Kurze Chronologie der Juni-Proteste in Brasilien

Knapp ein halbes Jahr nach den Juni-Protesten in Brasilien, die ihren Höhepunkt vor allem zwischen dem 13. und dem 27. Juni 2013 hatten, halten in Brasilien die Debatten um die Sichtweisen, Interpretationen und Analysen der Massenproteste an. Um am Thema Interessierten eine Annäherung an die Vorkommnisse des Juni 2013 auch im deutschsprachigen Raum zu ermöglichen, bietet KoBra eine "Kurze Chronologie der Juni-Proteste".
| von Christian Russau
Kurze Chronologie der Juni-Proteste in Brasilien
Photo: Mídia N.I.N.J.A.

 

 

Kurze Chronologie der Juni-Proteste in Brasilien

 

Montag, 25. März 2013: In der Landeshauptstadt des südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, Porto Alegre, werden die Fahrpreise im Nahverkehr von 2,85 Reais auf 3,05 Reais erhöht.1 Erste Spontandemonstration von Jugendlichen und Studenten in der Nähe des Universitätsgeländes, wo sie für drei Stunden eine der zentralen Straßen blockieren.

Mittwoch, 27. März 2013: Hunderte Demonstrant_innen protestieren in Porto Alegre, zum zweiten Mal innerhalb einer Woche, gegen die Fahrpreiserhöhung.2 Die Demonstrierenden versammeln sich vor dem Gebäude des Paço Municipal, wo sie versuchen, in das Gebäude der Bürgermeisterei einzudringen. Zudem kommt es an weiteren Orten der Stadt zu kleineren Protesten. Im Stadtzentrum vor dem Paço Municipal kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei und drei Personen (zwei Polizisten, ein Demonstrant) werden verletzt.

Samstag, 30. März 2013: In der amazonischen Landeshauptstadt Manaus protestieren 50 Demonstranten bereits zum dritten Mal3 innerhalb weniger Tage gegen die Fahrpreiserhöhung im Nahverkehr von 2,75 Reais auf 3,00 Reais. Die Fahrpreiserhöhung tritt an diesem Tag in Kraft.

Donnerstag, 4. April 2013: Ein Richter für Öffentliches Verwaltungs- und Haushaltswesen erklärt in Porto Alegre die Fahrpreiserhöhung für nicht konform mit den Haushaltsbestimmungen der Stadt und friert die Fahrpreiserhöhung wieder ein.4 Der Präfektur steht der Widerspruch als Rechtsweg offen. Zuvor hatten vor allem Jugendliche und Student_innen gegen die Fahrpreserhöhungen rund eine Woche täglich an mehreren Orten der Stadt zu Hunderten demonstriert.

Freitag, 5. April 2013: Die Präfektur von Porto Alegre verzichtet auf den Rechtsweg und nimmt die Fahrpreiserhöhung zurück.5 Die erfolgreichen Proteste von Porto Alegre6 dienen seither als Vorbild für die anderen Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen überall im Land. „Vamos repetir Porto Alegre“ („Lasst uns Porto Alegre wiederholen“) hieß es später auf vielen Demonstrationen in São Paulo, Santos, Belo Horizonte und Rio de Janeiro.

Mittwoch, 8. Mai 2013: 200 Student_innen protestieren7 in der Landeshauptstadt des zentralbrasilianischen Bundesstaat Goiás, Goiânia, gegen die Fahrpreiserhöhung von 2,70 auf 3,00 Reais. Sie stecken Autoreifen in Brand und blockieren Straßen.

Donnerstag, 16. Mai 2013: In Goiânia protestieren 1.000 Student_innen8 gegen die Fahrpreiserhöhung.

In der Landeshauptstadt des nordbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Norte, Natal, besetzen Demonstrant_innen die Hauptverkehrsstraße, um gegen die Fahrpreiserhöhung von 2,20 Reais auf 2,40 Reais zu protestieren. Nach dem Protest erklärt der Bürgermeister eine Rücknahme der Erhöhung um zehn Centavos.

Dienstag, 21. Mai 2013: In der Landeshauptstadt des zentralbrasilianischen Bundesstaat Goiás, Goiânia, protestieren 300 Personen gegen die Fahrpreiserhöhung von 2,70 auf 3,00 Reais. Es kommt zu Zusammenstößen mit der Militärpolizei. Die Präfektur beschließt9 die Fahrpreiserhöhungen.

Freitag, 24. Mai 2013: Die Präfektur von São Paulo verabschiedet das Dekret, dass die Fahrpreiserhöhung bei Bus, Bahn und U-Bahn von 3,00 Reais auf 3,20 Reais beschließt.

Montag, 27. Mai 2013: Das vor allem von Student_innen geprägte Movimento Passe Livre (MPL) übergibt im Abgeordnetenhaus von São Paulo ihre Forderungen nach Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen und debattiert mit Parlamentarier_innen.

Dienstag, 28. Mai 2013: In São Paulo organisiert das MPL eine Mahnwache vor dem Gebäude der Präfektur.

In Goiânia versammeln sich mehrere hundert Demonstrant_innen in der Nähe der Universität und marschieren in Richtung des zentralen Busbahnhofs. Nach Zusammenstößen mit der Militärpolizei verhaftet diese 14 Aktivist_innen.

Mittwoch, 29. Mai 2013: In São Paulo klebt das MPL Tausende von Plakate an Wände, Mauern und Freiflächen in der Stadt, auf denen sie gegen die Fahrpreiserhöhung demonstrieren.

Samstag, 1. Juni 2013: In Rio de Janeiro tritt die Fahrpreiserhöhung in Kraft: von 2,75 Reais auf 2,95.

Sonntag, 2. Juni 2013: In São Paulo tritt die Fahrpreiserhöhung bei Bus, Bahn und U-Bahn in Kraft: von 3,00 Reais auf 3,20 Reais.

