Ermittlungen gegen VW do Brasil wegen Verstrickung in brasilianische Militärdiktatur ausgeweitet
Die Staatsanwaltschaft wird sich den Ermittlungen der Bundes- und der Landesstaatsanwaltschaft, die seit Ende vergangenen Jahres laufen, anschließen und den eigenen Fokus auf die Frage richten, inwieweit VW do Brasil mit den Repressionsorganen der Militärdiktatur kooperiert hat, insbesondere in Bezug auf Überwachung, Kontrolle und Verfolgung von ArbeiterInnen und deren Zusammenschlüssen sowie in Bezug auf Fragen nach Verletzungen der Arbeitsrechte. Dies berichtet die Staatsanwaltschaft für Arbeitsfragen in São Bernardo do Campo auf ihrer Internetseite am 12. Mai. Die Staatsanwältin für Arbeitsfragen in São Bernardo do Campo, Andrea da Rocha Carvalho Gondim, die die Untersuchung leitet, erklärte, die Zusammenarbeit der verschiedenen Staatsanwaltschaften sei von besonderer Bedeutung, wenn es um "solch abscheuliches Verhalten" gehe.
VW wird von betroffenen ZeitzeugInnen unter anderem vorgeworfen, schwarze Listen über Betriebsangestellte und Berichte über MitarbeiterInnen an Repressionsorgane der Militärdiktatur übergeben und als oppositionell geltende Angestellte entlassen zu haben. VW wird auch vorgeworfen, Angestellte am Arbeitsplatz und auch außerhalb des Betriebes ausspioniert zu haben. Den Aussagen der Betroffenen zufolge sowie laut den in den brasilianischen Archiven bislang diesbezüglich aufgefundenen Dokumenten beziehen sich die Vorwürfe auf den Zeitraum gegen Ende der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Demnach hätten Teile des VW-Werkschutzes die Arbeitenden ausspioniert, systematisch überwacht und diese Informationen mit Repressionsorganen des DEOPS (vormals auch als DOPS) bekannt in São Paulo geteilt. Diese Dokumente beziehen sich auf den Zeitraum ab den großen ArbeiterInnenstreiks ab 1979.
Am 27. April dieses Jahres hatte drei ehemalige Arbeiter von Volkswagen bei Anhörungen der Staatsanwaltschaften in São Paulo über die Repression des Unternehmens während der Diktatur ausgesagt. Tarcísio Tadeu, Expedito Soares und Brás Sobrinho sagten aus, dass in dieser Zeit eine Atmosphäre des Terrors in der Fabrik vorgeherrscht habe. Die ArbeiterInnen seien stark unter Druck gesetzt und zu einem "wahnsinnigen Arbeitsrhythmus" gezwungen worden. Organisierungen der ArbeiterInnen und die Gewerkschaftsbewegung seien durch ein komplexes Überwachungs- und Kontrollsystem unterdrückt worden. Die Zeugen bestätigten zudem die wiederholte Anwesenheit von Militärs und Polizisten auf dem Werksgelände. Dies war die zweite Anhörung, die die Staatsanwaltschaft in der Sache gegen VW do Brasil anberaumt hatte. Im Dezember vergangenen Jahres hatte bereits Lúcio Bellentani über seine Verhaftung 1972 bei VW und die erlittene Folter ausgesagt.
Die nächste Anhörung der Betroffenen und ZeitzeugInnen findet Morgen, am 18. Mai, statt. Aussagen werden die Witwe des bereits verstorbenen Ex-VW-Mitarbeiters Amauri Dagnoni sowie João Batista Lemos. Dieser war bereits zur letzten Anhörung der Staatsanwaltschaft erschienen, aber die AnwältInnen von VW do Brasil machten einen Formfehler geltend, so dass er seine Aussage im April nicht tätigen konnte. Als Dritter geladen ist Adhemar Rudge, der ab 1969 Leiter der Industrie- und Transportsicherheitsabteilung bei VW do Brasil war und der durch die Zeugenaussagen von Lúcio Bellentani schwer beschuldigt worden ist. Ob Rudge zur morgigen Anhörung erscheinen wird, ist fraglich.
