Anklagen gegen Bolsonaro wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid
Die Juristin Deisy Ventura lehrt an der Universität von São Paulo und ist spezialisiert auf den Zusammenhang zwischen globalen Gesundheitsfragen und internationalem Recht. Sie greift in einem Interview mit der Journalistin Eliane Brum den Genozidvorwurf gegenüber Bolsonaro auf, den Gilmar Mendes, Oberster Bundesrichter des STF als erster in die Diskussion gebracht hatte und bekräftigt ihn. Bolsonaro verletze Menschenrechte und gefährde Minderheiten wie indigene Völker und Quilombolas. Mendes Vorwurf richtete sich in erster Linie an die brasilianischen Streitkräfte, die sich an besagtem Genozid mitschuldig machen. Zur Erinnerung: Nach zwei Entlassungen wird das Gesundheitsministerium derzeit von einem Militär ohne Fachexpertise geleitet. Es liegt immer noch kein staatlicher Notfallplan zur Bekämpfung der Pandemie vor, stattdessen regiert der Präsident und Corona-Leugner Bolsonaro per Dekret und mit Militärmacht. Das Coronakrisenmanagement übernehmen die einzelnen Bundesstaaten nach eigener Einschätzung. Dafür wurden sie von ihrer Bundesregierung kritisiert oder sogar bedroht. Ventura belegt, warum man Bolsonaro sowohl vor brasilianischen Gerichten als auch vor einem internationalen Menschenrechtsgerichtshof wegen Genozids verklagen könne. Man könne der Regierung gezielte Benachteiligung vulnerabler Bevölkerungsgruppe vorwerfen. Die Regierung hat gezielt Falschinformationen über den Erreger COVID-19 verbreitet, sie ist sogar gegen die Aktivitäten der Bundesstaaten vorgegangen, die gemäß den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation gehandelt haben. Finanztransfers an die Bundesstaaten wurden verschleppt. Wiederholt reagierte Bolsonaro mit seinem Vetorecht (z.B. Maskentragen in Geschäften oder im Gefängnis) Gesetze des Gesundheitsschutzes ausgehebelt. Das Malariamittels Cloroquin wurde auch in indigenen Gemeinschaften vom staatlichen Gesundheitspersonal als vermeintliches Medikament eingesetzt und von Bolsonaro als Heilmittel kommuniziert. Damit wurde suggeriert, das Mittel biete einen ausreichenden Schutz gegen Corona, was wissenschaftlich nicht haltbar ist. Zuletzt ist Bolsonaro gegen Gesetzesvorhaben vorgegangen, die eine Notfallversorgung der indigenen Völker und traditionellen Gemeinschaften gewährleisten sollte, er verweigerte auf diesem Weg die Trinkwasserversorgung für indigene Völker. Er hält also gezielt einen Teil der brasilianischen Bevölkerung in einem Zustand, der seine Auslöschung bedeuten kann. Juristisch gesehen bedarf eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit/Genozid keiner Militärintervention, also keiner kriegerischen Handlung. Sie richtet sich außerdem gegen eine Person und nicht gegen einen Staat. Entscheidend ist nach der Juristin Ventura, dass am Ende die Regierung Bolsonaro nicht mit dem Urteil davonkäme, sie sei schlicht unfähig gewesen.
Juristisch gesehen gibt es einen Unterschied zwischen dem Vorwurf des Genozids (eine Ethnie ist nachweislich von der Auslöschung bedroht) und dem Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Sicher ließe sich der Genozidvorwurf bei Bolsonaro in Coronazeiten verfolgen, allerdings müsste nachgewiesen werden, dass eine indigene Gruppen mit wenigen Mitgliedern oder auch Unkontaktierte durch eine Infektion mit dem Coronavirus vom Aussterben bedroht wären.
Der Verband brasilianischer Juristen für die Demokratie ABJD hat sich jedoch für einen anderen Weg entschieden. Er wird Bolsonaro vor dem UN-Menschenrechtsgerichtshof der Vereinten Nationen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen. Die Anklage kann neben den Indigenen und traditionellen Völkern weitere Betroffene und Opfer von Bolsonaros Banalisierung der Coronakrise berücksichtigen und einschließen. Die Anklageschrift (auf Englisch) wird derzeit geprüft, nach dieser Phase wird die Anklageschrift wirksam. Die brasilianischen Jurist*innen haben Dringlichkeit erbeten, ein internationaler Prozess dieses Ausmaßes kann sich jedoch nach Aussagen von ABJD über Jahre hinziehen. Zu einem Verfahren kann es nur kommen, wenn nachweislich die nationalen juristischen Mittel nicht ausreichen. Dies erläutert der Jurist Nuredin Allan aus Curitiba in einem Webinar, das
von brasilianischen ökumenischen Organisationen (COMIN; Coinonia, CESE) initiiert wurde. Der Jurist hat die internationalen Organisationen aufgerufen, die Anklageschrift und das Verfahren medienwirksam zu verbreiten. Im Vorfeld der Anklageerhebung hatten 220 zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Unterstützung für ein juristisches Verfahren gegen Bolsonaro zugesagt. Am 26.07. kam es außerdem zu einer nationalen und internationalen Anklage, die von brasilianischen und internationalen Gewerkschaften (ISP, UNI Global, UGT, CUT und NCST), der Landlosenbewegung MST sowie von Indigenen und Quilombola-Vertretungen getragen wurde. Neu an diesem Widerstand und dem politischen Statement ist der Einschluss von über 1 Million Arbeitnehmer*innen des Gesundheitswesens. Nach Erhebungen des ISP Interamericana arbeiten 60% des medizinischen Fachpersonals ohne ausreichende Schutzkleidung (EPI Equipamentos de Proteção Individual) und spezielle Vorbereitung wegen Corona. Brasilien befindet sich darum weltweit unter den drei Ländern, die am meisten Coronaopfer unter Mitarbeitenden des Gesundheitswesens zu beklagen haben. Die Anklage gegen Bolsonaro vor dem Gericht von Den Haag lautet auf Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zum Zeitpunkt der Anklage zählt Brasiliens offizielle Statistik annähernd zwei Millionen Infizierte und 100.000 Tote wegen Corona. Bolsonaros Leugnen und sein fehlendes Krisen- und Gesundheitsmanagement haben zu dieser unkontrollierbaren Situation beigetragen.
Der Text ist ein Auszug aus dem aktuellen KoBra Dossier "Indigene und Landrechte"