Montag, 3. Juni 2013: Das MPL organisiert mit mehreren Dutzend Aktivist_innen den ersten Protest in São Paulo: Der Protest findet 20 Kilometer vom Stadtzentrum, in der Südzone von São Paulo statt. Die Straße Estrada do M’Boi Mirim wird von den Protestierenden am Abend am Abend erfolgreich auf einer Straßenseite für mehrere Stunden blockiert.

In Rio de Janeiro versammeln sich mehrere Dutzende Aktivist_innen vor dem Abgeordnetenhaus des Bundeslandes Rio de Janeiros, ALERJ, um gegen die Fahrpreiserhöhung zu protestieren. Sie blockieren eine der zentralen Straßen des Stadtzentrums von Rio de Janeiro, die Avenida Rio Branco.

Donnerstag, 6. Juni 2013: Das MPL organisiert in São Paulo den zweiten Protest gegen die Fahrpreiserhöhung des Öffentlichen Nahverkehrs, diesmal im Stadtzentrum vor dem Teatro Municipal. Schätzungen der Teilnehmer_innen-Zahl: 2.000 - 5.000. Die Militärpolizei des Bundesstaates São Paulo setzt Tränengas und Gummigeschosse ein. 15 Demonstrant_innen werden verhaftet.

Freitag, 7. Juni 2013: Dritter Protesttag der Demonstrationen in São Paulo. 2.000 Demonstrierende blockieren die zentrale Schnellstraße der Stadt, die Marginal Pinheiros, Nähe des Universitätsgeländes der USP gelegen. Erneute Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrant_innen. Mehrere Aktivist_innen werden verhaftet.

Dienstag, 11. Juni 2013: Vierte Demonstration in São Paulo. Der Demonstrationszug von 3.000 Personen zieht während sechs Stunden durch die Innenstadt. Geplant war, von der zentralen Avenida Paulista durch das ganze Stadtzentrum zum Bahnhof Terminal Parque Dom Pedro zu marschieren. Die Militärpolizei blockiert den Demonstrationszug. Es kommt bei den Zusammenstößen zu mehreren Verletzten, auch ein Polizist wird verletzt. Der Bürgermeister der Stadt São Paulos, Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT, und der Gouverneur des Bundesstaats Geraldo Alckmin von der Partei PSDB, sind derweil in Paris. Beide kritisieren die Demonstrationen in Stellungnahmen gegenüber der Presse scharf. Dies erregt um so mehr den Zorn der Demonstrant_innen. Die Straßen-Proteste, das Vorgehen der Polizeikräfte sowie die Stellungnahme von Bürgermeister und Gouverneur verbreiten sich in Windeseile in den sozialen Netzwerken.

Donnerstag, 13. Juni 2013: Die Tageszeitung Folha de S. Paulo fordert in einem Editorial ein sofortiges Ende der Proteste und charakterisiert diese als gewalttätig und Taten von „Vandalen“ und „Krawallchaoten“ („baderneiros“). Das Editorial fordert das harte Durchgreifen der Polizeikräfte.

Im Stadtzentrum São Paulos am Teatro Municipal versammeln sich am späten Nachmittag Tausende Demonstrant_innen, ziehen durch die Stadt und blockieren Straßen. Ziel des Demonstrationszug ist die zentrale Avenida Paulista. Die Militärpolizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein. Dabei kommt es zu vielen Verletzten. Auch mehrere Reporter_innen werden von der Polizei mit Gummigeschossen angegriffen oder durch Schlagstockeinsatz verletzt. Videos der Vorkommnisse im Netz zeigen, wie Militärpolizisten mit Tränengas auf herumstehende Demonstranten schießt, die in Sprechchören „keine Gewalt!“" fordern. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge wiesen sich die Journalist_innen mit ihren Presseausweisen aus. Unter den verletzten Reporter_innen befinden sich mehrere der Tageszeitung Folha de São Paulo. Auf der Demonstration wurden rund 200 Personen verhaftet. Wer Essig bei sich trug, um sich gegen die Augen- und Hautreizung durch das Tränengas zu schützen, wurde verhaftet. Die internationale Presse berichtet erstmalig groß und ausführlich über die Proteste und erwähnt auch die Polizeigewalt. Amnesty Internation verurteilt die Repression durch die Polizei in einer Erklärung scharf. Gouverneur Alckmin und Bürgermeister Haddad lehnen eine Rücknahme der Preiserhöhung ab. Der Governeur des Bundesstaates von São Paulo, Geraldo Alckmin von der rechtsgerichteten Sozialdemokarische Partei Brasiliens PSDB, beschimpft die Proteste als „Aktionen von Krawallchaoten“. Auch der Bürgermeister der Stadt, Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT, macht keine Anzeichen, die Fahrpreiserhöhung zurücknehmen zu wollen. Er erklärte sich nur bereit, sich mit den Demonstrierenden auf ein Gespräch treffen zu wollen. Erste Umfragen unter der Bevölkerung deuten auf steigende Sympathien für die Proteste in São Paulo hin.

Am Abend des 13. Juni wird im Fernsehen ein bekannter Fernsehmoderator bloßgestellt, was in den sozialen Medien ausgiebig verbreitet wird: José Luis Datena10, Journalist des Fernsehsenders TV Bandeirantes und bekannt für seine Onlineumfragen, wird live im Fernsehen Opfer seiner eigenen Umfrage. Als zunächst seine Ausgangsfrage „Stimmen Sie mit den Protesten überein?“ deutlich zustimmende Mehrheiten bekommt, kommentiert er zunächst die Proteste und erläutert, warum er mit „Nein“ stimmen würde. Dennoch steigt die Zustimmung zu den Protesten in der Umfrage weiter deutlich an. Schliesslich ändert er die Frage in „Stimmen Sie mit den Protesten von Krawallchaoten überein?“ – und die Mehrzahl der Teilnehmenden bejaht dies noch immer deutlich. José Luis Datena verläßt sichtlich entnervt vor laufender Kamera das Studio.

