ILO lobt Entwicklung des brasilianischen Mindestlohnes
Der Anstieg des landesweit gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohnes im Zeitraum von 2003 bis 2010 je Jahr im Durchschnitt um 5,8 Prozent habe im Vergleich zur Entwicklung von Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt und Inflation zu einem realen Kaufkraftgewinn für die Mindestlohnbeschäftigten geführt.
Der reale Anstieg des Mindestlohnes um rund 60 Prozent in den vergangenen neun Jahren habe auch zu einer stärkeren Annäherung an das landesweite Durchschnittseinkommen geführt, da der Anstieg beim Mindestlohn höher ausgefallen sei als bei den mittleren Einkommen. Die Entwicklung des Mindestlohnes habe damit auch zur Reduzierung der Armut im Lande beigetragen, so die ILO. Darauf weise laut ILO auch die Entwicklung des GINI-Koeefizienten hin, der sich von 0,596 im Jahr 2001 auf 0,543 im Jahre 2009 verbessert habe (je näher der Wert des GINI-Koeefizienten bei Null liegt, desto mehr Gleichheit in einem Land).
Brasilien hatte Anfang Januar den gesetzlichen Mindestlohn in Brasilien um 14,13 Prozent von 545 Reais (umgerechnet 238,67 Euro) auf 622 Reais (umgerechnet 272,40 Euro) angehoben. Der Stundenlohn liegt laut GazetaOnline damit bei 2,83 Reais (umgerechnet 1,24 Euro). Laut Berechnungen des gewerkschaftsnahen Instituts DIEESE führe die Anhebung des Mindestlohnes zu einer Kaufkraftstärkung von 47 Milliarden Reais (umgerechnet 20 Milliarden Euro) für die brasilianische Wirtschaft.
Bei der letztjährigen Debatte in Kongress und Senat um die Erhöhung des Mindestlohnes war es zwischen Regierung und Gewerkschaften zu teils heftigem Streit gekommen. Kaum im Amt, hatte sich Brasiliens neue Präsidentin Dilma Rousseff der ersten großen Belastungsprobe in den beiden Kammern des Kongresses ausgesetzt gesehen: Ihre Regierung hatte damals in Absprache mit den Koalitionspartnern einen Vorschlag zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf monatlich 545 Real (umgerechnet etwa 237 Euro) eingebracht. Die Gewerkschaften forderten einen Mindestlohn von 580 Real (circa 252 Euro). Der Ton im Streit zwischen Regierung und den Gewerkschaften und die Anpassung der Steuerstufen hatte sich rasant verschärft.
Dilma Rousseff bekräftigte, dass sich ihr Vorschlag am Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahre orientiere. Dieses Vorgehen sei von den Gewerkschaften mit Vorgänger-Präsident Lula so vereinbart worden. Die Gewerkschaft hingegen sah das damals ganz anders: Der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, Celso Woyciechowski, wies auf das erhebliche Wirtschaftswachstum 2010 und die Notwendigkeit hin, die Arbeitenden angemessen daran zu beteiligen. „Außerdem ist die Anpassung der Steuerstufen absolut notwendig“, sagte Woyciechowski. Ohne eine solche Anpassung der Steuerprogressionssätze würden die Arbeitenden mehr zahlen müssen. Woyciechowski wies auch darauf hin, dass es nur durch gerechtere Einkommensverteilung möglich wäre, die Armut in Brasilien auszulöschen – eine klare Anspielung auf das erklärte Hauptziel von Präsidentin Rousseffs Regierung: die extreme Armut im Land zu besiegen.
Dilma setzte sich durch – gleichwohl war der Graben zwischen den ehemaligen Alliierten der regierenden Arbeiterpartei PT und dem Gewerkschaftsdachverband CUT nicht mehr zu übersehen: Während der Parlamentsdebatte im Kongress pfiffen angereiste GewerkschafterInnen auf den Zuschauerplätzen den PT-Abgeordneten Vicente Paulo da Silva (Vicentinho) aus, als dieser den Regierungsvorschlag einbrachte. Vicentinho war Gründungsmitglied und erster Präsident des Gewerkschaftsdachverband CUT gewesen. Nachdem er damit drohte, die Protestierenden des Saales zu verweisen, schwiegen die GewerkschafterInnen, drehten dem ehemaligen Kollegen und nun Abgeordneten aber demonstrativ den Rücken zu.
Die Gewerkschaften verweisen nach wie vor darauf, dass der Anstieg des Mindestlohnes zu begrüßen sei, aber noch immer nicht ausreiche. Denn das gewerkschaftsnahe Institut DIEESE hatte bereits im vergangenen Jahr errechnet, dass der Mindestlohn in Brasilien bei 2.194 Real (960 Euro) liegen müsste, um die Befriedigung der Bedürfnisse der Mindestlohnbeschäftigten in den Bereichen Ernährung, Wohnung und Freizeit angemessen zu gewährleisten.