Kritik und Proteste
Sechs Monate nach dem folgenschweren Bergbaudammbruch bei Mariana mit 19 Toten, 680 Kilometer toten Flusses, tausenden arbeitslosen Fischern sowie hunderttausenden Menschen, die von der regulären Trinkwasserversorgung abgeschnitten sind, tragen Aktivistinnen und Aktivisten die Kritik ins Herz des Konzerns. Dazu braucht es je Aktivist nur 1 Aktie – und die Konzernführung musste sich sichtlich genervt die Redebeiträge der acht Aktivistinnen und Aktivisten anhören, deren abweichendes Abstimmungsverhalten protokollieren sowie erstmalig in der nunmehr siebenjährigen Geschichte Kritischen Aktionärstums bei Vale in Brasilien den Antrag auf Nicht-Entlastung des gesamten Vorstands, des Aufsichtsrats sowie des Finanzrats entgegennehmen und debattieren.
Seit 2010 gehen in Brasilien Kritische Aktionäre – Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Betroffene sowie Gewerkschafter – zur alljährlichen Aktionärsversammlung eines der drei weltgrößten Bergbaukonzerne, Vale. Waren es 2010 noch zwei Aktivisten, die sich mindestens je eine Aktie gekauft hatten, um Zutritt zur Jahreshauptversammlung zu bekommen und dort ihr Rede- und Stimmrecht wahrnehmen zu können, so waren es 2016, beim nunmehr siebten Auftritt des organisationsübergreifenden und internationalen Zusammenschlusses Articulação Internacional dos Atingidos e Atingidas pela Vale („Internationales Netzwerk der von Vale Betroffenen“), acht Aktivistinnen und Aktivisten, die ihr Rede- und Stimmrecht bei Vale wahrnahmen und die Konzernführung unter Druck setzten.
Hauptpunkt der Aktivistinnen und Aktivisten war die Forderung nach Nicht-Entlastung aller Mitglieder von Vorstand, Aufsichtsrat und Finanzrat, die zum Zeitpunkt des Dammbruchs bei Mariana am 5. November 2016 im Amt und somit laut Ansicht der Kritischen Aktionäre in der Verantwortung standen. Am 5. November war der Damm Fundão einer Erzdeponiegrube gebrochen und Millionen Kubikmeter Restschlamm hatten sich ihren Weg durch zwei Dörfer gefräst und weitere 680 Kilometer durch drei Flüsse bis ins Meer bei Regência gerauscht. Samarco ist einer der großen brasilianische Erzproduzenten und gehört je zur Hälfte Vale und BHP Billiton. Die Rechtsanwältin Raphaela Lopes erläuterte in ihrem Antrag auf Entlassung der Firmenverantwortlichen bei Vale, dass der Firmenleitung die Kontrolle über die Auswüchse der Firma entglitten sei und der Umgang mit den Folgen des Dammbruch skandalös sei. Die Aktivsitin Carolina de Moura Campos forderte entsprechend, dass es angesichts der immensen Schäden absolut unverständlich sei, wieso die Firmendirektoren immer noch 90 Millionen (umgerechnet rund 22 Millionen Euro) Reais an Gehältern und Prämien erhielten. „Es ist beschämend zu sehen, dass einer dieser Direktoren 800.000 Reais im Monat erhält, während Leben, ganze Gemeinschaften und Städte ausradiert wurden und noch immer weiter Zerstörung erleiden durch die Firmenaktivitäten!“. Die Aktivistinnen und Aktivisten protestierten zudem gegen die Beteiligung von Vale am Staudamm Belo Monte, auch wenn Vale im vergangenen Jahr ihre Beteiligung halbiert hatte, so verbleibt der Konzern doch mit rund 4 Prozent Anteil am Staudamm und mit weiterhin zugesagter Garantieabnahme von neun Prozent des künftig produzierten Strom ein gewichtiger Player beim drittgrößten Staudamm der Welt. Auch die Umwelt- und Menschenrechtsprobleme von Vale in anderen Regionen in Brasilien wie Minas Gerais, Pará oder Maranhão, aber auch das Agieren von Vale in Mosambik, Kanada, Peru sowie weiteren Ländern wurden kritisch angesprochen.
Mürrische Gesichter ernteten die brasilianischen Kritischen Aktionäinnen und Aktionäre bei der Firmenleitung. Doch das Wort abdrehen, wie auf früheren Hauptversammlungen, das wurde diesmal angedroht, zwei Mal nach drei Minuten angewandt, aber die Aktivistinnen und Aktivisten redeten mit lauter Stimme weiter. Ganz das Wort abschneiden traute sich der Konzern dieses Jahr offensichtlich nicht – zu sehr scheint der Konzern derzeit im Fokus öffentlicher Kritik zu stehen. Zudem sind die brasilianischen Hauptversammlungsregeln deutlich unpräziser als die beispielsweise in Deutschland. Auf brasilianischen Aktionärsversammlungen gibt es beim Procedere keinen Tagesordnungspunkt der Offenen Aussprache und es sind auch meist nur eine Handvoll Aktionäre – meist die Rechtsvertreter großer Banken oder Fonds – zugegen. In Deutschland kommen bei einigen Hauptversammlung mehrere tausend Menschen zusammen, die sich die offenen Redebeiträge anhören und sich gerne auch mal selbst auf die Redeliste setzen und zum Mikrophon greifen. In Brasilien kann laut Gesetzgebung das Recht zur Teilnahme an Hauptversamlungen der börsennotierten Firmen auch nicht wie in Deutschland per einfacher Vollmacht an Dritte übertragen werden, damit diese das Rede- und Stimmrecht für die Aktienbesitzer wahrnehmen. In Deutschland ermöglicht dies, dass beispielsweise von Großprojekten Betroffene aus aller Welt per einfach unterschriebener Vollmacht die Eintrittskraten der eigentlichen Aktienbesitzer auf sich übertragen bekommen – und so den Konzernlenkern und den anwesenden Aktionärinnen und Aktionären ihre kritische Sicht auf die Dinge in einem 10-Minuten-Beitrag darbieten können, es sei denn, die Versammlungsleitung kürzt die Redezeiten auf 5, dann auf 3, dann auf 2 Minuten. In Brasilien muss die Vollmacht zur Übertragung des Rechts auf Teilnahme notariell gegen Gebühr beglaubigt werden und es darf auch nur auf staatlich anerkannte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte übertragen werden. Auf brasilianischen Aktionärsversammlungen selbst gibt es keine Redeliste, zu den jeweils anstehenden Tagesordnungspunkten können sich die Aktionärinnen und Aktionäre zu Wort melden, indem sie ihr Abstimmungsverhalten erläutern. Das zuvor schriftlich niedergelegte Abstimmungsverhalten samt Begründung kann dann hinterher in zweifacher Abfertigung bei der Versammlungsleitung abgegeben werden, diese Dokumente werden von beiden Seiten mehrfach unterschrieben, ein Dokument geht als protokolliertes Belegstück zurück an die/den Aktionär/in, das andere wird den offiziellen Hauptversammlungsunterlagen beigegeben, die hinterher auch als Kapitalmarktinformation veröffentlicht werden müssen. Bei den Abstimmungsergebnissen letztich unterscheiden sich Deutschland und Brasilien nicht weiter. Kritische Aktionärinnen und Aktionären haben eine deutliche Stimmenminderheit. Aber sie haben ihre Stimme erhoben und die Kritik ins Herz der Bestie gebracht. Das ist immerhin schon was.