Freitag, 14. Juni 2013: Die Tageszeitung Folha de São Paulo titelt: „Die Polizei reagiert gewalttätig“ und gibt bekannt11, dass bei den Demonstrationen am Vortag sieben ihrer Journalisten teils schwer verletzt wurden. Die Zeitung macht die Polizisten dafür verantwortlich. Die Journalistin Giuliana Vallone wurde im rechten Auge durch ein Gummigeschoss eines Polizisten getroffen. Die Folha de São Paulo zitiert ihre Journalistin mit den Worten: „Der Polizist zielte auf mich und drückte ab.“

Ab diesem Tag ist in der brasilianischen Medienlandschaft ein deutlicher Schwenk zu verzeichnen: fast alle großen Medien fangen an, wohlwollender über die Proteste zu berichten. Vor allem der größte Medienkonzern des Landes, Rede Globo, berichtet ab diesem Tag zunehmend über das „legitime Anliegen der Protestierenden“ und verweist dabei auf die vermehrt auf den Demonstrationen auftauchende Forderung nach einem Ende der Korruption.

Samstag, 15. Juni 2013: In der Hauptstadt Brasília findet das Eröffnungsspiel des Confederation-Cups zwischen Brasilien und Japan statt. 8.000 Personen bilden einen Protestzug, der sich von der zentralen Avenida Eixo Monumental zum Nationalstadion Mané Garrincha bewegt. Nach Zusammenstößen von Polizei und Demonstrierenden werden 24 Personen verhaftet und 27 Demonstrant_innen verletzt. Im Nationalstadion Mané Garrincha werden Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff und FIFA-Boss Sepp Blatter ausgepfiffen.

In São Paulo erklärt eine der größten Fangruppen des Landes, Gaviões da Fiel, Anhängerschaft des Klubs Corinthians, ihre Unterstützung der Proteste, aber erklärt keinen Aufruf, an den Demonstrationen teilzunehmen. Deren vielbesuchte Webseite wird daraufhin von Unbekannten gehackt und der Aufruf „Vem pra rua!“ („Geht auf die Straße!“) eingefügt.

Sonntag, 16. Juni 2013: In Dublin, New York und Berlin gehen hunderte Brasilianer_innen in Solidarität mit den Protesten in Brasilien auf die Straße. Diese Meldungen verbreiten sich in Windeseile über die sozialen Netzwerke.

In São Paulo veröffentlichen 50 Journalist_innen eine Protestnote gegen die Polizeigewalt gegen Journalist_innen. Aktivist_innen verteilen in der ganzen Stadt photokopierte Zettel mit dem Aufruf für die Demonstration am folgenden Tag: „não é por centavos, é por direitos“ („Es geht nicht um ein paar Cents, es geht um Rechte“).

Montag, 17. Juni 2013: In São Paulo demonstrieren Polizeiangaben zufolge 65.000 Personen im Stadtzentrum auf der Avenida Paulista, das MPL zählt 100.000. Ausgehend vom Stadtteil Pinheiros marschieren drei Demonstrationszüge in Richtung Avenida Paulista, blockieren die Schnellstraße Marginal Tietê und die in Richtung südlich gelegener Stadtteile die dortige zentrale Straße Faria Lima. Da es auch in der Peripherie Demonstrationen gab, ohne dass Presse sichtbar vor Ort gewesen wäre, variieren die Angaben über die Anzahl der Demonstrierenden für diesen Tag zwischen 65.000 und 300.000 allein im Großraum São Paulo.

In Rio de Janeiro protestieren Medienangaben zufolge 100.000 Demonstrant_innen ebenfalls im Stadtzentrum. Auf das Gebäude des Landesparlaments werden Molotow-Cocktails geschleudert. Das Gebäude wird zeitweise komplett von den Demontrant_innen besetzt. Es gibt bei Zusammenstößen mit der Polizei 27 verletzten Demonstrant_innen. In Niterói und zwei Stadtteilen der Peripherie kommt es ebenfalls zu Demonstrationen.

In Porto Alegre demonstrieren mehrere tausend Menschen gegen Fahrpreiserhöhungen, aber auch gegen die Ausgaben für die Fußballweltmeisterschaft und gegen Korruption.

In der Landeshauptstadt des Bundesstaats Espírito Santo, Vitória, demonstrieren mehrere zehntausend Menschen.

In Curitiba protestieren 10.000 Menschen für die Fahrpreisreduktion von 2,85 Reais auf 2,60 Reais. In vier weiteren Städten im Bundesstaat Paraná (Londrina, Maringá, Foz do Iguaçu und Ponta Grossa) kommt es zu Demonstrationen gegen zu hohe Fahrpreise.

Im nordostbrasilianischen Bundesstaat Ceará kommt es in der Hauptstadt Fortaleza zu einer Demonstration von 5.000 Personen für besseren ÖPNV und gegen Investitionen für die Fußball-WM.

In Brasília strömen 10.000 Personen ins Regierungsviertel und besetzen für Stunden das Dach des Brasilianischen Nationalkongress. Dort entstand das mittlerweile berühmt gewordene Photo der vergrößerten Schatten der Demonstrierenden auf dem Dach des Congresso Nacional. Das Photo stammt von Mídia N.I.N.J.A. Ninja steht für Narrativas Independentes, Jornalismo e Ação und liefert laufende Berichterstattung von den Protesten aus mehreren brasilianischen Städten. Als unabhängige und nicht-kommerzielle Berichterstattung stellt Ninja alle Berichte und Photos stets unter einer Creative Commons-Lizenz allen zur Verfügung und verteilt diese über soziale Netzwerke. Zu diesem Zeitpunkt hat Ninja rund 30.000 Personen, die der Medienseite im sozialen Netzwerk folgen.

