, ohne dass es einen Notfallplan für Unfälle gibt). RECHT AUF EIGENTUM (fehlende formale Anerkennung der Quilombola-Territorien). RECHT AUF WASSER UND GRUNDLEGENDE SANITÄRE EINRICHTUNGEN (das Fehlen grundlegender städtischer Infrastrukturen und öffentlicher sanitärer Einrichtungen schränkt den Zugang zu Trinkwasser ein und gefährdet die Gesundheit und Würde dieser Gemeinschaften). RECHT AUF EINE ÖKOLOGISCH AUSGEWOGENE UMWELT (Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie die Zerstörung von Ökosystemen haben direkte Auswirkungen auf die Lebensqualität dieser Gemeinschaften).

EMPFEHLUNGEN

(I) Der brasilianische Staat muss die Umsetzung des Rechts auf Konsultation und auf vorherige, freie und informierte Zustimmung garantieren, so wie es in der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgesehen ist, die in Brasilien durch das Dekret Nr. 5051/2004 in Kraft ist, und zwar durch einen interkulturellen Dialog, der von Treu und Glauben, mit Transparenz und der Anerkennung der Verbindlichkeit der Konsultationsergebnisse geprägt ist und der es den Gemeinschaften ermöglicht, sich wirklich zu beteiligen und den Entscheidungsprozess in allen Phasen zu beeinflussen, der mit jeder neuen Information erneuert wird, insbesondere bei Verfahren, die sich über mehrere Akte erstrecken.

(II) Dass der brasilianische Staat alle Maßnahmen wieder aufnimmt und abschließt, die für die Anerkennung, Abgrenzung und Titulierung der Ländereien der verbleibenden Quilombo-Gemeinschaften der Ilha de Maré erforderlich sind, dies insbesondere im Hinblick auf die Rechte der Quilombo-Gemeinschaften Bananeiras, Porto dos Cavalos, Maracanã, Martelo, Praia Grande und Ponta Grossa.

(III) Dass der brasilianische Staat den Schutz der biologischen Vielfalt der Ökosysteme der Fischer- und Quilombola-Gemeinden der Ilha de Maré und ihrer Umgebung sicherstellt, die von den großen Projektvorhaben und den entsprechenden Aktivitäten des Hafen-Industrie-Erdöl-Petrochemie-Komplexes betroffen sind.

(IV) Dass der brasilianische Staat sicherstellt, dass die Unternehmen des Hafen-Industrie-Erdöl-Petrochemie-Komplexes in der Nähe der Ilha de Maré die nationalen und internationalen Standards zum Schutz der Menschenrechte, die Brasilien unterzeichnet hat, respektieren/einhalten.

(V) Dass der brasilianische Staat die notwendigen Maßnahmen ergreift, um die dringende und sofortige Durchführung eines Prozesses zur Erforschung und Bewertung des Verschmutzungs- und Verseuchungsgrades zu gewährleisten, dem die Fischerei- und Quilombola-Gemeinschaften der Ilha de Maré und ihrer Umgebung ausgesetzt sind.

// ARTICULAÇÃO PARA O MONITORAMENTO DOS DIREITOS HUMANOS NO BRASIL (AMDH)

// Übersetzung: christian russau