„Siemens ist in Brasilien illegal tätig und muss deshalb aufgelöst werden“
Seit 2014 laufen in São Paulo die Prozesse gegen insgesamt 15 Firmen, denen die Bildung des sogenannten U-Bahnkartells vorgeworfen wird. Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaats von São Paulo fordert wegen der Kartellabsprachen bei U-Bahn und Regionalbahnzügen Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe von den Firmen, darunter auch Siemens Brasilien, Alstom Brasilien und Bombardier Brasilien. Der Staatsanwalt Dr. Marcelo Milani wirft im Interview Siemens vor, nicht hinlänglich bei der Aufklärung der Sachverhalte zu kooperieren und fordert zudem die gerichtliche Schließung von Siemens Brasilien. „Siemens, in Komplizenschaft mit anderen Firmen, ergatterte Aufträge der öffentlichen Hand seit dem Jahr 2000 auf Basis von betrügerischem Vorgehen. Eine Firma, die wiederholt betrügerisch handelt, darf in Brasilien nicht operieren. Siemens ist in Brasilien illegal tätig und muss deshalb aufgelöst werden. Das brasilianische Unternehmensrecht sieht genau das vor“, so Dr. Marcelo Milani im Interview vom 2. März dieses Jahres in São Paulo. Eine Argumentation, die den in Deutschland aufkommenden Debatten und ersten juristischen Entwürfen zur Einführung eines Unternehmensstrafrechts nahekommt. Im Entwurf des nordrhein-westfälischen Justizministeriums vom November 2013 für den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortung von Unternehmen in Deutschland wird unter § 12 "Verbandsauflösung“ ausgeführt: „Ist eine Straftat im Sinne des § 2 Absatz 1 dieses Gesetzes beharrlich wiederholt worden und lässt die Gesamtwürdigung der Tatumstände und der Organisation des Verbandes die Gefahr erkennen, dass bei Fortbestand des Verbandes dessen Entscheidungsträger weiter erhebliche rechtswidrige Zuwiderhandlungen der bezeichneten Art begehen werden, kann das Gericht die Auflösung des Verbandes anordnen, soweit diese nach bürgerlichen Recht vorgesehen ist.“ Ein Unternehmen also, das wiederholt kriminell tätig ist, könnte demnach in Zukunft auch in Deutschland aufgelöst werden. In Brasilien ist dies - in der Theorie - schon jetzt möglich.
Auf der Aktionärsversammlung 2015 haben wir Siemens gefragt, was der aktuelle Stand der Klagen der Staatsanwaltschaft von São Paulo gegen Siemens wegen der Absprachen in Sachen U-Bahnkartell sei und erhielten als Antwort, Siemens selbst habe diese Anzeige eingereicht, um die Vorgänge aufzuklären, und zudem eine Kronzeugenregelung vereinbart. Sehen Sie das als zuständiger Staatsanwaltschaft in diesem Fall anders?
Dr. Marcelo Milani: Absolut anders! Wir sind die hier in São Paulo für den Schutz öffentlichen Eigentums und zur Abwendung von Schäden für die öffentliche Hand zuständige Staatsanwaltschaft. Da es in Brasilien sehr viele Verträge gibt, die Regierungen mit Privatfirmen schließen, wurde 1992 ein Gesetz verabschiedet, das den Staatsanwaltschaften auf Landes- und Bundesebenen die Aufgabe des Schutz öffentlichen Gutes zuweist. Im Fall Siemens haben wir die Federführung und wir haben mehrere Verträge des U-Bahn- und Regionalnetzsystems der Stadt São Paulo untersucht. Es handelt sich dabei um milliardenschwere Aufträge. 2013 gab es einen Pressebericht, nach dem Ex-Mitarbeiter von Siemens berichteten, dass es bei Siemens ein Kartellsystem im U-Bahn- und Regionalnetzsystem von São Paulo gebe. Diese Aussage wurde dann in Brasília vor den zuständigen Bundesverwaltungsbehörden zur Aussage gebracht. Dort wurde ausgesagt, dass sich die Firmen untereinander verabredeten, um die U- und Regional-Bahnaufträge unter sich aufzuteilen. Es waren also zwei Ex-Siemens-Mitarbeiter, die das öffentlich anzeigten, und die kategorisch erklärten, dass es den Straftatbestand der Kartellbildung und -absprache durch Mitarbeiter von Siemens gebe. Die im Anschluss an diese Aussagen eingeleiteten Untersuchungen führten dann zu Anzeigen der Staatsanwaltschaft, die zivil- und verwaltungsrechtlich behandelt werden. Diese richten sich gegen mehrere Firmen, unter diesen befindet sich auch Siemens.