In Belo Horizonte im Bundesstaat Minas Gerais demonstrieren 20.000 Menschen gegen Fahrpreiserhöhungen und die Ausgaben für die WM und gegen soziale Räumungen. Der Protestzug geht über zehn Kilometer vom Stadtzentrum zum Fußballstadion. In drei weiteren Städten im Bundesstaat Minas Gerais, Viçosa, Juiz Fora und Poços de Caldas, kommt es zu größeren Demonstrationen.

Dienstag, 18. Juni 2013: Die Protestbewegung weist in Stellungnahmen und Interviews darauf hin, dass es bei den Demonstrationen nicht ausschließlich um die Fahrpreiserhöhung von „20 Centavos“ gehe.12 Die PT-Regierung von São Paulo hatte wiederholt erklärt, die Fahrpreiserhöhung von 3 Reais auf 3,20 Reais entpräche der Inflation, doch die Protestbewegung weist darauf hin13, dass bei einer seit 1994 akkumulierten Inflation von 332 Prozent die Fahrpreise nur 2,16 bis 2,59 Reais kosten dürften. Hinzu komme die mangelnde Qualität des Transportwesens in der Stadt. Fahrten zur Arbeitsstelle können sich in São Paulo auf täglich bis zu vier und mehr Stunden belaufen.

Laut dem Nachrichtenportal UOL werden durch diese Preiserhöhung einige Bewohner São Paulos gezwungen, sich beim Kauf von Nahrungsmitteln finanziell einzuschränken. Das Movimento Passe Livre (MPL), nach wie vor Hauptakteur bei den Protesten, weist darauf hin, dass es in ganz Brasilien 37 Millionen Personen gibt, die sich keine Benutzung des Nahverkehrs leisten können, da ihnen das Geld für die Fahrkarten fehlt.

In São Paulo redet Bürgermeister Fernando Haddad erstmals mit der MPL. Währenddessen demonstrieren 50.000 Menschen im Stadtzentrum. Es kommt zu vergeblichen Versuchen einiger Demonstrant_innen, den Sitz des Bürgermeisters zu stürmen. Erstmals werden auch wichtige Ausfallstraßen aus São Paulo heraus von Demonstrant_innen blockiert. Mehrere Abgeordnete der in Brasília regierenden Arbeiterpartei PT stellen erste Vergleiche zu den Straßenblockaden in Chile 1973 an und warnen vor der Gefahr eines von rechts gesteuerten Putsches.

Mittwoch, 19. Juni 2013: Der Bürgermeister der Stadt São Paulo von der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, weist am Morgen die Forderungen der Preisrücknahme zurück.14 Eine Rücknahme der Preiserhöhungen von 0,20 Reais würde die Stadt 360 Millionen Reais kosten. Haddad sagt der Presse, eine Rücknahme zum jetzigen Zeitpunkt wäre „eine populistische Maßnahme“. Am Nachmittag erklären15 Bürgermeister Haddad und Gouverneur Alckmin, dass die Preiserhöhung zurückgenommen und der Bustarif wieder drei Reais kosten werde. Am Abend gehen wieder Tausende in São Paulo auf die Straße.

In Brasília sagt Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff angesichts der Massenproteste, „Brasilien sei heute stärker aufgewacht“ und bekräftigt den Willen der Regierung, mit den Protestierenden zu reden.

In Fortaleza spielen Brasilien und Mexiko im Confederations-Cup. 30.000 Demonstrant_innen ziehen in Richtung des Stadions Arena Castelão. Die Nationalgarde greift ein und zusammen mit der Militärpolizei blockieren sie den Demonstrationszug.

Im Bundesstat Juazeiro do Norte demonstrieren 10.000 Personen gegen den Bürgermeister der Stadt. Für sechs Stunden blockieren sie seinen Amtssitz.

In sechs kleineren Städten Brasiliens werden die Fahrpreiserhöhungen zurückgenommen.

In London und Lissabon gehen Brasilianer_innen in Solidarität mit den Protesten in ihrem Heimatland auf die Straße.

Donnerstag, 20. Juni 2013: In São Paulo ruft die MPL erneut zu einer Demonstration auf. Zuvor hatte es interne Debatten bei der MPL gegeben, weil die MPL den Eindruck gewann, dass mit zunehmender Popularität und Zulauf auf den Demonstrationen sich auch andere politische Forderungen und Akteure dazugesellen, die teils auch sehr konservative bis hin zu rechtsradikalen Parolen verbreiten.

In São Paulo und Rio de Janeiro sind jeweils mehrere hunderttausende Menschen auf der Straße und demonstrieren. Auf der Avendia Paulista im Zentrum von São Paulo und auf der Presidente Vargas und Avenida Rio Branco im Zentrum von Rio de Janeiro kommt es erstmals zu schweren Zusammenstößen zwischen den Demonstrierenden selbst. In beiden Städten gingen jeweils rund 1.000 Personen mit Knüppeln bewaffnete Personen, die von der Presse später als Anhänger von Neonazigruppen identifiziert wurden auf Demonstrierende los, die rote Fahnen oder Halstücher trugen. Auch der Militärpolizei in São Paulo und Rio de Janeiro werden schwere Vorwürfe gemacht: Unabhängige Medien sprechen von äußerst brutaler Vorgehensweise seitens der Militärpolizisten. In den sozialen Netzwerken wird die Erklärung einer Ärztin des Krankenhauses Souza Aguiar in Rio de Janeiro über den Tränengasangriff der Polizeikräfte auf das Krankenhaus von diesem Abend verbreitet. Demnach haben die Polizeikräfte trotz Bitten der vor Ort anwesenden Personen, dies sei doch ein Krankenhaus, zwei Tränengasgranaten in die Nähe des Eingangsbereichs zum Krankenhaus geworfen. Das Gas stieg im Gebäude bis in das siebten Stockwerk, wo sich die Kinderabteilung befindet. Das Gas sei sogar bis in die Notfallabteilung eingedrungen, so der Bericht der Ärztin.