Die derzeitigen Ermittlungen der drei Staatsanwaltschaften gehen zurück auf die Anzeige, die das Kollektiv „Verdade, Justiça e Reparação“ („Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“) am 22. September 2015 bei der Staatsanwaltschaft von São Paulo eingereicht hatte. Unterzeichnet ist die Anzeige von Gewerkschafts- und Gerwerkschaftsdachverbänden, Menschenrechtlern, Betroffenen und AnwältInnen. Das Kollektiv will mit dieser Anzeige die Staatsanwaltschaft des Bundesstaats von São Paulo dazu bewegen, zivilrechtliche Ermittlungen einzuleiten, um die Verstrickung des Konzerns in die Repression der brasilianischen Militärdiktatur zu untersuchen und zu verfolgen. Im Dezember akzeptierte die Staatsanwalt die Anzeige und nahm diesbezüglich eigene Ermittlungen auf. Nach Abschluss der Ermittlungen werden die Staatsanwaltschaften darüber entscheiden, ob sie eine öffentliche Zivilklage gegen VW do Brasil vor Gericht einreichen werden.
Bei den Vorwürfen gegen VW do Brasil geht es vor allem um vier Tatbestände:
MitarbeiterInnen von Volkswagen wurden in den „bleiernen Jahren“ Brasiliens, in denen die Repression der Militärdiktatur am brutalsten war, am Arbeitsplatz verhaftet, geschlagen und verprügelt. Dies geschah laut Betroffenenaussagen unter Aufsicht und Mitwirkung von VW-Sicherheitspersonal. Vom Betriebsgelände wurden die Betroffenen direkt ins Folterzentrum DOPS gebracht, wo sie oft mehrwöchige Folter erleiden mussten. Einer dieser Folterer war der berüchtigte und brutalste der brasilianischen Militärdiktatur, Sérgio Paranhos Fleury.
VW wird zudem vorgeworfen, schwarze Listen über Betriebsangestellte und Berichte über MitarbeiterInnen an Repressionsorgane der Militärdiktatur übergeben und als oppositionell geltende Angestellte entlassen zu haben. Zu den im Umfeld von MitarbeiterInnen von Volkswagen in den 1970er Jahren Ausspionierten zählte auch der damalige Gewerkschafter und spätere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.
Die Anzeige fordert zudem eine Klärung der Vorwürfe, Volkswagen habe – so wie andere multinationale Konzerne in Brasilien – das berüchtigte Folterzentrum OBAN unterstützt. Die Anzeige erwähnt die mutmaßliche Mitfinanzierung des Folterzentrums durch VW sowie die freiwillige Zurverfügungstellung von VW-Fahrzeugen für das OBAN, das ab 1970 unter dem Namen DOI-CODI in São Paulo operierte und in dem laut neuesten Erkenntnissen 66 Menschen ermordet wurden. 39 von diesen starben dort unter den entsetzlichen Qualen der Folter. Von weiteren 19 Menschen ist ihr letztes Lebenszeichen, dass sie verhaftet und ins DOI-CODI gebracht wurden. Seither gelten sie als verschwunden.
2013 wurden in den Archiven des vormaligen Geheimdienstes Brasilien SNI Dokumente gefunden, die die Zusammenarbeit von Industrie und UnternehmerInnen mit den brasilianischen Repressionsorganen nahelegten. Den als Verschlusssache deklarierten Dokumenten ist zu entnehmen, dass als Mittelsmänner für die Industrie das Forschungsinstitut Ipês und die Industriemobilisierungsgruppe GPMI des Industrieverbands FIESP in São Paulo fungierten. Die Industrie- und Unternehmervertreter – unter ihnen auch Volkswagen sowie die heutige VW-Tochter Scania – hätten zur Zeit der Militärdiktatur diese zwei Institutionen finanziell gefördert, damit sie gemeinsam mit der Obersten Heeresschule einen „militärisch-industriellen Komplex“ gegen den Widerstand aufbauten. Zudem gibt es Vorwürfe, VW do Brasil habe gegenüber dem GPMI mündliche Zusagen über Zahlungen geäußert. Solche finanzielle Unterstützung sei zudem bereits vor dem Militärputsch 1964 erfolgt, um die demokratisch gewählte Regierung von João Goulart zu stürzen, was am 1. April 1964 dann auch geschah.