Siemens ist Vertragsnehmerin in mehreren U-Bahn-Verträgen und mehrfach steht nun der Verdacht im Raume der Kartellbildung. Hinzu kommt auf Bundesebene noch eine Untersuchung der Bundespolizei, die die Kronzeugenregelung der zwei Ex-Mitarbeiter von Siemens, die den Kartellverdacht gegen Siemens geäußert hatten, hinterfragt. Das alles auf Bundesebene. Hier in São Paulo, auf Landesebene, hat meine Staatsanwaltschaft sechs Klagen in öffentlichem Zivilrecht gegen Siemens erhoben. Es geht dabei um mehrere Verträge, in die Siemens verwickelt war.
Siemens und andere Firmen...
Dr. Marcelo Milani: Siemens und andere. Alstom, CAF, Bombardier, MGE, MPE, Mitsui etc. Ich habe also sechs Klagen eingereicht bezüglich mehrerer Verträge, in denen es Belege und Hinweise auf den Straftatbestand der Kartellbildung geht. Hinzu kommen acht Klagen im Bereich des Strafrechts gegen Ex-Mitarbeiter der beteiligten Firmen, darunter auch wieder von Siemens.
Wir wurden hier kontaktiert von Rechtsanwälten, die Siemens hier in Brasilien vertreten, zudem kam hier nach Brasilien der Siemens-Direktor für Compliance und er sagte zu, dass Siemens die der öffentlichen Hand in Brasilien entstandenen Schäden ersetzen werde. Aber, dabei blieb es dann auch. Sie haben nie etwas in der Richtung getan.
Was sollte Siemens tun?
Dr. Marcelo Milani: Damit eine wie auch immer geartete Vereinbarung geschehen könnte, muss Siemens zuallererst das formale Eingeständnis abgeben, dass sie sich des Straftatbestands der Kartellbildung schuldig gemacht haben und damit der öffentlichen Hand Schaden zugefügt haben. Sie müssten also zuerst ein Schuldeingeständnis abgeben.
Das hat Siemens noch nicht getan?
Dr. Marcelo Milani: Nein, zu keinem Moment. Hinzu kommt, dass es parallel dazu einen weiteren Punkt gibt, den wir im Rahmen unserer Untersuchungen herausgefunden haben: Der zur fraglichen Zeit verantwortliche Direktor von Siemens Brasilien, Adilson Primo, wurde vom Mutterkonzern in Deutschland seines Postens ein Brasilien enthoben und entlassen, da im Zuge von internen Siemens-Ermittlungen festgestellt worden war, dass er und zwei weitere Siemens-Mitarbeiter ein geheimes Bankkonto in Luxemburg mit sieben Millionen Euros hatten. Es gibt starke Verdachtsmomente, die dafür sprechen, dass dieses Konto der Zahlung von Schmiergeldern diente. Siemens führte also die interne Untersuchung durch und stellte fest, dass Adilson Primo einer der Kontobefugten war. Aber Siemens hat uns nie diese Erkenntnisse ihrer Untersuchungen zukommen lassen. Nie. Wir haben mehrmals diesbezüglich nachgefragt. Unser vorrangiger Ansatz ist nicht, Siemens den Prozess zu machen. Wir wollen den durch Schmiergelder begünstigten Personen der brasilianischen Verwaltung und Behörden den Prozess machen. Dies ist unser prinzipieller Fokus. In Bezug auf Siemens liegt unser Fokus auf die Frage, dass Siemens die der öffentlichen Hand zugefügten Schäden ersetzt.