Zeitgleich bewegen sich zwei große Demonstrationszüge in der Peripherie von São Paulo in einem Sternmarsch aufeinander zu. Aus den Stadtteilen Grajaú und Varginha kommend ziehen vereinzelten Medienberichten linker Alternativmedien zufolge mehrere zehntausende Menschen über die Avenida Teotônio Vilela bis zur Ponte do Socorro in der Südzone der Stadt. Hier wurden keine Datenerhebungen über das Profil der Demonstrierenden von Datafolha oder anderen erhoben.

In Brasília demonstrieren 25.000 sowie in 24 weiteren größeren Städten Brasiliens demonstrieren mehrere Millionen Menschen.

In der Hauptstadt des Bundesstaats Espírito Santo, Vitória, protestieren mehr als 100.000 Menschen.

In Frankfurt demonstrieren mehrere Dutzend von Brasilianer_innen in Solidarität mit den Protesten in Brasilien.

Mídia N.I.N.J.A.s Popularität wächst rasant an, selbst die New York Times berichtet über das alternative Medium.16

Freitag, 21. Juni 2013: Angesichts der als rechts bis hin zu faschistisch eingestuften Übergriffe und Positionen, die am Vorabend auf den Demonstrationen vor allem in São Paulo zu beobachten waren und angesichts der übereinstimmenden Presseberichten zufolge brutalen Übergriffen von faschistischen Kreisen auf Linke, erklärt das MPL seinen Rückzug von den Demonstrationen. Zwei Tage später revidiert das MPL diese Meinung, nachdem zuvor auf offenen Plena über das Für und Wider gestritten worden war.

Brasiliens größter Gewerkschaftsdachverband CUT verurteilt17 in einer veröffentlichten Erklärung die Übergriffe durch rechtsnationalistische Kreise auf den Demonstrantionen: Dies seien „gewalttätige Aktionen von Gruppen, die gegen die Demokratie sind“. Diese Gruppen hätten eine „konservative Agenda“ auf die Demonstrationen auf den Straßen gebracht, die „Rückschritt, das Schüren von Vorurteilen, Intoleranz und den Hass zwischen den Schichten“ befördere. D‪ie CUT fordert alle ihre Mitglieder, Mitgliedsorganisationen, Kreisverbände und alle weiteren gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse in der Erklärung auf, friedlich und organisiert einzutreten „für die für die Demokratie und Entwicklung des Landes wichtigen Werte wie hochwertigen öffentlichen Transport, Bildung und Gesundheit sowie für eine politische Reform, die die Stärkung der Parteien, die Beteiligung der Bevölkerung sowie die Transparenz und Demokratisierung der Medien“ sicherstellt.

In der Chemiegewerkschaft in São Paulo versammeln sich Gewerkschaftler_innen zu einer ad-hoc-Krisensitzung. In der Presse wird ausführlich darüber berichtet. Die Massenproteste werden von den Gewerkschaftler_innen als grundsätzlich progressiv begrüßt, aber die Organisationen warnen auch deutlich vor dem Versuch rechter Kräfte der Einflussnahme und Unterwanderung der Proteste. Sehr kritisch werden dabei der Rückgriff auf Nationalismus gesehen und die von Rechten geäußerte Ansicht, dass die politischen Organisationen Ursache der Probleme des Landes seien.

Am Abend wendet sich Brasilien Präsidentin Dilma Rousseff mit einer Fernsehansprache an das Volk und bittet, friedlich zu demonstrieren und kündigt Regierungsgespräche mit der Opposition und den Landesgouverneuren an, die die Schaffung eines nationalen Plans für urbane Mobilität, mehr Gelder für Bildung und die erleichterte Arbeitserlaubnis für Mediziner aus dem Ausland, die in Brasilien im öffentlichen Gesundheitswesen SUS arbeiten wollen, zum Ziele haben.

Erneut demonstrieren am Abend in vielen brasilianischen Städten die Menschen zu Tausenden auf den Straßen. In der Stadt Mogi das Cruzes im östlichen Bereich des Großraum von São Paulo demonstrieren Medienberichten zufolge bis zu 35.000 Menschen auf den Straßen.18 Sie fordern Presseberichten zufolge gesellschaftlichen Wandel, bezahlbaren Transport, sind gegen Korruption und treten für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Bildung im Land ein. In Mogi das Cruz bilden die auf der Straßen an diesem Abend Demonstrierenden zehn Prozent der Stadtbevölkerung.

Samstag, 22. Juni 2013: In Belo Horizonte demonstrieren 60.000 Menschen. Es kommt zu teils schweren Zusammenstößen mit der Polizei. 32 Personen werden verhaftet. In Salvador im Bundesstaat Bahia treffen beim Confederations-Cup Brasilien und Italien aufeinander – und wieder ist das Ziel des an einem Spieltag stattfindenden Demonstrationszug das Fußballstadion, wo die Fernsehkameras der internationalen Medien sind. Tausende Demonstrant_innen und Polizisten geraten in Zusammenstöße. Mehrere Journalist_innen werden durch die Militärpolizei verletzt.

Die größte Tageszeitung Brasilien Globo bietet in ihrer Samstag-Ausgabe19 ihren Leserinnen und Lesern den Service der Orts- und Terminankündigung für alle brasilienweit für diesen Tag geplanten Demonstrationen.

Die Tageszeitung Folha de São Paulo veröffentlicht20 die Befragung der Demonstrationsteilnehmer_innen von Donnerstag, dem 20. Juni 2013: Datafolha hatte 551 Personen durch die Mitarbeiter der Agentur auf der Avendia Paulista befragt. Demnach sind 63 Prozent zwischen 21 und 35 Jahre alt, 78 Prozent der Befragten haben einen höheren Schulabschluss und 72 Prozent bezeichnen sich als parteilos. 64 Prozent der Befragten benutzen Omnibusse, 79 Prozent die U-Bahn. Im Durchschnitt sagen die Befragten aus, ein „fairer“ Tarif für Bus und Bahn solle bei zwei Reais liegen. 25 Prozent der Befragten sprechen sich für Nulltarif aus. 31 Prozent der 551 Befragten schätzen sich im politischen Spektrum als Teil der politischen Mitte ein, 22 Prozent als links. 32 Prozent sind Datafolha zufolge extrem liberal, 2 Prozent zählen sich zum extremen Konservativismus. 88 Prozent der Befragten sprechen sich gegen die Todesstrafe, gegen Waffenbesitz aus und erklären sich als Verteidiger einer Gesellschaft, die Homosexualität akzeptiert.

Die Tageszeitung Estado de São Paulo21 identifiziert die Personen, die auf der Donnerstagsdemonstration linke Gruppen mit Stangen und Knüppeln angegriffen hatten. Die seien Mitglieder rechtsextremer Gruppen wie Skinheads und Glatzen. Es handele sich dabei vor allem um zwei Gruppen: „Carecas do ABC“ („Glatzen von ABC“, „ABC“ steht dabei für die südliche Vorortregion von São Paulo: Santo André (A), São Bernardo do Campo (B), São Caetano do Sul (C)) und „Carecas do Brasil“ („Glatzen Brasiliens“).

In São Paulo demonstrieren laut Presseangaben am Samstag Mittag Bewohner_innen des als Reichenviertel bekannten Stadtteils Morumbi „für mehr Sicherheit“. Sie ziehen vor den Gouverneurspalast Palácio dos Bandeirantes, der sich im gleichen Stadtviertel befindet, und fordern hartes Durchgreifen der Polizei gegen Straftäter, Kriminelle und Arme.

In Stuttgart und Köln protestieren hunderte Brasilianer_innen in Solidarität mit den Demonstrierenden in Brasilien.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag erschießen Polizisten der Spezialeinheit Rota (Ronda Ostensivas Tobias de Aguiar) in der Favela Funerária22, im Stadtteil Vila Maria, in der Nordzone São Paulos, drei Menschen. Laut dem Bericht des Portals uol geschah dies wenige Stunden, nachdem ein Polizist während der Proteste angeschossen wurde. Der Bericht fährt fort, dass die Opfer bislang nicht identifiziert wurden und niemand verhaftet wurde. Die Gruppe Maẽs de Maio23 fragt: „Und ihr großen Medien? Die Erschossenen bei den Protesten in den Favelas, zählt ihr die zur Bilanz der Demonstrationen hinzu?“ Die Einheit der Militärpolizei Rota ist spätestens seit dem Gefängnismassaker von Carandiru 1992 mit 111 Erschossenen für ihr hartes Vorgehen berüchtigt.

Sonntag, 23. Juni 2013: Erste große Vollversammlung der Protestbewegung in Belo Horizonte. Über 2.000 Personen versammeln sich unter der Brücke eines Autobahnzubringers. Hauptgegenstand der Aussprache sind die Übergriffe von rechten auf linke Demonstrant_innen auf den Demonstrationen. Zudem einigt sich die Vollversammlung auf vier Forderungen: Die Aufhebung der Sondergesetze für die Fußballweltmeisterschaft, die Schaffung eines brasilienweit geltenden Gehaltsrahmens für Lehrer im Staatsdienst, die Reduzierung der Fahrpreise im öffentlichen Personennahverkehr sowie die Entmilitarisierung der Militärpolizei. Ähnliche Vollversammlungen finden in São Paulo im Zentrum und in mehrere Stadtteilen der Peripherie, sowie in Santos, in Rio de Janeiro und Fortaleza statt.

Das Movimento Passe Livre, das die Protestwelle in São Paulo angeführt hat, führt drei offene Treffen in São Paulo durch, um über die gemeinsame Agenda gegen die Fahrpreise und über das Transportwesen in der Millionenstadt sowie über den Kampf für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr zu diskutieren. Etliche hunderte Aktivist_innen nehmen an den Treffen teil.

In mehreren brasilianischen Städten kommt es an diesem Sonntag zu kleineren Demonstrationen gegen Korruption und Verschwendung öffentlicher Mittel für die Mega-Events, Fußballweltmeisterschaft der Männer 2014 und Olympische Spiele 2016. In Fortaleza beteiligen sich rund 500 Demonstrant_innen an einer Kundgebung am Rande des Spiels des Confederations Cup zwischen Nigeria und Spanien. In Rio de Janeiro nahmen nach Polizeiangaben rund 4.000 Menschen an einer Demonstration teil.

Während der aufflammenden Massenproteste im ganzen Land scheint es der Regierung geboten, nicht noch mehr Konflikte im Lande zu haben, sondern diese erst einmal zu besänftigen. So können die seit mehreren Monaten für ihre Rechte protestierenden Indigenen Munduruku einen wichtigen Etappensieg feiern. Die brasilianische Bundesregierung teilt Sonntag Abend mit, dass die Vorfeldstudien der von den Regierungsbehörden beauftragten Wissenschaftler für die Errichtung mehrerer Großstaudämme am Amazonas-Nebenfluss Tapajós abgebrochen werden. 24 Diese Entscheidung wurde einen Monat später nach Abflammen der Proteste von Brasiliens Regierung sofort wieder revidiert und die Nationalgarde für öffentliche Sicherheit in die Krisenregion der Staudammkonflikte entsandt.

Montag, 24. Juni 2013: Ab heute kostet die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in São Paulo wieder 3,00 Reais.