Warum hält Siemens diese Erkenntnisse zurück?
Dr. Marcelo Milani: Gute Frage. Fragen Sie Siemens. Das ist für mich auch ein großes Geheimnis.
Wie ist der aktuelle Stand der Prozesse gegen Siemens?
Dr. Marcelo Milani: Derzeit führt allein meine Staatsanwaltschaft vier Prozesse gegen Siemens. Unter anderem fordern wir darin die gerichtliche Schließung von Siemens Brasilien. Denn nach derzeitigem Ermittlungsstand waren alle Verträge von Siemens infolge der Kartellabsprachen deutlich erhöht. Ein Beispiel: Siemens hatte mit Alstom ein Konsortium gebildet und sich um die Instandsetzung und Modernisierung der U-Bahnzüge beworben. Es ging dabei um die Züge der U-Bahnlinien Azul (blaue Linie), Vermelha (rote Linie) und Verde (grüne Linie). Die Züge der U-Bahnlinien Azul und Vermelha sind 40 Jahre alt. Anstatt neue Züge zu kaufen, wurde entschieden, die 40-Jahre alten Züge zu modernisieren. Einen Teil dieses Auftrags nahmen Siemens und Alstom gemeinsam an. Auch bei den CPTM-Regionalbahnzügen von São Paulo ging es um die Modernisierungen der Linien S 2.000, S 2.100 und S 3.000. Soweit, so gut. Nur wurde hinterher herausgefunden, dass die Angebote bei U- und Regionalbahn auf Basis von Kartellabsprachen eingereicht worden waren, und die beteiligten Firmen das Ganze in Aufträgen unter sich aufteilten. Jede der Firmen bekam ihren Teil, so auch Siemens und Alstom. Laut Aussage der Ex-Mitarbeiter von Siemens erfolgte dies einerseits im Zuge von Kartellbildung und -absprachen sowie mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen. In Bezug auf diesen Vertrag, konstatieren wir das Folgende: Der modernisierte Zug kostet mehr als ein neuer Zug. Eine der beteiligten Firmen zum Beispiel ist auch Bombardier. Bombardier ist derzeit in Verhandlungen über die Lieferung für Züge der U-Bahn in New York. In den dortigen Angeboten liegen die Preise für neue Züge in New York unter denen für Modernisierung der alten Züge von São Paulo. Auf Basis dessen gehen wir nun in unseren Klagen vor.
Was fordern Sie vor Gericht ein?
Dr. Marcelo Milani: Die Schäden der öffentlichen Hand müssen ersetzt werden. Und, noch bedeutender: Auf all diesen Erkenntnissen argumentieren wir von der Staatsanwaltschaft, dass diese Verträge in der Tat auf Basis eines Betrugs geschlossen wurden. Sie haben also in der Ausschreibung betrogen, um den Auftrag zu erhalten, sie haben also eine Straftat begangen. Ein Verbrechen und dieses oft wiederholt. Wir konstatieren also Folgendes und dies ist unsere Hauptargumentation: Siemens, in Komplizenschaft mit anderen Firmen, ergatterte Aufträge der öffentlichen Hand seit dem Jahr 2000 auf Basis von betrügerischem Vorgehen. Eine Firma, die wiederholt betrügerisch handelt, darf in Brasilien nicht operieren. Siemens ist in Brasilien illegal tätig und muss deshalb aufgelöst werden. Das brasilianische Unternehmensrecht sieht genau das vor.
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Dieses Interview ist Teil der Recherchen zu einem Buchprojekt zu deutschen Konzernen in Brasilien, das im Herbst dieses Jahres im VSA-Verlag erscheinen wird, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Medico International.