In Porto Alegre kommt es bei einer Demonstration von 10.000 Personen zu teils schweren Zusammenstößen mit der Polizei. 15 Personen werden verhaftet. In Rio de Janeiro demonstrieren 1.000 Personen im Stadtzentrum. Es gibt Blockaden von Fernstraßen in São Luís, Goiânia, Belém, Campinas, Marília, Pederneiras, Bauru und Campos de Jordão. In Cristalina im Bundesstat Goiás sterben zwei Frauen bei dem Versuch, die BR-251-Fernstraße zu blockieren.

An Protestkundgebungen beteiligten sich in Porto Alegre 10.000 Menschen, in São Luis im Bundesstaat Maranhão 7.000 und in Rio de Janeiro 2.000 Menschen

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff trifft sich mit 26 Bürgermeister_innen und 27 Gouverneur_innen und schlägt neben anderem das Plebiszit über die Einrichtung einer (eingeschränkten) Verfassungsgebenden Versammlung über eine Politikreform vor. Darüber könne, so Rousseff, am 7. September oder am 15. November in einem Referendum abgestimmt werden. Der 7. September ist der brasilianische Unabhängigkeitstag, an 15. November wurde die Republik ausgerufen. Zeitgleich trifft sich der Präsidialamtsminister der Regierung, Gilberto Carvalho, in Rio de Janeiro mit Gouverneur Sergio Cabral und mit Bürgermeister Eduardo Paes.

Justizminister José Eduardo Cardozo bietet in einer Erklärung den Gouverneuren die Entsendung von Militäreinheiten an, ohne dass die verfassungskonforme Rechtmäßigkeit dafür gegeben sei, wie Kritiker_innen kurz darauf in der Presse zitiert werden. Das MPL weist in einem offenen Brief25 mit Nachdruck darauf hin, dass die Äußerungen des brasilianischen Justizministers, José Eduardo Cardozo, gegebenenfalls die Nationalen Sicherheitskräfte des Heeres (Força Nacional de Segurança) bei den Demonstrationen einzusetzen, nur dazu diene, die Protestbewegung zu kriminalisieren.

Repräsentanten der MPL treffen sich indes mit Präsidentin Dilma Rousseff im Palácio do Planalto in der Hauptstadt in Brasília. Das MPL hat vor dem Treffen einen Offenen Brief veröffentlicht, in dem sie die „Transportmafia“ im Öffentlichen Transportwesen anklagen und die Demilitarisierung der Polizei fordern. Nach dem Treffen erklären MPL-Mitglieder, die Präsidentin sei wohl unvorbereit gewesen und ihre Fragen und Antworten deuteten eher auf völlige Unkenntnis der Sach- und Problemlagen öffentlichen Transportwesens in Brasilien hin. Das MPL kündigt an, trotz Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen weiterhin auf den Straßen zu demonstrieren, denn das Ziel sei kostenloser ÖPNV.

Präsidentin Dilma Rousseff kündigt nach dem Treffen Milliardeninvestitionen für den öffentlichen Nahverkehr an. Die Regierung werde umgerechnet 19 Milliarden Euro in neue „Projekte für urbane Mobilität“ investieren, erklärt Rousseff. Damit solle der öffentliche Nahverkehr im Land verbessert werden.

In São Paulo erklärt der Gouverneur des Bundesstaates, Geraldo Alckmin26 an, die geplante Erhöhung der Mautgebühren auf privatisierten Straßen im Bundesstaat für ein Jahr einzufrieren. Ab dem 1. Juli hätte es sonst eine Erhöhung von 6,5 Prozent gegeben. Alckmin erklärt, diese Maßnahme sei nicht populistisch und nicht dem Druck der Straße geschuldet.

Dienstag, 25. Juni 2013: In der südlichen Peripherie São Paulos demonstrieren Tausende Bewohner_innen der ärmeren Stadtteile für besseres öffentliches Transport-, Gesundheits- und Bildungswesen. Die bürgerliche Presse in São Paulo berichtet nicht über den Sternmarsch der Peripherie. Von Datafolha oder anderen Forschungsinstituten ist ebenso niemand anwesend, wie auch die Presse zum wiederholten Male nicht vor Ort ist.

Im ganzen Land werden sechs zentrale Bundesfernstraßen von Tausenden Demonstran_innen blockiert.

Der brasilianische Senat in Brasília behandelt ein seit vier Jahren stillliegendes Gesetzesvorhaben zur Entlastung der Fahrpreise. Das Gesetzesvorhaben sieht die steuerliche Entlastung der Busdienstleistungen vor.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff trifft sich zu mehreren Gesprächen27 mit Vertreter_innen der brasilianischen Anwaltsvereinigung OAB, des Obersten Gerichtshofs Brasiliens (STF), des Brasilianischen Senats sowie mit Vertreter_innen von urbanen Bewegungen. Gegenstand der Gespräche sollen Dilma Rousseffs gestrige Vorschläge zur Politikreform sein.

Der Fraktionsvorsitzende der rechten PMDB im Nationalkongress, Eduardo Cunha, stellt gegenüber der Folha de São Paulo28 klar, dass „der Kongress gegen ein Plebiszit“ ist. Da die PMDB eine der größten Parteien im brasilianischen Abgeordnetenhaus und dort Teil der Allianz der regierenden Arbeiterpartei PT, wird klar, dass dieser Vorschlag der Präsidentin Dilma Rousseff am Widerstand des Kongresses scheitern wird.

Mittwoch, 26. Juni 2013: In Belo Horizonte demonstrieren 100.000 Menschen. Als es auf einer Autobahnbrücke zu Zusammenstößen mit der Polizei kommt, flieht ein Demonstrant vor den mit Tränengas und Gummigeschossen anrückenden Militärpolizeieinheiten und stürzt von der Brücke und verstirbt noch am Unfallort. Neun weitere Personen werden verletzt und 26 verhaftet. Der Demonstrationszug wird von der Militärpolizei gestoppt, um zu verhindern, dass die Demonstrierenden das Mineirão-Stadion erreichen, wo gerade Brasilien im Confederations-Cup spielt. Proteste und Demonstrationen gibt es auch in Brasília, São Paulo, Rio de Janeiro, Belém und Recife.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff trifft sich mit Gewerkschaftsführer_innen von acht Gewerkschaftsverbänden. Die Gewerkschafter kritisieren hinterher, dass die Präsidentin sich die Positionen der Gewerkschafter zwar angehört hatte, aber selbst keine Vorschläge unterbreitet hatte.

Donnerstag, 27. Juni 2013: Es gibt Demonstrationen in Rio de Janeiro, Florianópolis, João Pessoa, Fortaleza, Porto Alegre und Salvador. In Salvador werden 100 Personen nach Zusammenstößen mit der Polizei verhaftet. In Fortaleza versuchen die Demonstrierenden, in die Nähe des Fußballstadions zu gelangen, wo das Halbfinalspiel des Confederation-Cups zwischen Spanien und Italien ausgetragen wird.

Der brasilianische Senat verabschiedet im formal als „Eilverfahren“ beantragter Sitzung die Reduzierung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr für Student_innen. Weitere sieben bereits langjährige Gesetzesvorhaben werden in diesem Eilverfahren verabschiedet.

Freitag, 28. Juni 2013: In Freiburg i.Br. demonstrieren mehrere Dutzend Brasilianer_innen in Solidarität mit den Protesten in Brasilien.

Sonntag, 30. Juni 2013: Während das Endspiel des Confederations-Cup im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro zwischen Brasilien und Spanien ausgetragen wird, demonstrieren mehrere tausend Personen in der Umgebung des Stadions. Die Polizeikräfte hindern die Demonstrant_innen daran, in die Nähe des Stadions zu gelangen. Es gibt mehrere Verhaftungen und es kommt zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrierenden.

Endnoten

1http://g1.globo.com/rs/rio-grande-do-sul/noticia/2013/03/prefeitura-de-porto-alegre-aprova-aumento-da-passagem-para-r-305.html

2http://g1.globo.com/rs/rio-grande-do-sul/noticia/2013/03/grupo-faz-novo-ato-contra-aumento-da-passagem-em-porto-alegre.html

3http://g1.globo.com/am/amazonas/noticia/2013/03/durante-protesto-estudantes-fazem-judas-com-foto-do-prefeito-de-manaus.html

4http://g1.globo.com/rs/rio-grande-do-sul/noticia/2013/04/liminar-suspende-aumento-da-passagem-de-onibus-em-porto-alegre.html

5http://www.epochtimes.com.br/revogado-aumento-da-passagem-de-onibus-em-porto-alegre/#.Un9xhKpwZgU

6http://www.sul21.com.br/jornal/destaques/revolta-contra-aumento-da-passagem-gera-grande-protesto-na-noite-de-porto-alegre/

7http://g1.globo.com/goias/noticia/2013/05/protesto-contra-tarifa-do-transporte-coletivo-bloqueia-ruas-em-goiania.html

8http://g1.globo.com/brasil/linha-tempo-manifestacoes-2013/platb/

9http://g1.globo.com/goias/noticia/2013/05/em-meio-protestos-passagem-de-onibus-sobe-para-r-3-em-goiania.html

10http://www.youtube.com/watch?v=7cxOK7SOI2k

11http://www1.folha.uol.com.br/fsp/cotidiano/113960-jornalistas-sao-feridos-por-disparos-de-policiais-militares.shtml

12http://amerika21.de/2013/06/83320/massenproteste-brasilien

13http://br.noticias.yahoo.com/blogs/vi-na-internet/uma-entrevista-com-os-l%C3%ADderes-movimento-passe-livre-211937835.html

14http://www1.folha.uol.com.br/cotidiano/2013/06/1297611-haddad-diz-que-reducao-da-tarifa-seria-medida-populista.shtml

15http://www1.folha.uol.com.br/cotidiano/2013/06/1297883-alckmin-e-haddad-decidem-voltar-tarifa-de-onibus-e-metro-para-r-3.shtml

16http://www.nytimes.com/2013/06/21/world/americas/brazil-protests.html?pagewanted=2&_r=0

17http://cut.org.br/destaques/23402/nota-da-cut-em-defesa-da-democracia

18http://odiariodemogi.inf.br/cidades/destaque/16332-nas-ruas-de-mogi-35-mil-exigem-mudancas.html

19http://amerika21.de/2013/06/83362/brasilien-live-ticker?page=0,2

20http://www1.folha.uol.com.br/cotidiano/2013/06/1299649-so-25-dos-manifestantes-defendem-tarifa-zero-em-sp-diz-datafolha.shtml

21http://www.estadao.com.br/noticias/impresso,carecas-iniciaram-agressoes-a-partidos,1045874,0.htm

22http://www.agora.uol.com.br/saopaulo/2013/06/1299938-rota-mata-tres-apos-protesto-em-favela.shtml

23https://www.facebook.com/maes.demaio

24http://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/etappensieg-fuer-indigene-munduruku

25http://saopaulo.mpl.org.br/2013/06/24/carta-aberta-do-mpl-sp-a-presidenta/

26http://www1.folha.uol.com.br/mercado/2013/06/1300319-governo-de-sp-suspende-reajuste-de-precos-de-pedagios-de-rodovias-estaduais.shtml

27http://agenciabrasil.ebc.com.br/noticia/2013-06-25/dilma-reune-stf-senado-e-oab-para-discutir-proposta-de-convocacao-de-plebiscito

28http://www1.folha.uol.com.br/poder/2013/06/1300969-camara-e-contra-esse-plebiscito-diz-lider-do-pmdb-eduardo-cunha.shtml